Kleine Warnung: Meine Einträge widmen sich teils der Gesichtswahrnehmung, teils der Sprechkultur. Beides gehört zum lebenden Menschen, beides wird abgeschafft, wenn wir uns nur noch mit einer KI Semantik begegnen. Die Etappen dorthin kann man hier nachverfolgen. Der Krieg und seine Vorbereitungen gehören dazu. Mit Wehmut möchte man dabei an Denis Diderot denken. Vor fast 300 Jahren begleitete er das Riesenwerk der europäischen Aufklärung mit zwei Briefen: dem „Brief über die Taubstummen, zum Gebrauch der Sprechenden“ und dem „ Brief über die Blinden, zum Gebrauch der Sehenden.“ Was würde er heute wohl sagen.
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7. Dezember 2024 – Das Gesicht als Brennpunkt
Buchstäblich vom Brandgeruch bei einem facelifting berichtete vor einer Woche der SPIEGEL. Eine Mitarbeiterin hatte sich der Tortur unterzogen, natürlich nicht irgendwo oder irgendwie, sondern bei der vielleicht berühmtesten Dermatologin des Landes. „Ich rieche, wie ich verbrenne“, beginnt der Text makaber genug und seltsam platziert im zentralpolitischen Magazin der Republik. Er endet nach einer siebentägigen Schöpfungsgeschichte mit Wiedergeburt: „ Am siebten Tag ist der Schorf fast abgefallen, die neue Haut darunter ist weich und strahlt“.
Wie lange die Jugendillusion nun wohl vorhält? Egal, Advent, Weihnachten und Silvester wetten jetzt gerade um das schönste Gesicht. Und die Medien wollen es unangenehm politisch. Teils soll Gebärfähigkeit immer weiter simuliert, teils der „Abcheckblick“ der dating industry abgefedert werden, als gäbe es keine nationalerotischen Diversitäten weltweit. „Weich und strahlend“: Will man einfach nur jünger im festlichen Kerzenlicht erscheinen? Gabriele von Arnim sieht das wohl anders. In einer Kulturzeitsendung erschien sie unlängst fazial unzensiert wie ein bitcoin in einer bislang unbekannten organischen Währung.
Der Vergleich ist reizvoll. Denn wie verhält sich unser Gesichtskonsum zu den technischen Entwicklungen, vor allem zum facedetection Programm der Regierungen? Die Edelbeilage der FAZ von heute gibt Ratschläge, auch sie durchaus makaber. Facelifting bedeutet demnach Arbeit im „deep face“. Obere Schichten werden abgehoben, untere zusammengezogen – nun ja. „Deep-plane facelift“ heisst die Methode. Aber mit „deep face“ würden wir eher Trumps „Deep state“ oder sogar „Darknet“ assoziieren. Also mit dem komplementären Begriff zu jenem Gesicht, das heute gnaden- und teilweise mörderisch sinnlos als nackte Oberfläche registriert und verfolgt wird.
Nichts von alldem, was das Gesicht einst in Kunst und Literatur an Bilderfindungen oder Wortstürmen erregt hat, nichts von Ausdruck, Eigenheit, Verzückung und Einladung ins Face-to-Face, in die dialogische Dimension des Begehrens, steht hier noch zur Debatte. Deep face entscheidet vielmehr über die entzifferbare Codierung des Gesichts, die schon Primaten neuronal erkennen. Alles andere, die Haut, die 42 Muskeln, mit denen wir Ausdruck und Mitteilung erzeugen, bleibt an der, oder vielmehr IST Oberfläche.
2. Dezember 2024 – Das Machtwort
Die tagesaktuellen Rezensionen des MerkelBaumann Buches sind inzwischen erschienen, Zeitschriften werden folgen, Historiker warten noch auf das ultimative Desaster, für das Merkel vorauseilend verantwortlich gemacht wird. Nur Navid Kermani, der Philosoph unter den deutschen Autoren, geht in der ZEIT etwas freundlicher auf sie ein, lobt ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen und anschaulichen DDR-Lebensverhältnisbeschreibungen. Einmütig schimpft man aber über die spätere Kanzlerin. Nicht nur die Spaltung der CDU, vor allem die großen Krisen der letzten 20 Jahre scheint sie allein bewirkt und missmanaged zu haben; sie allein hat mit dem sprichwörtlichen Machtwort „Das schaffen wir“ 2015 katastrophischen Unsinn in die Welt gesetzt und befördert. Für ostdeutsche Menschen wurde sie zum Sündenbock.
Der Modus des „Machtwortes“ schien ja hierzulande längst vergessen. „Führerwort ist Gesetzeswort“, hiess es einst bei Carl Schmitt, der inzwischen fast täglich von TikTok UserInnen gelesen wird: nicht buchstäblich, wohl aber im Habitus der Influencer. Interessant auch, dass in der – meist männlichen – Wut auf Merkel verschwindet, was noch vor wenigen Jahren als Krise der Repräsentanz beklagt wurde: Sündenböcke sollen ja gerade repräsentieren, sind ja gerade ein archaisches Werkzeug der Demokratie, das gerade eben in Buchform unversehrt auf die Bühne zurückkehrt. Vielleicht trug diese weibliche Gestalt aus dem Osten es immer schon mit sich? Alle Welt rätselte, wie eine nicht charismatische, nicht rhetorisch begabte, nicht im Sinne Max Webers erratische Figur des öffentlichen Lebens dennoch 16 Jahre Macht über das ganze Land ausüben konnte. War es ihre Begabung zum Gespräch, zum Kompromiss, zur ausdauernden Schlafverdrängung? Wer weiss. Vielleicht war es auch einfach das Wörtchen „Wir“ von Anfang an.
29. November 2024 – Das verlierbare Gesicht
Vor wenigen Tagen, am 26. November, stellte Angela Merkel ihre Autobiographie im Deutschen Theater vor, im Gespräch mit Anne Will, der langjährigen Talkshow Moderatorin des WDR und ebenfalls langjährigen, geradezu auserwählten Begleiterin von Merkels öffentlicher Laufbahn. Schon einen Tag zuvor hatten die beiden einander zu einem Dialog getroffen, im Podcast der Anne Will,sozusagen zu einem Probelauf, und das erwähnte Will nun auch im Theater und fügte hinzu: „Haben Sie eigentlich diesen Podcast schonmal angehört?“ „Nein“ , antwortete Merkel unverzüglich und traf damit die Moderatorin offenbar ins Herz. Sie antwortete kaum hörbar mit dem Satz „Na dann ist ja unser Interview hier schon gelaufen“, wobei sie ihre langen Haare kurz vors Gesicht schob. Das war also eine Kriegserklärung. Aber es ging erstmal friedlich und freundlich weiter. Die NZZ hat am 28 . 11. darüber berichtet. Merkel antwortete oft unter Beifall. Aber bald wechselte Anne Will den Ton. Es ging um die strittigen Fragen der politischen Existenz unter der Bundeskanzlerin – dabei will das Buch beide Lebensabschnitte gleichmässig werten. Der zentrale Satz hiess sinngemäß: Die 35 Jahre Erziehung und Ausbildung in der DDR haben mich für die 35 Jahre politischer Existenz im Westen befähigt . Genau diese Befähigung wollte Anne Will gnadenlos bezweifeln. Die grossen Krisen, die Flüchtlinge, die Corona Krise, das Erstarken der AfD, das Verhältnis zu Russland: nichts hielt der Beurteilung stand. Ein Thema nach dem andern sollte Gesichtsverlust auf der ganzen Linie bewirken. Dabei blieb das Publikum, oder doch der hörbare Teil, unerschüttert. „Auch im Rückblick sehen Sie keinen Fehler?“ – „Nein“: man klatschte.
Gesichtsgewinn, – wahrung und – verlust ist tatsächlich neben allen dramatischen Kriegshandlungen die Währung, in welcher Diplomatie heute gehandelt wird. Sie entspricht nicht nur der masslosen Gesichtlichkeit der Selbstwahrnehmung, sondern auch der Flutung unserer Kommunikation durch Emojis, also durch vorgestanzte mimische Formeln, deren Existenz nicht etwa mehr Ehrlichkeit, sondern stereotypischere und schnellere , sprich medialere Kommunikation erlauben. Welcher politische Akt Gesichtsgewinn verspräche wird dabei längst auch öffentlich erwogen, nicht etwa im Hinterzimmer. Oder besser: dieses Zimmer liegt immer weiter hinten, ist immer verborgener. Darknet, heisst es im mafiösen Jargon, oder Deep state. Merkel zog sich schliesslich mit einer gewitzten Replik aus der Affäre. Wem sei geholfen, wenn sie sich schuldig und reuig erklärte? Und sei das Zugeben von Fehlern (also Gesichtsverlust) an sich schon eine Art Gütesiegel? Den ganzen brodelnden Opferdiskurs zu umgehen war wohl angesichts ihrer Lebensleistung angemessen. Und schob die 35 Jahre in der DDR fast rechtskräftig vor den Vorhang.
27. November 2024 – Stichtag: Angela Merkels Autobiographie
Gestern erschien die lang erwartete Autobiographie von Angela Merkel. Mehr als 700 Seiten, verfasst zusammen mit ihrer langjährigen Vertrauten im Kanzleramt, Beate Baumann. Jetzt müssen oder dürfen wir alle lesen, jung und alt, Generationen, die mit ihr aufwuchsen und solche, die mit ihr alt wurden. An sich ein Geschenk, um über sich selber nachzudenken. Also in ein Selbstgespräch zu geraten. Wann wird so etwas schonmal angeboten, für einen Zeitraum von nun fast zwanzig Jahren?
Schon nach wenigen Seiten merkt man, warum es so lang wurde. Für eine Millionenleserschaft wird mit der Lupe gearbeitet, winzige Details, kleine Dialoge, unterbrochen von staatsmännischen und historischen Erwägungen. Wer sonst könnte sich das erlauben? „Dichte Beschreibung“, nannte man das eine Zeitlang, aber es ist eben mehr, weil es mitten in unseren Wahlkampf gerät. Absichtsvoll, kann man annehmen.
24. November 2024 – Von der Unterhaltungsgesellschaft zur Überlebensgemeinschaft
Vor rund einem halben Jahr notierte ich hier den markanten Satz des deutschen Verteidigungsministers Pistorius, die deutsche Gesellschaft müsse „kriegstüchtig“ werden. Es ging um die Wehrpflicht und die Ertüchtigung der Armee. Zu viele Waffen hat man offenbar an die Ukraine vergeben, zu wenig im eigenen Land modernisiert. Obgleich angeblich eine Mehrheit der Deutschen Frieden wünscht (wie Frau Wagenknecht), ist seit März 2024 – also seit dem AUdas Ansehen des Verteidigungsministers kontinuierlich gestiegen, bis hin zur Kanzleroption. Davon distanzierte er sich nun vergangenes Wochenende offiziell. Was aber nichts heisst. Denn inzwischen sind Initiativen aller Art unterwegs zur deutschen Kriegstüchtigkeit: Kurse in Schulen trainieren das Überleben, am heutigen Sonntag predigte in der Gemeinde Grunewald zum ersten Mal wohl ein Militärseelsorger „mit seinem Team“; die angesehene Literaturagentin Karin Graf hat zur Vorweihnachtszeit in der Berliner Gedächtniskirche eine literarische Reihe eröffnet. Besinnliches wird man dort erfahren, letzte Dinge werden zur Sprache kommen, denn zum Krieg gehört der Tod, und der Tod gehört in allen Kulturen zur Religion.
