Gesichtsrundschau

27. Juni 2021 – Androide sehen dich an

Mary Shelley steht mit Frankenstein am Anfang dieser Geschichte. Deutsche Filmfrauen heute zeigen die Sache subtiler, mit Darstellung von androiden Partnern: Maria Schrader in „Ich bin dein Mensch“ und Sandra Woller in „The Trouble with Being Born“. Der „Mensch“ namens Tom ergänzt eine Archäologin, das Automatenkind namens Elli befriedigt Pädophile. Der eine mit strahlenden, das andere mit leblosen blauen Augen.

Gibt es auf diesem Level human akzeptable Ergänzung, gibt es Befriedigung? Optimierende Algorithmen haben längst Einzug in unsere Welt gehalten, real, wie in japanischen Spitälern und Hotels, aber auch literarisch, performativ und nun also auch filmisch. Nur wer die winzigen Etappen zu diesem Ziel vergisst, kann erschrecken. Nahezu unser ganzer Körper lässt sich doch inzwischen erneuern, Zahn um Zahn, Nase, Hüfte, Hand und Fuss, selbst Augen, und immer so fort. Unsterblichkeit rückt grenzwertig in den Blick, das Geschäft der Bildhauer wird zur Ich-Funktion. Hier hatte und hat Facebook eine tragende Selbstbild-Rolle. Aber auch das Gegenteil stimmt: wer heute gepeinigt von „Umvolkung“ spricht, meint nicht Flüchtlinge sondern Roboter, versteht es aber erst bei der Kündigung.

2024-10-22T23:41:12+00:0006 '21|Gesichtsrundschau|

13. Juni 2021 – Bohrende Gesichtserkennung

Wagenbach hat eine neue Buchreihe begründet: „Digitale Bildkulturen“, kleine Bändchen von rund 80 Seiten, über nahezu die ganze Kunstgeschichte – aber eben noch viel mehr. „Gesichtserkennung“ von Roland Meyer etwa umfasst pragmatische Aspekte zwischen Selfies und Überwachungstechnologie. Meyer nennt, welche Komplikationen einer verlässlichen Erkennung individueller Gesichter im Weg stehen. Die Algorithmen brauchen möglichst viele Daten, also Aufnahmen im Netz, um ein Gesicht in allen denkbaren Situationen identifizieren zu können: weinend oder lachend, bei Licht und Schatten, kosmetisch bearbeitet oder anders frisiert oder gar nur halbseitig dargestellt. Erwiesen wurden zuletzt auch die rassistischen Voreinstellungen der Software: schwarze Gesichter werden signifikant schlechter erkannt , also öfter verwechselt, als weisse.

Meyer plädiert daher mit vielen andern für einen Stopp im Gebrauch des maßlos einschneidenden Werkzeugs. Face detection ist ja inzwischen das Herrschaftstool par excellence. Schon im 13. Jahrhundert gab es ausformulierte Anweisungen an die europäischen Fürsten, wie Untertanen physiognomisch – auch stimmlich – einzuschätzen wären. Damals ging es um typische Merkmale, wie auch heute noch bei Bewerbungsgesprächen. Aber heute sucht man vor allem nach individuellen Gesichtern im täglichen Leben, im Berufsverkehr, im Sport, vor allem bei massenhaften Demonstrationen. Die Massen werden mit Drohnen überflogen, gescannt und anschliessend durchsucht, wenn nicht schon Satelliten aus dem Weltall diesen Dienst tun. Dass unser Auge zum stärksten Organ der Welterkenntnis von und nach oben würde – wer hätte es je gedacht?

2024-10-22T23:41:17+00:0006 '21|Gesichtsrundschau|

27. Mai 2021 – Das Gesicht der Schweiz

Schon öfter war hier die Rede von Schweizer Gesichtern. Kein Zufall, stammt doch der eindrücklichste Autor zu diesem „unterhaltsamen“ Gebiet aus Zürich. Johann Kaspar Lavater, der Zeitgenosse und glühende Verehrer von Goethe, schrieb tausende von Sätzen über faziale Menschenkenntnis , als Pfarrer geradezu Gesichts-Seelsorger im doppelten Sinn. Eine helvetische Spezialität im 21n Jahrhundert war dann wieder der Streit um die Burka, nirgends heftiger als hier, wo die wenigsten Burkaträgerinnen leben.