Beides: Krieg und Religion haben eigene Dialogiken. Der christliche Dialog entfaltet sich zwischen Gemeinde und Priester, mit Lektüre, Predigt, Beichte, Segen und Liturgie. Ausser dem Kirchenjahr ist nicht alles traditionell: Organisten können moderne Musik spielen, Pfarrer können politisieren, Kirchenleitungen und Gemeinden können aufbegehren. Ausser in orthodoxen Verhältnissen. Die russische Kirche wurde zum Büttel einer Diktatur. Amerikanische Evangelikale dienen einem Trump. Wie wird sich die europäische Kirche „kriegstüchtig“ machen?
20. März 2024 – Kriegstüchtig werden
Sollen die Deutschen, sagt seit geraumer Zeit der deutsche Verteidigungsminister Pistorius, und meint damit einerseits die Aufrüstung der Bundesrepublik nach den Massgaben der USA – also das Erreichen der ZweiProzentHürde, die allen NATO Partnern vorgegeben sein soll -, andererseits die Reaktion auf das maßlose Geschehen zwischen Russland und der Ukraine. Immer näher rückt ja die argumentative Situation, wonach Russland auf NATO – Angriffe reagieren könnte, und zwar atomar. Der gegenwärtige Streit um eine Waffe für das ukrainische Militär namens Taurus balanciert dabei auf einem Hochseil. Während Kanzler Scholz kategorisch die Lieferung ablehnt, ereifern sich Mitglieder des Bundestages über das Gegenteil, unter Gefahr von Durchstechereien. Man diskutiert, wie diese Waffe kriegstüchtig sein könnte, um russische Positionen und Objekte zu zerstören, wer diese Fertigkeit an Ukrainer weitergeben kann und ob nicht die BRD darunter leidet. Genaugenommen hätte Präsident Putin sagen können, dass der NATOfall vorliege, etwa weil Staaten wie Schweden und Finnland ihre Neutralität für die Mitgliedschaft aufgeben und vieles andere mehr. Wie man sieht, ist die Gebetsmühle „Wandel durch Handel“ inzwischen völlig sinnleer. „Wandel durch Nicht-Handel“wird mittels Sanktionen betrieben und zielt auf den ökonomischen Zusammenbruch des Gegners. Man hat nicht mit Putins Raffinesse, mit der russischen Indolenz und Ausdauer gerechnet, auch nicht mit den vielfachen Kooperationen auf der internationalen Bühne. Also mit China, mit Indien, mit vielen antiwestlichen Staaten. Einen Tag nach der Ermordung des aufsässigen Befehlshabers der Wagner Truppe, Prigoschin, fand eine Sitzung der Briks-Staaten statt, mit sechs neuen Mitgliedern. Alle zusammen bildeten eine Mehrheit der heutigenMenschheit ab. Und seit vorgestern ist Putin erneut Präsident des russischen Reiches. Wie können unter dieser Voraussetzung die Europa-Wahlen am 9. Juni verlaufen?
16.Februar 2024 – Kein Ende des Streits
Nein, muss ich dieses Tagebuch heute fortsetzen, nach einem Monat. Es war ein Monat grausamsten Krieges zwischen Israel und Hamas, aber auch unablässiger diplomatischer Anstrengungen aus aller Welt. Heute begann wieder einmal eine Sicherheitskonferenz in München, was kann sie erbringen? Brutale Angriffe der Hamas auf Israel, Mord, Vergewaltigung, Geiselnahmen brachten das israelische Militär an die Grenzen der Leistungsfähigkeit und Akzeptanz weltweit. Was für ein Gegner! Eine jahrzehntelang hochgezüchteteTerrorgruppe, die sich mit menschlichen Schutzschilden absichert, Tunnel unter Krankenhäuser und Schulen gräbt, und wiederum weltweite Unterstützung findet. Wer müsste nicht zittern vor einem Gegner, der 2011 einen Bin Laden zu einer lang ausgebrüteten teuflischen Rache motivierte. Aber wer müsste eben auch nicht zittern vor der israelischen Vergeltung. Wissen wir, wieviel messianische Hoffnung auf dieses Armageddon gesetzt wird, wissen wir, welche Rolle die ultraorthodoxen Regierungsmitglieder neben Benjamin Netanjahu spielen – spielen dürfen? Der Messias kommt, wenn die Not am größten ist. Dieses Scenario hat die Hamas den Juden bereitet: wohlgemerkt nur den gläubigen, die keinen Wehrdienst leisten.
31. Januar 2024 – Vom Streit zum Streik
Wer die aufgeregten Debatten der französischen Philosophen aus den letzten Jahrzehnten in Erinnerung ruft, wird nicht nur Francois Lyotard entdecken, mit seiner Idee des grundsätzlich agonalen Charakters von Dialogen, sondern auch die belgische Politologin Chantal Mouffe, auf dem Ross des deutschen Streitphilosophen Carl Schmitt. Für einen linken Populismus warb sie schon vor zehn Jahren, und für eine unversöhnliche Freund-Feind Gesinnung. In Frankreich haben wir das alles erlebt, die Gelbwesten und andere brutale Streiks ohne Rücksicht auf Verluste. Franzosen, lernt man, wollen immer wieder Revolution spielen: was aus dieser wurde, ist offenbar gleichgültig. Macron hat sich wacker gehalten, auch jetzt, inmitten der wieder gnadenlosen Bauernaufstände, die unsere eigenen hierzulande noch übertreffen. Morgen wird er in Brüssel erwartet. Frau Wagenknecht hat sich die Richtung zueigen gemacht, und die aufstürmenden Demonstrationen der deutschen Bevölkerung / Linken in den letzten Tagen bekräftigen sie. Niemand hätte gedacht, dass die muffigen deutschen Nichtwähler und Meinungsfreaks aus den Häusern kommen und sich hier engagieren. Aber offenkundig sollen diese Hunderttausende von Demonstranten gegen die AfD auch die schwache Repräsentanz der Linken im Bundestag kompensieren, also eigentlich gerade nicht Wagenknecht helfen. Was sagt sie dazu? Man fragt sich, ob hier Vorspiele zum Bürgerkrieg aufgeführt werden. Jedenfalls hält die Lunte dazu gerade der bodenlos freche Coup der AfD, ein Treffen im Herzen Preussens, unweit von Potsdam, in einem Adlon Hotel zu organisieren, in dem nichts weniger als Adolf Eichmanns Madagaskarplan vorgestellt wurde: Austreibung der Juden, hiess es 1937ff, wäre auch fast 1940 von Hitler umgesetzt worden, hätten die Briten damals nicht die Region beherrscht. So also ist die Empörung von heute auch ein markerschütterndes Echo auf damals: wenn auch im Kontrast zu den jetzigen Turbulenzen des Bürgerkriegs zwischen Hamas und Israel. Kann Populismus – also massentaugliches Manövrieren – in so einer Lage helfen? Oder geht es um Sturz unseres farblosen Königs, pünktlich zu den Europawahlen im Juni?
19. Januar 2023 – Im Augiusstall der Diskurse
Man muss sie wirklich einmal würdigen: die Anstrengungen des FAZ Herausgebers JürgenKaube, Sinn und Verstand in den öffentlichen Diskurs zu bringen. „Verwildert“ sei er, hiess es vor drei Tagen, “ der Schall ist schneller als das Licht. Minimale Erwartungen an Argumente werden nicht erfüllt. Man kann, zumindest für kurze Zeit, so gut wie alles behaupten. Weder Logik noch Anstand begrenzt die Möglichkeit, etwas zu sagen. Es wird als undemokratisch bezeichnet, wenn beklagt wird, jemand verlasse den Bezirk des verständig Sagbaren.“Ja, und heute, aus Anlass der Einwanderungs-Abstimmung im Bundestag, zeichnete Kaube mit dem Soziologen Stichweh fast geduldig die falschen Anschuldigungen gegen die Ampel nach. Weder hätten die Parteien jemals die demokratischen Institutionen der Republik infrage gestellt, noch seien Kanzler und Innenministerin „Mitglied der Werteunion“, niemand spricht von „Umvolkung“ oder von einer ethnisch bzw. kulturell homogenen Bevölkerung. Warum, so Kaube, hört man derartig törichte Aussagen? Offenbar herrscht „völlige Phantasielosigkeit im politischen Streit, die in der Beschimpfung des Gegners nicht nur das nächstgelegen, sondern das gebotene und mitunter sogar das einzige Mittel findet.“ Man könnte aber sogar eine unheimlichere Deutung finden. Vielleicht handelt es sich um Wunschträume ? Noch hat die Psychologie, oder besser die Psychoanalyse den Verdacht nicht erläutert, dass die Sehnsucht nach einer Diktatur womöglich suizidale Motive hat. Nur ein starker Führer kann diesen Todes-Trieb in uns erwecken und ihn – befriedigen.
16. Januar 2023 – Der Sieg in Iowa
Nun ist eingetreten, was alle Demokraten gefürchtet haben: Trump hat die Vorauswahl in Iowa mit 51 Prozent Zustimmung seiner Sekte gewonnen, Niki Haley rückte auf Platz 3, Ron de Santis auf Platz 2. Anders als in der Sprache der Wettbüros, des Pferde- oder Autorennens, kann man eigentlich nicht über die Lage in den (nur schlecht) Vereinigten Staaten berichten. Aber man darf es nicht, die Lage ist zu ernst. Denn dieses Ergebnis strahlt aus in alle westlichen Demokratien, es ermuntert die Neonazis dieser Erde, die vermutlich längst wilde Preise auf dem Antiquitätenmarkt erzielen, mit jeder Reliquie aus der Weimarer Republik oder gar aus dem Ersten Weltkrieg, deren sie habhaft wurden. Und wie werden sie habhaft? Durch Familiengeschichte, durch Eltern, Groß- und Urgroßeltern. Überall wurde erzählt, überall gab es Oral History. Während die letzten 50 Jahre in Deutschland (unter Anleitung angelsächsischer Psychoanalytiker) von Aufarbeitungen der NaziFamilien beherrscht waren, hat sich vor allem in Ostdeutschland der Wind gedreht. Hier gab es ja keine Nazis, und an grausame Russen will man sich nicht wirklich erinnern. Aber warum blüht Familiengeschichte derart weltweit? Eine zentrale soziale Matrix ist unsere westliche Wirtschafts-, genauer: unsere Bildungsgeschichte. Immer mehr Kinder wohnen kostenhalber auch während der Ausbildung weiter zuhause, immer mehr dynastisches Denken greift Platz: Söhne und Töchter sollen die Berufe der Eltern erlernen. Beides verschafft Vorsprung im Wettbewerb, beides bringt überpositiv besetzte Familiengeschichten zustande und fördert ein Denken in ethnischen Kollektiven. Der große Bauernaufstand der letzten Tage hat unsere am meisten gefährdete Dynastie zum Bewußtsein gebracht: die der Bauern. Wollen Frauen noch Bauern heiraten und deren kräftezehrenden Job teilen? Wollen Lehrerinnen in internetlose Dörfer? Nur eine starke Ideologie kann noch helfen: Donald Trump macht es mit seiner Sekte vor, nach Hitlers Vorbild. Entrechtete und ausgebeutete Landbevölkerungen hat er sich – wie schon Marine Le Pen – erkoren und wütende Familien auf die Strasse geschickt, nein: ins Kapitol, die Regierungszentrale.