Nach einer Doku gestern im 3sat Programm steht fest: dem Gesicht geht es in der Schweiz so gut wie nirgends. Denn pünktlich zum Abbruch der EU Verhandlungen am 26. Mai lief ein Werbefilm für die schweizerische kosmetische Medizin. Eine einschlägige Praxis mit freundlichen Ärzten war Schauplatz für zwei ältere Schweizerinnen. Die eine wollte ihr Doppelkinn, die andere ihr hängendes Lid verbessern. Alles lief nach Plan. Die Eingriffe wurden ziemlich echt, mit Schnitten und Blut gezeigt – dann aber auch die große Freude danach. Beide Frauen waren überglücklich, wie vom Arzt versprochen.

Zwecks Doku Format wurden ein paar Zahlen beiläufig eingeblendet: etwa 90tausend OPs jährlich werden in der Schweiz durchgeführt; meistens an Frauen, meistens am Brustumfang. 12500 SF kostet momentan allein ein unteres Facelift. Aber wieviel Geld wird mit Botox verdient? Doku-kompatibel durfte zwischendurch eine ältere, unverschönte Ethikprofessorin öfter nach dem Sinn dieser Altersvermeidung fragen. Eindrucksvoll eine jüngere, hübsche Frau, die eine Botox-Behandlung ablehnte, weil sie mimisch lebendig bleiben wollte. Was folgt daraus? Vergessen wir nicht, im Berufsleben arbeitet schon eine Gefühlserkennungsmaschine – siehe den letzten Eintrag.

2024-10-22T23:41:25+00:0005 '21|Gesichtsrundschau|

3. Mai 2021 – Die Maske in der Kunst, die Kunst der Maske

Was für ein Glück für den Diskurs und diese Gesichtsrundschau! Die Gerda Henkel Stiftung hat heute die beste Kennerin der Maskenkunst zum Interview geladen. Eine Stunde spricht Christian Kruse, Professorin für Kunst- und Bildwissenschaft an der Muthesius Hochschule in Kiel, zur Geschichte von Maskierung und Entlarvung, von Ästhetik und Mode und von humaner Interaktion: im Bann der Kultur wie auch im Bann der Pandemie. Wer an diesen fesselnden Ausführungen interessiert ist, sollte L.I.S.A. aufrufen, das Wissenschaftsportal der Stiftung.

Was für eine Fülle an Assoziationen erweckt dieser kunsthistorische Parcours! Wir erinnern uns doch: bevor es wirklich ernst wurde mit dem Sterben, mit Bildern überfüllter Spitäler, Patienten im Beatmungsmodus, panischer Distanzierung, mochte man ja noch spielerisch mit dem Kleidungsstück umgehen. Die arabischen Modisten haben es ja vorgemacht, Niqab aus Tausendundeiner Nacht tauchte ins Bild. Dann die vielen selbstgemachten Stoffmasken aus alten Männerhemden oder Blusen. Die paarigen Masken für Ihn und Sie. Die Masken passend zum Kostüm oder Abendkleid. Ja, das gab es alles, aber eigentlich eher nur im Westen. Aus den asiatischen Ländern drang unaufhaltsam das heutige Weltgesicht, der medizinische Notfall durch. Heute regiert es uns fast alle, schwarz oder weiss.

Mit Recht wird im Interview gefragt, ob der Phänotyp des maskierten Menschen wohl auch von der Kunst als Motiv entdeckt werden wird. Ich bin sicher. Das Zwischenglied zwischen medizinischem Alltag und Kunst wäre ja das Theater und der Film und überhaupt die gesamte Comic Kultur. Lauter Bühnen der Maskierung und De-Maskierung. Ein großes Thema. Welche Gesichter die Regisseur:innen der Zukunft uns zeigen werden, wie diese Gesichter wiederum als Video ins bewegte Bild überführt werden, welche Masken die gaming Kultur bereithält im Übergang zum Roboter: einiges davon habe ich hier ja schon öfter erörtert. Und auch meine pessimistische Vision: die FFP2 Masken bilden formal eine Schnauze und keinen Mund mehr ab. Eine Evolution ist im Gange.