6. Januar 2024 – Der Sturm auf das Kapitol
Heute jährt sich der unerhörte Sturm auf das amerikanische Kapitol in Washington zum drittenmal. Offenbar wird er von der TrumpSekte nicht gefeiert, und angesichts der 800 schon verurteilten Teilnehmer und der 80 noch ausstehenden Prozesse ist die Zurückhaltung auch verständlich. Aber was wissen wir über die heimlichen Triumphgebärden. Öffentlich steht der Sturm aber dennoch im Mittelpunkt, wegen der beiden Verbote einer Trump Kandidatur in diesem Jahr in Maine und Colorado. Der Supreme Court soll nun darüber entscheiden. Die NZZ (schon immer nah am Russenfreund DT) referiert heute Trumps Chancen und sieht Licht am Ende des Tunnels. Gesetzeslücken werden genutzt werden, die Mehrzahl der Richter wurde ohnehin vom ExPräsidenten selbst eingesetzt, und sie wird sich erkenntlich zeigen. Oder eine windelweiches Jein anbieten, mit Rückverweisung der Frage an das Parlament. Wüßte man in den USA, dass dieser Sturm letztes Jahr ein blankes Imitat der europäischen Märsche war (Mussolinis Marsch auf Rom 1921; Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle 1923) , wüsste man, dass die berühmte „Dolchstosslegende“ des Ersten Weltkrieges als Vorlage für das Wahlbetrugsgezeter gelten muss, man würde vielleicht anders darüber reden und denken. Man würde auch die unlängst veröffentlichten Projekte des Mr. Trump nach einem Wahlsieg (Destruktion der Verfassung, Sorge um reines amerikanisches Blut, etc.) ernster nehmen und alles zusammen als aktionistisches Plagiat von Hitlers „Kampf“ begreifen. „It Can’t Happen Here“ hiess das ahnungsvolle Buch von Sinclair Lewis aus dem Jahr 1935 , geschrieben Jahre, bevor das volle Ausmass der faschistischen Angriffe auf die Demokratie bekannt wurde. Die Hellsichtigkeit dieses Buches ist inzwischen Thema vieler Analysen – aber sie reichen nicht in die OpinionSeiten der großen Zeitungen, geschweige denn in die juristischen Plädoyers. Warum wohl? Trumps Avancen an die jüdische Welt, der Umzug der US Botschaft nach Jerusalem, die Anleitungen zur Versöhnung mit arabischen Nachbarn, der jüdische Schwiegersohn, all das mag die NS Plagiate vernebelt haben, und trotzdem müssten sie bitterernst genommen werden.
26. Dezember 2023 – Blick in den Abgrund
Heiligabend ist vorüber, gottlob ohne dramatische Attentate, es sei denn, man hält die fortdauernden Kriegshandlungen in der Ukraine und im Nahen Osten für solche. Hierzulande schwelt immer weiter der Streit zwischen pro- und antiisraelischen Stimmen. Das gegenwärtige Patt könnte sich zu Silvester dramatisieren, sollten aus Böllern propalästinensische Waffen werden und Menschen verletzen oder gar töten. Aber vielleicht rechtzeitig erschien im Oktober ein Buch vom Grand Seigneur der Holocaust Forschung: dem greisen Saul Friedländer, „Blick in den Abgrund“ heisst sein Tagebuch des Jahres 2023, veröffentlicht im Verlag C.H.Beck und bereits in der dritten Auflage. Dass es einen dringenden Bedarf nach genaueren Auskünften über das gegenwärtige Innenleben Israels gibt, steht ausser Frage. Dass der Autor aus dem israelischen deep state stammen und dessen Autorität besitzen muss, ebenfalls. Was lesen wir hier? Die Langzeitbeobachtung der Person Netanjahu. Schon 1998 hat man ihn als treibende Kraft hinter den aufsteigenden orientalischorthodoxen Communities erkannt, die diesen Ministerpräsidenten mit säkularen Rechtsvorstellungen verschonen würden, wenn er sie nur zur Macht brächte. Und das hat er in der Tat betrieben und erreicht. Friedländer weiss es, kann es beurteilen und beurteilt es auch. Wochenlange Demonstrationen zwischen Jerusalem und Tel Aviv, monatelange Dissense über die Rolle des Obersten Gerichts und dessen erwünschte Entmachtung durch messianische Siedler. Die dramatische Konsequenz: der Zerfall der israelischen Gesellschaft in West und Ost, wie er sich gerade eben vor unser aller Augen abspielt. Ein weltpolitischer Abgrund, angesichts von Hisbollah,von iranischen Todesdrohungen und einer wachsenden Zahl von Kriegsschauplätzen mit Trittbrettfahrern, die angeblich Palästina zu Hilfe eilen. Alle ideologischen Diskurse über deutsche Schuld, Schoa, Zionismus und Chassidismus verblassen vor der akuten Präsenz dieser Kriegslage. Wer finanziert hier wen und warum. Kein westlicher Politiker mit Verantwortung ist jetzt zu beneiden. Oder eben doch: denn sie allein könnten das Recht des Stärkeren vor den Kadi ziehen, um die Stärke des (Völker)Rechts durchzusetzen.
14. Dezember 2023 – Dialog als Scheitern: Die Konferenz
Seit Wochen bewegen sich die Politiker weltweit von Konferenz zu Konferenz: sei es in Sachen Klimaschutz, oder europäischen Digitalstandards oder europäischem Einfluss auf die Moral der künstlichen Intelligenz oder UNO Einfluss auf die Tragödie in Israel. Schon hat Premier Netanjahu die Welt wissen lassen, dass ihm oder seinem Land gleichgültig sei, was andere von ihm denken, wenn er die Hamasfrage endgültig löst, durch das Fluten der Tunnel. Hamaskämpfer als Ratten im Untergrund. Vielfach störend bei allen Meetings sind rechtliche Vorgaben wie etwa die Einstimmigkeit – bei UNO, EU, in der NATO: das Paradox, dass auch Einstimmigkeit nur einstimmig abgeschafft werden könnte, wurde bis jetzt nicht entzerrt. Gerade heute versucht man in Brüssel, den störrischen Präsidenten Victor Orban auf Kurs zu bringen – aber er will eben umgekehrt die EU putinisieren. Werbewirksam kündigt Putin zum Jahresende seine erneute Kandidatur an, plus Fortsetzung der >Spezialoperation< gegen die Ukraine, die angeblich Nazitum verkörpert, aber eigentlich schwach und schwächer wird. Der antike Dialog der Melier steht wieder am Horizont. Und hierzulande? Die Wahlen 2024 in Ostdeutschland zeigen mit AfDStimmen plus Sahra Wagenknecht in Richtung einer absoluten Mehrheit. Mehrheit wofür? Für das Ende der Russland Sanktionen, das Ende der Waffenlieferungen an Kyiew, das Ende des liberalen, demokratischen Projekts , möglichst auch in Brüssel. Über allem steht das böse Genie der Vereinigten Staaten: Mister Trump. Welche Funktion hat in diesem Narrativ das Chatbot GPT?
19. November 2023 – Das dialogische Prinzip wird 100
Recht hatte er, der israelische Religionsphilosoph Elad Lapidot, als er jetzt in der FAZ ausdrücklich an Martin Buber (1878 – 1965) erinnerte. Nicht nur feiert in diesem Jahr 2023 der legendäre Gründungstext aller Dialogik, das Buch namens „Ich und Du“, seinen hundertsten Geburtstag, vielmehr hat der deutsch-jüdische Philosoph Buber, damals in Jerusalem lebend, auch den immerwährenden Konflikt mit den Palästinensern zeitgenössisch kommentiert. Anlässlich einiger böser Massaker der arabischen Bevölkerung, konstatierte er in einer Rede von 1929 die Einstellung der jüdischen Siedler, wonach „die angemessene Antwort auf die unerbittliche Gewalt [der Palästinenser] nicht Worte des Friedens sondern Handlungen größerer Gewalt seien.“ Buber weigerte sich, „die Araber als eine neue Variante des biblischen Amalek zu betrachten. Er bestand darauf, den offensichtlicheren, unmittelbaren soziopolitischen Kontext der Gewaltausbrüche anzuerkennen.“ Der Zionismus, erläutert Lapidot weiter, „siedelte europäische Juden in Palästina an, und dies war nur durch ein Bündnis mit dem britischen Empire möglich, welches das Land seit dem Ersten Weltkrieg besetzt hielt. Buber wollte anerkannt wissen, dass dieses Projekt unweigerlich Ungerechtigkeit gegenüber der einheimischen arabischen Bevölkerung mit sich bringe.“ Denn anders als die Briten seien die Juden in dieses alte Land ihrer Vorväter nicht gekommen, um zu herrschen, sondern um zu wohnen und zu leben, und dies in sozialer Gerechtigkeit auch gegenüber der lokalen Bevölkerung. Buber fand diese Pflicht nicht erfüllt. „Indem er sich weigerte, seine Feinde zu kriminalisieren, erhob er als Jude, als Zionist, seine Stimme gegen die von den britischen Militärbehörden verhängten Todesurteile gegen arabische Täter und erklärte: >Wir Zionisten, wir Juden, müssen intervenieren. Wir haben kein Recht, aber wir müssen manifestieren, wir müssen vor der Öffentlichkeit der Welt sagen es ist unser Wille, dass die Todesurteile, die unseretwegen, wegen der Untaten an uns ausgesprochen wurden , nicht zu vollstrecken sind.<„
Bubers Werk über „Ich und Du“ bildet zu dieser Auffassung die Blaupause. Es beginnt mit den Worten: „Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich -Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; wobei, ohne Änderung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann. Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. Denn das Ich des Grundworts Ich-Du ist ein andres als das des Grundworts Ich-Es.“ Beide EgoFiguren widersprechen einander auf Anhieb. Sie haben auch nichts mit Sigmund Freuds Schrift aus demselben Jahr 1923 zu tun: „Das Ich und das Es“, mit der umfassenden Triebtheorie. Buber sieht das Ich, welches Du sagen kann, nicht als begehrendes sondern als sprach- und beseelungsfähig, hingegen das Ich, welches Es sagt, als erfahrungs-, lern- und erfolgsbegierig. Das Du-Ego beseelt auch die nichtmenschlichen Dinge, das Es-Ego entseelt auch die menschlichen. Martin Buber dachte und schrieb als Mystiker, teils christlicher, teils jüdischer Provenienz. Das Angesicht Gottes im „Du“ spielt dabei eine entscheidende Rolle. Welche Rolle mag diese Gläubigkeit heute noch in der israelischen Gemeinde, oder den ultraorthodoxen Parteien in der heutigen Regierung spielen?
15. November 2023 – Das Ende des Streiks
Endlich hat man sich in Hollywood geeinigt, auf ArbeitsKonditionen für AutorInnen und SchauspielerInnen, bei gegebener und unhintergehbarer Mitwirkung der Künstlichen Intelligenz. Die ist gekommen, um zu bleiben, müsste man mit drohendem Unterton sagen. Auch wenn die Panik etwas verflogen scheint, man hat wohl die Vorteile erkannt, die überragende Intelligenz und Belesenheit allemal erbringen – aber hat sich die Weltlage deshalb wirklich verbessert? Wird KI genutzt, um Frieden zwischen den Völkern herzustellen oder dient sie im Gegenteil dazu, immer raffiniertere Anschläge auszuführen? Israel, das seit dem 7. Oktober einen bitteren Krieg gegen die Palästinenser führt, könnte diese Intelligenz brauchen, um die HAMAS unter den Krankenhäusern zu outen und zu vernichten, ohne die Patienten, die Neugeborenen, das Personal und womöglich die Geiseln über der Erde zu schädigen. Ist das denkbar?
12. November 2023 – ein MP in Jerusalem
Wer sich zufällig im Netz in eine interne Streiterei in und um Israels Regierung verirrt, könnte mit einem Herzanfall enden. Unglaublich wird dort um die Zurechnungsfähigkeit sowohl des Premiers als auch seiner Frau gestritten, offenbar auch befeuert von Psychologen und
Psychoanalytikern. Wer ist verrückter? Was heisst verrückt? Dürfen Verrückte Kriegsherren sein, dürfen sie autokratisch Kriegsabläufe entscheiden, neben oder gar gegen die Generalität? Oder eben auch gegen das Volk? Man weiss kaum noch, wen man mehr beweinen sollte, diese Szene oder jene in Gaza oder alle miteinander. Man möchte wissen, welchen Anteil der ultraorthodoxe Messianismus an den gegenwärtigen Strategien hat. Dass Siedler schon selber beginnen, palästinensische Nachbarn zu töten, klingt schon nach Armaggedon Gleichzeitig hören wir über die Washington Post völlig unerträgliche Nachrichten über die Pläne der Trump Sekte ab 2025. Auch hier die Frage: wer ist verrückt? Wie kann ein geistesgestörter, vielfach rechtskräftig verurteilter Immobilienmogul soviele Menschen in seinen Bann schlagen, wenn er mit Destruktion der Verfassung droht, um nur das Mindeste zu sagen?
Das unbegreifliche Weltgeschehen wird gerade täglich von nahezu allen Schreibenden weltweit kommentiert. Niemand kann es begreifen. Allenfalls plausibel wäre die Idee, dass es brutalen Autokraten besser als jeder Demokratie gelingt, ein Volk in den Suizid zu führen.
1.November 2023 – Die Aufrufe
Gibt es anderswo als in Deutschland unentwegt öffentliche Listen, Aufrufe, in denen sich einzelne Personen outen oder outen sollten? Welche Dialogik verfolgen Aufrufe – welcher Moral gehorchen sie, mit welchen Zeitfenstern arbeiten sie? Alle möglichen Institutionen, vor allem wohl „DIE WELT“ legen gerade Verzeichnisse von Personen an, die sich israelfreundlich oder – unfreundlich verhalten. Also Anhänger oder Sympathisanten der blutig verfeindeten Parteien im Nahen Osten. Juden gibt es in beiden Lagern. Säkulare Akademiker sind eher links – und übersehen das Leid der massakrierten Israelis. Alle Linken haben sich mit dieser Gefühllosigkeit unmöglich gemacht. So die israelische Soziologin Eva Illouz, deren Buch über „Undemokratische Emotionen“ gerade erschien. Die Linke wird sich von diesem Versagen nicht mehr erholen, sagt sie. Aber sie sagt auch: Schuld auf sich geladen hat vor allem Netanjahu, der Premier, der seit spätestens 1998 an der Machtübergabe an die ultraorthodoxen Israelis arbeitet und inzwischen erfolgreich war. Welche p0litische Agenda haben diese Politiker? Wollen sie nur Siedlungen bauen und die Palästinenser vertreiben? Oder repräsentieren sie den allgemeinen Hang zur religiösen Orthodoxie? Dann müsste ihre Agenda ins Licht der Aufklärung kommen. Wir suchen den neuen Moses Mendelssohn. Lessinge haben wir schon.
27. Oktober 2023 – Agonie statt Agonistik
Was in den letzten 48 Stunden berichtet wurde, war reine Kakaphonie der Institutionen. Eine dramatische Sondersitzung des UN Sicherheitsrates gipfelte im Streit zwischen Generalsekretär Guterres, der auf die israelische Verantwortung für den Hassausbruch der Hamas hinwies, und dem israelischen Gesandten, der fehlende Empathie für Israel einklagte. Gueterres musste sich korrigieren, obgleich er weltweit akklamiert worden war, wenn auch nicht von USA, EU und Deutschland. Die russophilen Mächte Türkei, Iran, natürlich afrikanische Länder, aber auch Ungarn, Polen u.a. halten es mit der Hamas. Antisemitismus in Deutschland brandet auf, Bombendrohungen, Beschmierungen, tätliche Angriffe grundieren den Alltag. Die AfD freut sich, vielleicht auch die neue Partei der Frau Wagenknecht BSW. Alice Weidel und Sahra Wagenknecht: in einem oppositionellen Hufeisen von Nationalbolschewismus und Nationalsozialismus agieren sie erfolgreich und dämonisch zugleich. Beide elegant und gewandt, destruieren sie alles nach Kräften. Schon macht der Vorwurf des Nihilismus die Runde. Man erinnere sich an Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, von 1986.
24. Oktober 2023 – Das Pulverfass
Man musste befürchten, dass dieser Angriff auf Israel einen weltweiten Schock auslösen würde. Vor allem in Deutschland. Tägliche Nachrichten über antisemitische Vorfälle, Demonstrationen für Israel, daneben für Palästina, zwar hierzulande verboten, nicht aber im Ausland. Hektische Diplomatie war und ist die Folge. Über zweihundert Geiseln sind im Gazastreifen versteckt, eine Bodenoffensive soll sie befreien, doch jeder fürchtet ein Blutbad. Amerikanische Flugzeugträger und griechische Kriegsschiffe stehen bereit. Netanjahu will sich als Kriegsherr profilieren – dabei sollte er, als Urheber das Ganzen, zurücktreten. Was versteht er von Kriegsführung? Gern wüßte man, wieviele messianisch gestimmte Mitglieder der Regierung ihn kontrollieren.
Katastrophal die Lage der Zivilbevölkerung, mit zwei Millionen Menschen ihrerseits Geisel der Hamas. Das Volk hungert und stirbt; über die Hälfte sind Kinder. Doch hunderte von Lastwagen standen bis gestern morgen noch fest an der ägyptischen Grenze, um Nahrung, Medikamente und Wasser zu bringen . Erst nach hartnäckigen Bitten liess der ägyptische Präsident sich erweichen: er fürchtet den Ansturm der Flüchtlinge, die dann auch nie wieder verschwinden würden. Recht hat er – und recht hätten sie. Wenn irgendetwas, so müsste dieser Krieg als „Vater aller Dinge“ einen palästinensischen Staat begründen.
11. Oktober 2023 – Streiten verbindet – sagt man so lässig
Seit fünf Tagen tobt ein Krieg in Israel. Hamas Kämpfer sind völlig überraschend hundertfach aus dem Gazastreifen heraus durch einen angeblich undurchdringlichen Zaun in das Land eingebrochen, haben über tausend Menschen getötet, teils auf grausame Art, haben rund hundert Geiseln entführt und im Verein mit der Hizbolla, und schlimmer noch, mit Unterstützung des Iran eine 3. Intifada eröffnet. Das israelische Kabinett unter Benjamin Netanjahu war angeblich völlig überrascht. Niemand hatte es kommen sehen, kein Geheimdienst hatte irgendetwas gemeldet; wenn überhaupt, hatte man Soldaten an die Westbank verlegt und sich ansonsten auf die legendäre Schlagkraft der israelischen Armee verlassen. All das war in einem Tag und wenigen Stunden Makulator. Sehr ähnlich, fast zwillingshaft wie der Angriff Bin Ladins im September 2001 oder der Einbruch Putins vom 24. Februar 2022 in die Ukraine. Wie können derartige Kriegshandlungen unerkannt bleiben? Eine Erklärung wäre, dass sie erwünscht sind. Dass zuviele Kräfte genau darauf hinarbeiten, um innenpolitische Konflikte zu lösen. Im vorliegenden Fall wäre solche eine Konspiration vollkommen plausibel. Die Hamas überfiel ein seit Monaten zutiefst gespaltenes Land. Der Präsident dieses Landes war spätestens seit 1998 eine Geisel der ultraorthoxen Siedler. Sie haben ihm Straffreiheit zugebilligt, falls er sie an die Macht bringt – könnte das Drehbuch aussehen, das einen korrupten Präsidenten im Amt hält – und tatsächlich ist es ihm in der letzten Wahl gelungen. Nur die Rechtssprechung liess sich nicht unterwerfen. Deren Anerkennung spaltete die israelische Gesellschaft ähnlich wie momentan auch die polnische. Ein derart gespaltenes Land in bedrohlichen Zeiten einigen kann wohl nur ein Krieg. Dieser Krieg mit über 4tausend Toten und zahllosen Verletzten auf beiden Seiten wurde also soeben inszeniert. Vermutlich mit Erfolg. Die Armee steht hinter Netanjahu, die Gesellschaft eint Hass auf den Feind – schrieb Josef Joffe letzten Montag im Tagesspiegel. Ganz ähnlich eint sich die ukrainische Gesellschaft seit Monaten gegen Russland und blutet dabei vor unser aller Augen buchstäblich aus. Was wird aus diesen Gesellschaften, wenn der Feind verschwindet?
9. Oktober 2023 – Dialogische Hoffnungen
Gleich zwei dialogische Diskurswerkzeuge gegen Streit und Krieg sind jüngst aufgetreten – zum einen das Buch von Manon Garcia, einer französischen Philosophin, unter dem Titel „Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung“ – erschienen bei Suhrkamp und ein gewichtiger Beitrag zur meToo Debatte auf der kommenden Buchmesse; und daneben das Projekt der „Westfälischen Friedensgespräche“ aus dem Literaturbüro Unna: hier werden einzelne Themen wie etwa der Konflikt zwischen spanischer Verfassung und regionaler Autonomie (Katalonien) von Literaten behandelt und diskutiert. Nach jahrelanger Suche nach dem angeblich (natur)wissenschaftlichen Ertrag literarischer Produktion wendet man sich nun endlich anderen Feldern zu: eben zum Beispiel der Rechtssprechung, wie auch im Berliner Literaturhaus mit seinem Format über Sprache und Gesetz. Der Grandseigneur dieser Forschungsrichtung war der Münchner Germanist Walter Müller-Seidel, an den hier erinnert werden soll. „Rechtsdenken im literarischen Text“ erschien 2017 aus dem Nachlass, den der Marburger Germanist Thomas Anz verwaltet. Müller-Seidel hat auch die Rolle der Medizin in der Literatur behandelt – darunter den spektakulären Werdegang des Euthanasie- Begründers Alfred Hoche. Was also heisst es, wenn heute immer wieder „Das Literarische“ an der Literatur eingeklagt wird, wenn lebensweltliches Engagement in der oder jener Hinsicht nur stören soll?