2024-10-22T23:41:30+00:0005 '21|Gesichtsrundschau|

18. April 2021 – Emotionserkennungsoftware

Andrew Lewis Huang , geboren am 8. April 1984 in Kanada, ist ein kanadischer Musiker, Videoproduzent und eine sogenannte „YouTube- Persönlichkeit“. Von ihm stammen “Song Challenges“ Videos in Serie, zahllose Alben und Singles und musikalische wie visuelle Experimente. Im März 2020 brachte er es auf mehr als 2 Millionen Abonnenten. Hier kommen wir in die eigentlichen Weltdimensionen der social media. Eine seiner Arbeiten von 2007 heisst „Doll Face“: “A machine with a doll face mimics images on television screen in search of a satisfactory visage. Doll Face presents a visual account of desires misplaced and identities fractured by our technological extension into the future.”

youtube verzeichnet für dieses Thema über 12 Millionen Besucher. Interessiert hat sich letztes Jahr auch die Kulturabteilung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung: unterwegs zur fazialen Analyse. Nichts liegt heute näher. Die Wahrnehmung unserer selbst schwankt ja gerade zwischen Maschine und Tier, man denke an Heinrich von Kleists Parabel vom Marionettentheater. Soeben berichtete die FAZ vom 14. April von einem Experiment, das wie eine Antwort auf „Doll Face“ wirkt. Versuchspersonen können an der Cambridge Universität Selfies anfertigen, deren Mimik von einer facedetectionsoftware analysiert wird. Die Idee stammt von Paul Ekman, dem Erfinder der fazialen Analyse. Das Selfie wird nun dem Schema der sechs Emotionen zugeordnet, die Ekman für universal hielt – ein fazialer Klassismus eigener Art. Ekmans System soll Emotionserkennung garantieren, nicht einfach nur Identität. So findet man Lügner heraus, oder Attentäter, oder Frauen in Not. Ekman wurde schon immer kritisiert, nun hat er eine neue radikale Kritikerin namens Lisa Feldman Barrett.

Nach ihrer Meinung gibt es “schlicht keine hinreichenden wissenschaftliche Belege dafür, dass die Gefühlslage einer Person aus ihrem Gesicht abzulesen sei.“ Hoffentlich lässt sich die Emotionserkennungssoftware noch verhindern. In der Wirtschaft wird sie leider längst angewandt, um Bewerber zu klassifizieren.

2024-10-22T23:41:35+00:0004 '21|Gesichtsrundschau|

31. März 2021 – Roboter umarmen, dalli dalli

Während sich unsere Gesprächskultur täglich mehr kannibalisiert, hat der faziale Diskurs wohl schon das Endstadium erreicht. Eine Publikation aus dem Berliner Haus der Kulturen heisst „Haut und Code“ und will menschliche Haut mit digitalen Screens gleichsetzen. Die Autor*innen erzeugen in ihren Auslassungen angeblich „ein interdisziplinäres Rauschen zwischen Oberflächenstrukturen und punktuellen Vertiefungen: Oberflächen, Häute und Interfaces werden verletzt, vermessen, verändert oder geheilt.“ Was für ein intellektueller Wahnsinn herrscht hier? Welche community spricht in dieser Weise miteinander und worüber? Soll eine tastbar technische Fläche als Haut betrachtet werden?

Leider passt dazu der eben erschienene Roman von Kazugo Ishiguro „Klara und die Sonne“, in dem ein Mädchen von ihrer Mutter einen Roboter gegen die Einsamkeit geschenkt bekommt. Und noch besser passt dazu ein Artikel von Melanie Mühl heute in der FAZ. Sie beschreibt die Fortschritte der Robotik: speziell der Sexpuppen aus Japan, wie in dem Film“ Hi, AI – Liebesgeschichten aus Japan“ :„Etwas Gruseliges, Unwirkliches umgibt Sexroboter wie Harmony, eine blonde, devot sprechende Puppe mit vollen Lippen und blauen Augen“. Diese Puppen sollen inzwischen mehr sein als erotische Spielzeuge, vielmehr „ein Gegenüber. Ein Versprechen, dass Liebe nicht weh tut.“
Humanoide Roboter werden längst weltweit sprachlich und bewegungstechnisch raffiniert. Manche können den Kopf bewegen, zwinkern, lächeln, englisch oder chinesisch sprechen. Die Besten sind enorm lernfähig. Je mehr man sich mit ihnen unterhält, je mehr Details sie von dem user erhält, desto näher kommen sie ihm im Gespräch, der user fühlt sich verstanden und vergisst das Künstliche. Auch die Haut fühlt sich echt an, es gibt Augenbrauen aus Echthaar, Sensoren für Gänsehaut und vieles andere.