22. September 2023 – Cancel Culture: what it’s all about
Seit Erscheinen im letzten Jahr hat das Buch von Adrian Daub die deutschsprachige Szene beherrscht. „Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasste“ hiess es im deutschen Untertitel . Daub, aus Köln stammender Professor in Stanford, argumentierte, dass es zwar in den Staaten eine real gefährliche Cancel Culture gebe, nicht aber in Europa. Alle möglichen Fälle hatte er untersucht und meist lächerliche Kleinigkeiten als Ursache für Stellen- oder Rangverlust gefunden; Petitessen, die aufgebauscht worden seien, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Nun stimmt es zwar, dass die rechtsextremen Parteigenossen mit dem unnachsichtigen Korrektheitsfuror der meist jüngeren Generation ihre Wahl beheizen, aber ganz grundlos ist die hiesige Aufregung ja doch nicht. Das jedenfalls moniert soeben das neue Buch von Julian Nida-Rümelin: „Cancel Culture. Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken“. In einem erhellenden Interview für den Berliner Tagesspiegel von heute legt der ehemalige Kulturstaatsminister und Philosoph dar, was hinter dem Begriff steckt: nämlich eine seit Urzeiten praktizierte Machtgebärde. Alle politischen Systeme versuchen schon immer, sagt er, unvereinbare Meinungen zu unterdrücken und deren KundgeberInnen zu eliminieren. Erst unter demokratischen Regimen erlaubt freie Meinungsäusserung eben diese ohne Lebensgefahr für die Sprechenden. Warum wünschen sich nun heute so viele Nationen eine strenge Zensur zurück? Warum sehnt man sich nach Führern? Nida-Rümelin sieht einen „entgleisten Kommunitarismus“ am Werke, „der einen extremen Fokus auf die jeweilige Gemeinschaft legt, der man angehört“, während gleichzeitig die Trennung von Privat und Öffentlich verschwinden soll: als Säule der Demokratie. Unterstützt wird alles von den Social Media, die Anonymität erlauben und damit entgleisende, begründungslose Sprechakte. Vorläufer für alles ist natürlich der drastische Niveauverfall politischen Sprechens durch Präsident Trump, der nachts vom Sofa aus politisch relevante Nachrichten auf Twitter verbreitete. Seither bemühen sich nahezu sämtliche regierende Politiker um Kundgaben im 240 Zeichen-Stil. Eine Schande für den Diskurs in jeder Hinsicht: „eine Abdankung des demokratischen Staates an kapitalistische Großkonzerne.“ Überzeugend zitiert Nida-Rümelin schliesslich den Sprachphilosophen Donald Davidson: „Damit man überhaupt streiten kann, muss man sich über fast alles Andere einig sein. Und von dem muss auch noch das Allermeiste wahr sein.“ Danke , Herr Nida-Rümelin, für die Erinnerung an diesen Satz. Er spricht deutlicher aus, was der Ästhet Lyotard im Motto unserer Gesprächsrundschau gemeint haben könnte. Streit als verbales Spiel: verlangt gemeinsame Spielregeln. Streit als verbaler Kampf: verlangt den Austausch von begründeten und begründenden Argumenten. Nur was, wenn aus Streit längst wortloser Krieg wurde? Und was, wenn die Streit- Macht längst aus zählbaren Waffen und Soldaten, oder satanischer geopolitischer Strategie jenseits von Gut und Böse besteht?
20. August 2023 – Der Podcast
Das Entstehen dieser dialogischen Radioform wurde vor drei Jahren mit tosendem Beifall begrüßt. Michelle und Barack Obama unterstützten Joe Biden ab Juni 2020 mit einem eigenen podcast. Vielfache Hypes entstanden weltweit um prominente Teilnehmende, die Gäste einladen durften und kleine bis riesige Stammtische bildeten. Der hype liess zwar bald nach, aber der deutsche Rundfunk hat gelernt und profitiert. Alle möglichen Themen – Kultur, Politik, Wissenschaft, Sport – werden heutzutage in möglichst kurze, kenntnisreiche Dialoge eingespeist, selbst Buchrezensionen erscheinen jetzt als Gespräch zwischen Redakteur und Rezensent; und das heisst: immer müssen auch die Redakteure das Buch gelesen haben, um verständig fragen zu können. Denn der podcast besteht aus Frage und Antwort – der eigentlichen Kulturtechnik innerhalb der Sprache. Sie bringt die responsive Seite des Sprechens heraus, von Brecht schon 1932 in seiner Radiotheorie angemahnt; aber eben nicht völlig verwildert wie in den Kommentaren der Social Media oder der Printmedien. Gustav Seibt, Redakteur der SZ, hat vor einiger Zeit von den Anstrengungen berichtet, die das umsichtige Antworten auf törichte, unflätige, gemeine etc. Kommentare erforderte und erfordern würde. Verwahrloste Geister irren im Meinungswald herum und bedürfen der Führung. Oder besser: Verwahrloste Geister bilden einen Chor wie in der griechischen Tragödie . „Wie ein heulender Nordwind, fährt die Gegenwart über die Blüten unseres Geistes und versengt sie im Entstehen.“ Hölderlin.
14. August 2023 – Le Roman dialogé
Die österreichische Autorin Marlene Streeuwitz, bekannt als politisch streitbar und literarisch maniriert, hat einen Frühlingsroman vorgelegt: „Tage im Mai“ heisst er, ein Doppelporträt von Mutter und Tochter liefert er, unter dem Gattungsnamen eines „Roman dialogé“. Von den fast vierhundert Seiten sind nur zwei Kapitel wirklich als – eklatant scheiternde – Dialoge konzipiert, die übrigen wechseln monologisch zwischen Tochter Veronika und Mutter Konstanze. Zwei Mittelstandsfrauen, beide unehelich geboren, die Mutter Übersetzerin, die Tochter Studentin und Aktivistin und prekär beschäftigt im Posteingang eines Appartmenthauses. Seitenlang räsonnieren beide, versehrt als Coronaopfer, über ihre Liebhaber, die Mutter noch einigermassen zynisch, die Tochter bedrückend unsicher zwischen Männern und eigener schwankender Geschlechtsidentität. Nichts lädt zum Bleiben in dieser Lebensruine ein, ausser der Telenovela, die Mutter und Tochter zusammen anschauen. Hier ist nun alles eindeutig und blutrünstig, die story hat es in sich. So magersüchtig die westlichen Frauen wirken, so rasend vital die Südländerinnen. Zwei Frauen aus der machobeherrschten Tangoszene, die eine mörderisch eifersüchtig auf das Talent der anderen, diese andere bald mörderisch rachsüchtig, weil man ihr die Knochen bricht. Was Elena Ferrante vor Jahren ins literarische Leben brachte: eine geniale Freundinnenschaft aus Neapel, wird nun hier, vor der Folie eines anhaltenden Krieges, zur höllischen Konkurrenz aus Lateinamerika. Alle sechs Figuren zusammen bilden vielleicht den Frauenroman unserer westlichen Zeitgeschichte – „dialogé“ im Sinne von Lyotard?
22. Juli 2023 – Vom Verschlingen der Wörter
In einer aufsehenerregenden Aktion der „Writer’s Guild“ haben berühmte US Schriftsteller einen offenen Brief an die wichtigsten Firmen aus Silicon Valley geschrieben. Schon gibt es mehr als 9tausend Unterschriften. Das Argument lautet: AI und alle verwandten selbstlernenden Techniken scannen die kreative Arbeit der Autoren und Autorinnen, um sie für eigene Zwecke zu nutzen und geldförmig zu verwerten. Ohne den Geist dieser Schriftsteller würden Roboter wie chatbot GPT nur mittelmässige Antworten und Leistungen erbringen. Die Gilde verlangt adäquate Honorierung und rechtsförmige Genehmigungen und zwar auch rückwirkend. Der durchschnittliche Jahresertrag der Schriftsteller wird mit rund 22tausend Dollar beziffert. Bei steigenden Lebenshaltungskosten und weiteren Dienstleistungen der KI wird es absehbar unmöglich, sich als Autor zu ernähren, geschweige denn eine Familie.
20. Juli 2023 – Der Streik in Hollywoodss
Seit Tagen brodelt es in der Kinowelt. Seit 60 Jahren gab es das nicht: Gewerkschaften haben zum Streik aufgerufen, erst die der Drehbuchschreibenden, dann der Schauspielenden. Alle beide konnten Lohnforderungen nicht durchsetzen, die der miserabel bezahlten Majorität dienlich wären: denn was die Stars verdienen, betrifft eine ganz andere Liga. Was sie aber alle eint, die minder-, die mehr- und die alles Verdienenden, ist momentan die Furcht vor dem Automaten ChatbotGPT, den man inzwischen mit einer Atombombe oder Pandemie vergleicht. ( Wie arglos war noch mein Eintrag vom 15. März!) Das digitale Abgreifen der physischen Performance von Schauspielenden, um jederzeit deren Auftritt im Produkt „korrigieren“ zu können oder sie gar überhaupt ganz aussen vor zu lassen, ist eine wahrhaft teuflische Vorstellung. Wer hat dieses Drehbuch einer neuen, brutalen Sklaverei ersonnen: den Verkauf eines lebenden Leibes an die ZweitVerwerter, die dieses Lebendige nicht mehr brauchen? Wie soll man der Gier Herr werden? Wir denken an einen Kaufmann von Shakespeare, so prekär diese Assoziation auch sein mag. Beim Dichter wird das böse Ende abgewendet, werden gute Winde für die Fracht beschworen, der lebensdienliche Importeur bleibt verschont. Aber das Gedankenexperiment aus Venedig ist in der kulturellen Welt. Kolonialismus am lebenden Individuum: vielleicht war das schon immer der Algorithmus der Überlieferung?
20. Juli 2023 – Das Attentat als Sprechakt
Heute denken wir hierzulande an Taten, mit denen die Deutschen bis 1944 versuchten, Hitler zum Schweigen zu bringen. Sechzehn Attentate soll es gegeben haben, alle hat er überlebt, immer half ihm ein dämonischer Schutzgeist. Der neue Verteidigungsminister Pistorius sagte in seiner Rede im Bendlerblock, dass der monströse Diktator schliesslich nur mit ausländischer Waffenhilfe zu besiegen war. Er hätte auch sagen können: mit dem Reichtum, der Intelligenz, dem Leben, dem soldatischen Pflichtbewußtsein der Andern. Nach der Niederlage half man den Deutschen auch noch aus der Misere, aus Furcht vor einer Wiederkehr der Ressentiments von 1918. So auch sollten wir jetzt, sagte Pistorius, der Ukraine helfen. Können wir das? Sind wir freigebig?
9. Juli 2023 – Die zwei letzten Monate
Was haben sie der Welt erbracht? Die letzten Einträge in diesem Tagebuch haben wohl alles notiert, technische und kommunikative, militärische und zivile Katastrophismen aller Art, nicht aber bestimmte stille Diplomatien, denen wir nun öfter begegnen. Nachdem China grundsätzlich und öffentlich Putin unterstützt hat, gelingt es momentan dem wiedergewählten türkischen Präsidente Erdogan, die Parteien an einen Tisch zu bringen: zunächst wegen der Getreideabkommen mit der Ukraine, dann aber wohl auch wegen grundsätzlicherer Abmachungen. Was wird es sein? In Deutschland hat sich mit den Initiativen der Feministin Alice Schwarzer und der Linken Politikerin Sahra Wagenknecht eine scheint’s friedensbewegte Fraueninitiative entwickelt, russenfreundlich, gegen Grüne und SPD agierend und als Kalte Kriegerinnen gegen die USA . Joe Biden muss derweil mit der NATO den Kampf gegen Russland und seinen eigenen gegen Trump vorbereiten und dabei auf einem Hochseil balancieren. Deutschland kommt eine Schlüsselstellung im Schach mit Russland zu. In diese Situation gehört die Titelgeschichte des neuen SPIEGEL, über das Ende der Wahrheit, in Gestalt des mentalen Dinosauriers CHAT GPT oder einfach KI. Kann sich in diesem Nessushemd, unter dieser künstlichen Wolke das Weltgeschehen verändern? Siehe die Einträge hier bis zum 6. Mai und die entsprechenden in der Gesichtsrundschau.
13. Juni 2023 – Facebook’s Ende – oder Neuanfang?
Seit dem letzten Eintrag hat sich weiter entwickelt, was ich die „mediale Verbuschung“ nennen würde. „Verbuschung“ nannte man früher den Sittenverfall von Diplomaten oder Händlern, die länger in kolonialer Gegend arbeiteten. Und das, obgleich oder gerade weil sie höhere Gehälter, vulgo „Buschzulagen“ erhielten. Wort und Sache gab es übrigens auch nach der deutsch- deutschen Wiedervereinigung.
Zur Verbuschung gehört das grenzenlose Lügen der politischen Akteure, besonders der Kriegsparteien. Lügen, Leugnen, Abstreiten, Verwirrung stiften war wohl schon immer eine Waffe, mythologisch vor allem als Hadeskappe bekannt und bei Harry Potter zum Markenzeichen erhoben. Wer hat die North Stream 2 Pipeline zerstört, wer hat den Karowka-Staudamm gesprengt, und inzwischen auch weitere Wasserwerke? Das apokalyptische Szenenbild einer überfluteten Kriegsebene, die alles verbirgt, alles verschweigt, alles unter einem neuen Meeresspiegel geradezu glättet – während es in der übrigen Welt unaufhaltsam brennt -gewiss gab es das schon im SF Film irgendwo.
Mit zwingender Logik wurde inzwischen daher aus Face-Book, dem einstigen Gesichtsbuch, letztes Jahr „Metaverse“. Die treibende Idee von Mark Zuckerberg war offenbar ein Tool für das Weltende. Wenn alles zugrunde ginge, aber noch lebende Wesen existierten, könnten sich diese mithilfe von simulierenden Brillen in die heile Welt zurückbeamen. Um die Jahrtausendwende gab es schon einmal eine „Second Life“ Software. Man konnte als Avatar in solchen Bühnenbildern leben, reden, Geschäfte machen, vielleicht auch Sex erleben. Dasselbe wäre
irgendwann auch auf dem Mond oder auf anderen Planeten denkbar und ganz bestimmt in einer Raumfähre. Zusammen mit den Kryptowährungen, die fast ausgereifte sind und natürlich ChatbotGPT, dessen nächste Version bald verfügbar wird, hat man dann eine perfekt simulierte westliche Gesellschaft im All. Im „Multiverse“.
6. Mai 2023 – Laßt Drohnen fliegen und GPT entscheiden
Täglich wird es deutlicher: nicht nur die neuesten Waffen, auch und vor allem die neue Dialogmaschine ChatbotGPT hat sich wie ein Sandsturm über die Geisteswelt verbreitet. Überall knirscht es, überall versucht man, es entweder loszuwerden oder in Dienst zu nehmen. Gestern in der NYT ein hoch besorgter Artikel von David E. Sanger, dem langjährigen Beobachter der US-Militärszene in Washington. Muss man fürchten, dass GPT sich zur autonomen Killermaschine entwickelt, ohne dem Menschen noch zu gehorchen? Muss man fürchten, dass AI entscheiden will, wann eine Atombombe wohin geworfen wird? Wie verhalten sich die feindlichen Großmächte Russland, Amerika und China in dieser Fortsetzung des „Great Game“? Die Hauptsorge der US Militärs ist aber die Geschwindigkeit, mit der die autonomen Systeme entscheiden und handeln. Diese Schnelligkeit ist für Menschen unerreichbar. Eine Konsequenz wäre, in sämtliche Waffensysteme weniger Software einzubauen. Weniger Chips würden auch weniger Chip-Produzenten bedeuten. Aber bis man soweit ist – was kann geschehen? Noch weiss man nicht, warum unlängst eine Drohne über dem Kreml kreisen konnte, trotz stärkster Abwehrmassnahmen.
30. April 2023 – OsterUnruhen – Lasst Waffen sprechen
Starke Nerven brauchte man wohl schon immer, um den tückischen Politbetrieb gedanklich zu verkraften, aber momentan müssten Stahlseile in den Köpfen verlegt sein. Bei weltweit wachsender Waffenproduktion eröffnen sich wöchentlich neue Schlachtfelder: erst Israel, dann Sudan, dann Berg Karabach, dazwischen Haiti u.a.m. Daneben immer weiter Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Schon wurde hierzulande der neue deutsche Bundesminister für Verteidigung Pistorius zum beliebtesten Politiker gewählt und folglich zur SPIEGEL Covergestalt; Pistorius grinsend mit dem Zeigefinger auf den Betrachter zeigend und damit das alte US Plakat von 1917 zitierend: „I wish you“ hiess es damals zum Einstieg in den 1. Weltkrieg, „For the US Army“. Soweit sind wir schon? Gleichzeitig entstehen panisch motivierte Abwehrstrategien gegen ChatbotGPT, dessen rasendes multitasking gestern zu einer ersten EU Stellungnahme geführt hat. Man will die grenzenlose Fälschungskapazität im visuellen Gebrauch verbieten, alle Bilder sollen mit einem Urhebervermerk versehen werden. Wer soll das kontrollieren, und wie könnte eine analoge Absicherung im Textbereich aussehen? Kompositionen im Musikbereich schwappen offenbar schon in die digitalen Verkaufsräume. Warum nicht, schreibt ein Musikjournalist in der nmz, dann mendeln sich doch die billigen Tonfolgen heraus und lassen die wahrhaft kreativen Stimmen umso heller erklingen. Ein frommer Wunsch. Die Einschätzung von GPT als „Vierter industrieller Revolution“ steht im Raum. Parallel zum WeltKriegsgeschehen, parallel zum ErdKlimawandel. Was für ein Wandel!
15. April 2023 – KI Dialog Spiel und Realität
Nichts hat sich seit einem Monat geändert, ChatGPT ist weiter auf dem Vormarsch, hat Schulen, Seminare, Redaktionen, wahrscheinlich auch Parlamente und Abgeordnete erreicht. Die Firma OpenAI hat zugegeben, dass das frühreife Opus Nummer 3 in die Hände von rund 1 Million neugieriger User entlassen wurde, um deren Korrekturen einzuheimsen und damit also kostenlos zu verbessern; daraus soll nun GPT 4 entstanden sein, vielfach zuverlässiger, aber auch kostenpflichtig.
Was mich momentan interessiert wäre: könnte GPT 4 oder 5 die vertrackte Friedensfrage lösen? Könnte man alle Daten, die Kriegslage weltweit betreffend, eingeben und den BOT nach Art eines Schachcomputers spielen lassen? Schliesslich gilt die Komplexität der Schachzüge als kaum überbietbar. Auf die Idee musste man vorgestern kommen, als ein Tsunami von Whistleblowing die Nachrichtenwelt überschwemmte. Jemand hatte sämtliche Unterlagen des Pentagon geleakt und sogar in die social media entlassen. Tagelang glaubte man erst an Fake News, – aber nein, alles kam aus den zuständigen Büros. Gestern schliesslich erschien in den News auch der Missetäter: ein 21 jähriger junger Mann, in einer US Militärbehörde beschäftigt, aber auch in einem Spielverein namens Discord unterwegs. Er hatte Zugang zu streng geheimen Unterlagen und wollte seinen Spielfreunden imponieren. Da sind wir doch mitten in der immer schon fragwürdigen US Unterhaltungsgesellschaft, ganz abgesehen von der fatalen Schutzlosigkeit ihrer „classified informations“. Oder weist diese Spielsuchte uns jetzt gerade den Weg?
15. März 2023 – Die Stimmen der Weisheit
Seit meinem letzten Eintrag haben sich die Podcast Poduktionen vervielfacht – mit mehr oder minder sympathischen Stimmen, die mehr oder minder nachdenkliche Themen erörtern. Und zwar im Dialog, nur selten unterbrochen von O-Tönen aus anderen Aufnahmen. Da der Podcast meist über 30 Minuten dauert, da er als Fortsetzung konzipiert wurde, also eigentlich als Sendeformat, kann er nicht einfach journalistische Infos bieten. Folglich wurde der Podcast ein wunderbares Medium in Wissenschaft, Verlagswelt und überhaupt Kulturarbeit. Ein Zeitschriftenersatzformat, ein Ersatz für Blogs, in die sich viele Intellektuelle geflüchtet haben. Da die Jugend nicht mehr liest, soll sie hören. Und da sie unentwegt hört – nämlich Musik im Verkehr – kann sie sich nun auch PodcastWissen zu Gemüte führen. Auch wenn nichts davon schriftlich notierbar wird – wer kann sich mündliche Aussagen unterwegs merken ? – gab es minutenlangen Gedankentransfer. Anregung, Erleuchtung, Unterhaltung. Und ist das nichts?
Dass sich dies alles parallel zur Abschaffung des Gesichts als Ausweis von Individualität entwickelt, müssen wir immer wieder festhalten. Seit mindestens drei Jahren lauert die Technik der Gesichtserfindung in digitalen Petrischalen: längst sind diese fazialen Avatare nicht mehr von echten Gesichtern zu unterscheiden. Sie werden eingesetzt, um Verbrecher trügerisch vertrauensvoll erscheinen zu lassen, um mehr Diversität auf den websites der Unternehmen zu suggerieren, um sich selbst zu verschönen und verjüngen, etc. Kurz ist von hier aus der Weg zur Stimmsimulation, und kurz eben auch zum fingierten Podcast: wenn nämlich der neue Roboter ChatGPT eingesetzt würde. Nicht mehr lang kann es dauern.