Die Geschäftsidee selber wurde 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelt, in Gestalt von „Eliza“, einem Computerprogramm mit eingebautem Wortschatz. Man simulierte damit eine psychotherapeutische Gesprächssituation. Es stellte sich heraus, dass die meisten Menschen nicht an die Künstlichkeit des Gegenübers glauben mochten, wenn auch nur ein paar Sätze menschenähnlich klangen und der Robot die richtigen Antworten gab. Sie fühlen sich verstanden. Weizenbaum war betroffen, dass sogar manche Psychotherapeuten selber eine Roboter-Therapie für möglich hielten. Zwei Jahre nach Weizenbaums Tod 2010 erschien ein Dokumentarfilm „Plug & Pray“ zu diesem Thema.

2024-10-22T23:41:39+00:0003 '21|Gesichtsrundschau|

8. März 2021 – Weltfrauentag im Gesicht

Gestern stimmten die Eidgenossen wieder einmal über Burka und Niqab ab: diese für uns so befremdliche Frauen-Maske der islamischen Welt. Alle Argumente Für oder Wider sind längst und seit Jahren ausgetauscht. Die Feministinnen haben sich mit den Konservativen (der SVP) verbündet: zusammen sind sie stark. Sie wissen, dass Frauen unter Mohammed und seinen Jüngern unterdrückt und gefoltert werden. Sie wissen, dass man ihnen mit Weltmacht en gros helfen muss, wenn auch nicht en detail. Rund 30 Frauen tragen momentan in der Schweiz eine Burka auf der Strasse, also öffentlich. Da sie glaubensmäßig nicht ohne Burka nach draussen dürfen, müssen sie theoretisch nun immer im Haus bleiben. Auch reiche arabische Touristinnen werden die Schweiz nicht mehr aufsuchen. Man könnte folglich – wie im österreichischen Zell am See – verarmen.
Bescheidene Frage: Könnte man nicht auch mal in Deutschland abstimmen, wo momentan alle drei Tage eine Frau durch Mord oder Totschlag endet? Leben wir in der frauengerechteren Kultur?

2024-10-22T23:41:44+00:0003 '21|Gesichtsrundschau|

28. Februar 2021 – Die FacebookBrille

Sollte noch jemand am Übergang von Facebook zu Face DetectionBook gezweifelt haben, gab es gestern die Nachricht im GUARDIAN dazu.

„Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sitzen in einer Bar und ein unheimlicher Fremder versucht ständig, Sie anzusprechen. Sie ignorieren ihn. Am nächsten Tag erhalten Sie eine SMS von diesem Fremden. Er kennt nicht nur Ihre Telefonnummer, er weiß auch, wo Sie wohnen, er weiß sogar alles über Sie. Die Person hatte nämlich eine Facebook-Brille auf, verstehen Sie? In dem Moment, in dem sie in Ihre Richtung geschaut haben, hat die Brille Sie über die Gesichtserkennungstechnologie identifiziert.
Dies scheint genau die Art von Black Mirror-esque Zukunfts-Facebook, auf die wir gewartet haben.“

Nicht wahr, George Orwell feiert soeben seine Wiederkunft im deutschen Sprachraum mit acht neuen Übersetzungen: doch bis zu so einer Überwachung Face to Face ging seine technische Phantasie allerdings nicht. Für eingefleischte Dialogiker deutscher Sprache ist es aber ein Schock. „Von Angesicht zu Angesicht“ heisst eine der frömmsten Formeln unserer Kirchengeschichte. Nur ein Peter Sloterdijk könnte jetzt lässig einwerfen: naja, Gott hatte eben immer schon eine Face DetectionBrille auf der Nase, hat immer schon in den Grund unserer Seele geschaut. War das nicht gerade ein Baustein des autoritären Charakters, von Adorno/Horkheimer erkannt? Wovon schwärmen die Querdenkerinnen mit offenem Gesicht Face to Face Viren ausströmend?