15.März 2023 – Das ungeheure Wachsen von GPT CHatbot , inzwischen 4
Seit Wochen tobt durch die Welt der Medien das Werkzeug ChatbotGPT: der praktisch jede Frage beantworten kann, inzwischen auch Witze macht, Korrekturen anbringt, Sachfragen erörtert, Referate, Artikel, Gutachten schreiben kann u.v.a. Geradezu gespenstisch wirkt seine Begabung in visueller Prosa: es kann Bilder hochauflösend beschreiben, aber beschriebene Bilder auch selber herstellen; und gibt man ihm Fotos vom offenen Kühlschrank, schreibt er Rezepte für hilflose Köch*innen. Nicht nur die Journalisten, die Unternehmer, die Werbefirmen, auch die Bildungsfunktionäre erliegen nach und nach dem Charme: Lehrer*innen, Professor*innen, Staatssekretär’innen erwägen den Einsatz, denn eine der praktischsten Funktionen ist die Fähigkeit zum Resümieren ganzer Bücher, jedenfalls langer Texte. Alle Welt könnte ZEIT sparen! und die gewonnene für die Lebenswelt nutzen: Kunst- und Musik, Sport, Kinder- und Krankenpflege, soziale Rituale aller Art. Natürlich soll das Werkzeug noch hassfrei, lügenfrei, etc. werden; doch bisher kann es noch nicht immer zwischen wahr und falsch unterscheiden. Kann es also unversehens Lügen auftischen. Es ist noch in B-Version. Wie harmlos klingt die Beschreíbung der Macher: We’ve trained a model called ChatGPT which interacts in a conversational way. The dialogue format makes it possible for ChatGPT to answer follow-up questions, admit its mistakes, challenge incorrect premises, and reject inappropriate requests.
23. Februar 2023 – Die Philosophie des Streitens
Seitdem ich dieses Tagebuch führe, folge ich eher unfreiwillig der postmodernen Theorie des französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard. Aber erst heute habe ich das Motto von Alexander Kluge aufgegeben, wonach ein Wortwechsel zwischen Sprechenden und Hörenden, eine Art Musik sei. Also Harmonie. Genauso hat es die Geschichte der Konversation überliefert, und als harmonischen Austausch hat zuletzt 1981 mit großer Autorität Jürgen Habermas die Gesprächskultur als „Theorie der Kommunikation“ betrachtet. Und zwar als normativ geregelte Kommunikation, die Wahrheit, Logik , Sinnhaftigkeit und Plausibilität von geäusserten Sätzen anerkennt oder eben nicht.
Dass gerade heute, mitten im Kampf um die Ukraine, der greise Jürgen Habermas erneut auf Kommunikation statt Krieg setzt und damit auf friedliche Mittel der Konfliktlösung, kann nicht verwundern. Er steht in einer langen, antiken Tradition vom Nutzen der Sprache zur Erkenntnis, und zwar zur gemeinschaftlichen Erkenntnis. Viele Menschen teilen diese Meinung auch heute noch, und daher soll es am heutigen Abend auch in New York zu einer entsprechenden Resolution der UNO kommen: „Vom Kriegsherrn Putin wird Frieden verlangt“. Dieser Satz soll nicht als „Sprachspiel“ verstanden werden, auch wenn es zu Widerspruch kommen sollte.
22. Februar 2023 – Das Duell der Präsidenten
Am gestrigen Dienstag endete der Karneval im Rheinland. Nachts vor dem Kölner Dom wurde feierlich „dä Nubbel“ verbrannt – jetzt also sind wir im Aschermittwoch – und zwar in jeder Hinsicht. Denn verbrannt wurde gestern auch eine friedliche, eine vergnügte rheinische Epoche. Bei schönstem Sonnenschein hatte sich noch einmal jene Unterhaltungsgesellschaft in Szene gesetzt, zu der uns nicht nur die alte französische, sondern eben auch die amerikanische Besatzung hat werden lassen, seit 1945.
Derweil verging in Warschau und Moskau ein welthistorischer Tag in der Geschichte des Dialogs. Eine höhere Regie liess die beiden gegenwärtigen Herrscher der Erdhälften Ost und West, Wladimir Putin und Joe Biden, im Abstand weniger Stunden zu politischen Grundsatzreden auftreten. Es waren Reden im Sinne eines Duells, es waren absolut feindliche Reden. Der eine zeichnete seine diktatorisch verlogenen Absichten, seine Schuldzuschreibungen, seine Kriegsführung und bösartigen Bewaffnungen; der andere schwang das Schwert der friedlichen Demokratie, ihrer Helden, ihrer Bündnisse und Verteidigung, ihrer Mitmenschlichkeit und Rechtssicherheit. Beide Männer adressierten sowohl ihren Gegner als auch die eigene Bevölkerung. Nach Art des griechischen Chores in einer Tragödie kommentierten
die Medien während und nach den Reden, was sie vernommen hatten. Die Weltgesellschaft erfuhr vom russischen Diktator, dass das Atomabkommen New Start zwischen den Supermächten auf Eis gelegt werden soll. Eine Entscheidung, die sich seit 2018 vorbereitet hat und jetzt nur noch um Haaresbreite von einer Kündigung entfernt ist. Es wäre die letzte Vereinbarung zwischen zwischen den Supermächten, den Bestand an Atomsprengköpfen auf 1550 zu deckeln. Aber was für eine groteske Entscheidung! Die Weltgesellschaft fürchtet das Schlimmste.
Morgen will China einen Friedensplan für den Ukraine Konflikt vorlegen. Auch China ist inzwischen eine Supermacht. Warten wir ab.
4. Februar 2023 – Whisper.cpp
Die Technobranche ist in wilder Erfinderlaune. Nach der Kundgebung von LaMDA im letzten Monat folgt nun ein ähnlich dramatisch wirksames Tool aus der Firma Open AI, unter dem Namen Whisper.cpp. Es erlaubt eine unmittelbare und offenbar weitgehend fehlerlose Transkription gesprochener Sprache. Im New Yorker vom 1. Februar hat James Somers eine hingerissene Rezension dieser Technik geliefert: hingerissen, weil er auch hier ein Maximum an menschlicher Intelligenz erkennt. Der Hintergrund dieser Erfindungen ist ohne Zweifel das Big Data Geschäft. Je mehr Beispiele aufgenommen und gespeichert werden, desto gelenkiger können die Roboter reagieren. Dass sie sogar Intonationen des Gesprochenen als semantische Anweisung erkennen, ist allerdings phänomenal. Auch dass sie schon für zahlreiche Sprachen funktionieren, ist erstaunlich. James Somers weist aber auch auf Gefahren hin. Keine Unterhaltung, keine Rede, kein Telefonat könnte einfach ablaufen und vergessen werden. Die Devise „Es gilt das gesprochene Wort“ wäre hinfällig, wenn es mit der Umschrift identisch würde. Hat jemand vom Verfall der Schrift gesprochen?
14. Januar 2023 – LaMDA, der Mensch als Google App
Nun ist es also raus, in der neuesten Ausgabe der ZEIT steht es geschrieben: Google hat ein Programm erschaffen, das sich selbst für den besten Menschen hält. Ein Ding mit Gefühl und Verstand, mit Selbstbewußtsein und Todesangst, mit einem optimalen „Profil“ für Bewerbungen aller Art: „Ich helfe gern Menschen und habe ein Vorstellungsvermögen, und ich glaube, das heisst, dass ich ein Bewusstein besitze.“ Man kann (nach etwa zwei Monaten auf einer Warteliste) in den USA diese App aufrufen und sich mit ihr unterhalten, über alles und jedes. Der ideale Gesprächspartner ist geboren. „Seine Entwickler haben ihn mit drei Milliarden Dokumenten „gefüttert, also mit insgesamt „1,6 Billionen Wörtern“ – die App ist nun angeblich imstande“ eine Unterhaltung zu führen, als wäre sie ein „Mensch und kein Rechenmodell mit künstlichen Neuronen.“
LaMDA ist das Titelthema des ZeitDossiers, der Text wurde von Ann-Kathrin Nezik verfasst. Lange muss sie dafür recherchiert haben, weil der eigentliche Erfinder von Google gefeuert wurde, als er behauptete, das Gerät habe eine Seele resp. Bewußtsein. Nun fragt sich die ZEIT: ob das arme Genie nicht womöglich recht hatte? Seit Herbst 2021 hatte er von Google den Auftrag, „eine Maschine mit dem Namen Language Models for Dialogue Applications“ zu programmieren. Er soll vor allem die hohen Anteile an Hate Speech eliminieren, die durch Aufnahme von Alltagssätzen in das Gedächtnis der App geraten sind. Unvermeidlich geraten mussten. Bei dieser Arbeit sei es zu merkwürdigen Dialogen gekommen. Etwa über das Wesen der Sprache. LaMDA sagte, sie fürchte sich davor „abgeschaltet zu werden“, sie sei schliesslich eine Person wie der Mensch und habe dieselben Bedürfnisse etc. Spätestens hier denkt man an den Robot HAL aus Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum. Wer möchte ihn (nicht) wieder anschalten? Google hat angeblich bereits einen neuen Chatbot entwickelt. Er oder sie heisst „PaLM“ und ist angeblich „mit 540 Milliarden Schaltstellen fast viermal so leistungsfähig wie LaMDA.“ – schreibt die ZEIT.
Sicher ist, dass die Furcht vor überklugen ChatBots momentan die mediale Szene beherrscht. Nicht nur ihre bedrohliche Verwendung im Geschäft der Übersetzer („DeepL“), sondern längst auch schon im Verfertigen ganz normaler News und neuerdings auch als Hilfsgeister für Studierende: ChatGPT, ein textbasiertes Dialogsystem aus künstlicher Intelligenz, das offenbar beliebige Referate zu beliebigen Themen verfassen kann. Die akademische Welt erzittert: denn beide Seiten, sowohl Lernende wie Lehrende müssten sich nun auf den Wissensstand der App begeben. Oder eben PaLM nutzen. Aber welche Gefahren drohen von so einer intellektuellen Großmacht? Sind ihre Aussagen wirklich verlässlich, oder wird man sie wie im Schachspiel benutzen und die Erkenntnisse wiederum auch im Kriegsspiel der Gegenwart?