2024-10-22T23:41:50+00:0002 '21|Gesichtsrundschau|

19. Februar 2021 – Faziale Hinrichtung

Vorgestern zeigte der Sender arte eine Doku aus der Schreckenskammer der deutschen Physiognomik. Es ging um den berüchtigten Fall Bruno Lüdke, jenen mindergeistigen Mann, den abgefeimte Kriminalisten der 1940er Jahre für achtzig Morde an Frauen verantwortlich machen wollten. Aus Mangel an Beweisen wurde er schliesslich getötet. Ein Skandal der Polizeigeschichte unter Hitler – aber nicht nur unter ihm. Nach 1945 gewann die Schauergeschichte an Fahrt, die Medien griffen sie auf, der SPIEGEL berichtete durch Robert Augstein, Robert Siodmak verfilmte sie 1957 unter dem Titel „Nachts wenn der Teufel“ kam.

Niemand bezweifelte die Ermittlungen. Mario Adorf spielte damals den armen Teufel, als der sich Bruno Lüdke endlich erwies. Im Film sieht man ihn im Archiv Dokumente studieren: reumütig darüber, dass er offenbar einen unschuldigen Menschen als abartigen Verbrecher ins öffentliche Bewußtsein gebrannt hatte. Susanne Regener und Axel Doßmann *haben den Fall penibel rekonstruiert. Was die Kriminalbeamten eigentlich antrieb, war blanker Rassismus. Nur weil der Mann angeblich aussah, als ob er hätte töten können, wurde weiter ermittelt. Sein Körper, sein Kopf, die Hände wurden schliesslich vorbildliches Lehrmaterial. Das unentwegt rassistisch angeheizte physiognomische Räsonnieren der NS Bürokratie hatte jede Menschenvernunft zum Schweigen gebracht.
*Axel Doßmann/Susanne Regener, Fabrikation eines Verbrechers. Spector Books Leipzig 2018

2024-10-22T23:41:56+00:0002 '21|Gesichtsrundschau|

7. Februar 2021 – weiter mit der Burka

Noch einmal zum feministischen Burka-Artikel der NZZ von vorgestern. Frauen im Burkagewand, schrieb Autor El Ghazzali, werden von ihren Glaubensverwandten bestraft, unterjocht, entmenscht, symbolisch beerdigt. Wir setzen hinzu: Nicht grundsätzlich so vom säkularen und gebildeten Westen. Im österreichischen Zell am See etwa hat das Zusammenleben mit Musliminnen ganz gut funktioniert. Waren es genügend wohlhabende Touristinnen? Nein oder nicht nur. Gerade die Toleranz gebildeter Aktivisten ist El Ghazzali ein Ärgernis. Er spricht von der Ächtung der Frau durch „linken Kulturrelativismus“ und „Ethnopluralismus der Rechten“. Dahinter flackert also der Schrecken der Kolonialdebatte.

Denn das Thema selbst ist doch an sich ausdiskutiert. Dass der Mensch nur da wirklich Mensch sei, wo man ein blankes Gesicht erkennt, Mimik und Stimme – mit dieser idealistischen Verirrung dürfte man keinen verschütteten oder entstellten Menschen aus den Trümmern eines Krieges oder Erdbebens retten. Auch unsere hoch raffinierte kosmetische Chirurgie könnte man kritisieren: denn wessen Gesicht kommt aus dem OP? Und vor allem: was geschieht gerade mit unserem Corona Weltgesicht? Der Maskenzwang gilt ja momentan gerade in staatlichen, bürokratischen Kontexten: in den Schulen, den Ämtern, sogar auf den Strassen. Maskentragen hängt von der Situation ab – genau wie im Karneval. Zum politischen Werkzeug taugt das nackte Gesicht einfach nicht. Es ist das Zentralorgan der Sozialität.

Eine einzige Ausnahme ist die Gesichtserkennung. Man studiere die Technikgeschichte der face detection. Die gehobene Kriminalistik seit der Frühen Neuzeit braucht nackte Gesichter. Und man studiere die Rolle des Gesichts in den USA, vor allem unter dem Berater Paul Ekman (*1934), dem Spezialisten für faziale Lügenerkennung. Ekman wirkte angeblich beim Aufbau des home ministry nach 9/11 mit. Er gab vor, jeden Lügner bei der Einreise sofort aufgrund fazialer Züge erkennen zu können. Mohamed Atta, der Pilot der Todesmaschine von 2001, konnte 2001 unerkannt mit blankem Gesicht in die Kamera schauen. Nicht auszudenken, wenn Donald Trump seine Obsession mit fake news von Paul Ekman bezogen hätte. Dessen Blockbuster „Lie to me“ lief 2009-2011 und brachte ihm weltweiten Ruhm.

2024-10-22T23:42:00+00:0002 '21|Gesichtsrundschau|
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