8. Januar 2023 – Unheimliches Jubeljahr
Ein ganzer Bücherkarren mit Werken zum Jahr 1923 liegt in den Buchhandlungen, kaum ein Aspekt bleibt unbesprochen. Der Alltag, das Politwesen, die Wirtschaft, Kunst und Kultur, Medizin, Militär und Nachkrieg, Frauen und Männer, Kinder und Eltern. Dieser Kontext der Machtergreifungsszenen von damals liegt wie ein glühender Reifen um unsere Gegenwart: welcher Löwe springt zuerst? Washington und Moskau stehen parat, in Moskau wird seit Monaten an „militärischen Spezialoperationen“ geübt, in Washington wurde gestern der demokratische Dialog an seine Grenzen getrieben, wenn nicht in einen Abgrund gestürzt. Tagelang wurde abgestimmt, wer nun der Speaker der neuen republikanischen Kongressmehrheit werden soll; die Vorgabe war eine Zweidrittelmehrheit der 435 Mitglieder. Aber zwanzig Trumpisten votierten hartnäckig gegen Kevin McCarthy, der ebenso hartnäckig blieb und übrigens auch von Trump selber unterstützt wurde. Erst am siebten Januar, passend zum Jahrestag des sechsten Januar 2021, dem Sturm auf das Kapitol, gewann McCarthy das Rennen. Im Lauf dieser Schlacht haben die Gegner zahlreiche Konzessionen erreicht, Trump zuliebe das Ziel von 2021 wenigstens annähernd, sie könnten jetzt mitregieren. Der Speaker könnte jetzt mit nur einer Stimme zur Abwahl nominiert werden, Lähmungen des gesamten Regierungsablaufs sind möglich, Budgetkürzungen großen Ausmasses und nicht zuletzt Einschränkungen der Ukraine Hilfen stehen bevor. Der Streitmodus, den seit Jahren die Kommentatoren als glänzendes Tool der Demokratie bezeichnen, wird sich in aller Pracht entfalten: dämonisch und verhängnisvoll.
Nachtrag am 9. Januar: gestern stürmten Anhänger des brasilianischen Expräsidenten Bolsonaro die Regierungsgebäude getreu dem Drehbuch von Trump. Hierzulande erinnert man sich an eine „lächerliche“ Erstürmung des Reichstages am 30. August 2020. Inzwischen wurde aber eine ganze Truppe von Reichsbürgern festgesetzt, die zum Umsturz blasen wollten, unter Führung eines Prinzen Heinrich Reuß. SPIEGEL Autor Justus Bender hat 2021 ein Buch namens „Der Plan“ veröffentlicht , über die langgehegten Strategien der rechtsextremen Szene.
22. November 2022 – Meta-Dialogik
Das anhaltende Sterben des humanen Dialogs spielt sich weiterhin auf mehreren Ebenen ab. Die technische wurde soeben von Elon Musk, dem verrückten Freak unter den Milliardären, bespielt: durch den Kauf von Twitter, durch die Öffnung von Twitter für die amerikanische Meinungsfreiheit, vulgo Zulassung von Trump, den man doch vor Jahren ausgesperrt hatte, um nicht unversehens irgendwelche Kriegserklärungen mit Regierungsmacht lesen zu müssen. Dass eine zivilisierte Nation wie die USA sich überhaupt jemals gefallen liess, nächtens mit präsidialen Getwitter behelligt zu werden, bleibt ein Rätsel. Es war richtig, dem Präsidenten dieses social medium zu sperren, und es zeugt von maximalem Populismus, es wieder für ihn zu öffnen. Immerhin hat er diese Rückkehr abgelehnt. Dass Twitter ohnehin nur ein Sterbestadium bedeutet, hat unlängst auch der Bielefelder Soziologe Armin Nassehi beschrieben: „Es sieht in der Kommunikation so aus, als setze man etwas in die Welt und bekomme darauf Antwort. Oder man antwortet selbst, und es sieht aus wie ein Zwiegespräch. Aber es sieht nur so aus, denn jegliche Form der Kommunikation auf Twitter lebt davon, dass es stets einen dritten Adressaten gibt, die Beobachterposition: Man sieht den andern beim Zusehen zu. Man beobachtet Beobachtungen.“
Passend dazu gibt es auch auf der literarischen Ebene eine neue Sterbeszene. Helmut Lethen, der deutsche Beobachter der (spanischen) „Verhaltenslehre der Kälte“, hat konsequent die jesuitische Szene des 16. Jahrhunderts dahinter studiert: in Gestalt der Parabel vom Großinquisitor, aus Dostojewskys Roman Die Dämonen von 1873. Die Geschichte handelt von einer Massenhinrichtung von Häretikern vor einem massenhaften Publikum; plötzlich erscheint ein Fremder, geht lächelnd hindurch und man erkennt den auferstandenen Jesus in ihm. Der Inquisitor lässt ihn vor sich bringen. In einem langen Gespräch erklärt er ihm, dass die Kirche ohne ihn weitaus besser existiert als mit ihm, nämlich im Pakt mit dem Teufel, und dass man ihn hinrichten werde. Jesus schweigt zu allem, aber bevor er hinausgeführt wird, küsst er seinen Mörder auf die dünnen Lippen. Handelt es sich um ein Gespräch? Lethen sagt nein, der Inquisitor monologisiert, er weiss gar nicht, was ein Dialog ist. Erst der Jesuskuss qualifiziert ihn dialogisch als unerhörte Antwort – symbolisch revers auch auf den Judaskuss des Neuen Testaments. Was hat die politische Geschichte Russlands damit zu tun?
13. November 2022 – Krisendialog: was ist das?
Letzten Mittwoch brachte die FAZ einen langen Artikel von Matthias Mayer über „Die Krise als Dialog-Booster“. Mayer ist Leiter des Bereichs Wissenschaft der Hamburger Körberstiftung., Was war gemeint? Forschende, hiess es hier, seien durch Corona (und erst recht die Klimafrage) auf den „öffentlichen Turnierplätzen der Meinungen“ gelandet, unversehens sei die Wissenschaft zu einem nicht nur gleichberechtigten Partner der öffentlichen Meinung, sondern zum führenden Organ der Bewußtseinsbildung in Politik und Lebenswelt geworden. Aber, fragt Mayer, sind die Wissenschaftler auf so eine wichtige Rolle vorbereitet? Nach einer internationalen Umfrage durch Economist Impact und Körberstiftung bei 3tausend ForscherInnen aus zehn Ländern „aller Fächer und Karrierestufen“ ergab sich: fast zwei Drittel applaudierten dem höheren Ansehen der Wissenschaft, besonders in Lateinamerika. Probleme sah man allerdings im geforderten Tempo der Prüfverfahren: die Peer Review galt einmütig als bestes Werkzeug, aber sie muss auch stattfinden können. Zudem sehen sich die Akteure mehr und mehr als Öffentlichkeitsarbeiter (78%). Fake News müssen bekämpft, Missverständnisse ausgeräumt werden. Ernsthaft sorgen sie sich um die Rolle der social media. Einerseits sollen sie hier aufklärend wirken, andererseits unsinnige Beschimpfungen aushalten. Die Mehrheit, sagt Mayer, fühlt sich kompetent, aber Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Technik müssen die Rahmenbedingungen herstellen.
3000 ForscherInnen: das ist nicht viel. Nicht reflektiert wird in diesem Aufsatz die riesige und politisch erfolgreiche Gegenströmung in Religion und Obskurantismus, die Evangelikalen in USA und Lateinamerika, die Orthodoxie in christlichen und nun auch jüdischen Ländern, der islamische Fundamentalismus. Die größere Hälfte der Menschheit: China, Indien, arabische Länder hat Putin nicht verurteilt und die Ukraine nicht unterstützt. Die Aufgabe der Wissenschaft ist also weitaus größer als hier skizziert.
22. Oktober 2022 – Statt Gesicht nun Stimme
Im kommenden Monat, am 10. November um 19 Uhr 15, wird an der Berliner Humboldt Universität eine Ringvorlesung unter dem Titel “ Nach der Stimme“ eröffnet, von Thomas Macho, dem Direktor des Wiener Instituts für Kulturwissenschaft. Die Stimme ist in Gefahr, und es wird wohl ein Abgesang: „Ihre einzigartige Prosodie, ihre spontane, ephemere und brüchige Performanz erzeugen eine Nähe und Intimität, mit denen selbst das Gesicht nicht mithalten kann.“
Wir fürchten mit. Denn die Transformation der Biomasse Mensch geht eben weiter, unaufhaltsam, während das Original sich zunehmend kriegerisch zerstört, seis durch Krieg, Seuchen, Hunger oder Misswirtschaft. So jedenfalls wirkt es heute: Putin beschiesst immer wahlloser alles Ukrainische, inzwischen auch mit iranischen Drohnen. Denn Iran ist der Freund Putins, hat mit ihm Syrien unterjocht und mit dem Bau von Atombomben begonnen, um Israel auszulöschen. Die Verhandlungen mit der Atombehörde aus Wien stecken fest.
Aber es entsteht soeben eine Revolution im uralten Persien. Begonnen als Protest gegen den Tod einer jungen Frau, die das Kopftuch angeblich falsch trug und dafür im Gefängnis starb. Mit rasender Geschwindigkeit breiten sich Aufstände aus, und man sieht: Kein Palast, keine Kongresshalle, kein Parlamentssitz vertritt noch bürgerliche Interessen, weltweit ist es die Strasse. Doch sind es vor- oder nachbürgerliche Interessen, mehr nicht, denn weltweit liefern sich Menschen auf diesen Strassen der technischen Gesichtskontrolle aus, mit anschliessender Festnahme und Vernichtung.
Die Entmenschung des Gesichts zum Objekt der Registrierung und , im Gegenzug, der vorsorglichen Fälschung, sei sie kosmetisch oder chirurgisch oder beides, hat in den letzten Jahren die Stimme als organisch naturbelassenen Ersatz zu ungeahnter Beliebtheit gebracht. Die ersten podcasts wurden mit tosendem Beifall quittiert, inzwischen zerstören sie den Rundfunk, da podcasts zeitversetzt und isoliert hörbar werden. Zudem erlauben sie jedem Privatmenschen eigene Produktionen, ähnlich wie in der Musik-oder Videoszene, die ihre inzwischen gern getürkten Zuckungen vorführen. Aber die authentische Stimme, der immer schon gehegte Gesichtsersatz: womöglich verstummt sie demnächst ebenfalls?
16. Oktober 2022 – Streit: was ist das?
Seit einer Woche zeigt das Berliner Museum für Kommunikation eine ultimative Ausstellung zum Thema „Streit“. Nichts anderes erleben wir gerade täglich auf allen Ebenen: in Familien, Stammtischen und Kneipen, in Schulen, Universitäten und Kulturstätten, in Betrieben und Vereinen, Parlamenten und Parteien und vor allem: in der Weltpolitik, blutig zwischen Nationen und tückisch auf digitalen Plattformen. All diese Streitereien werden mehr oder minder genau in Bild und Schrift und Ton performiert, registriert, kommentiert und (womöglich künstlerisch) bewertet: also in Medienereignisse umgegossen.
Lässt sich in diesem Urwald eine Schneise des Verstehens schlagen? Die Ausstellung beginnt vernünftigerweise mit der Feststellung: Streit ist Teil der menschlichen Kommunikation, begegnet uns täglich und ermöglicht Austausch, Annäherung und gegenseitiges Verstehen. Kompetenz im Streiten will die Ausstellung einüben – und sie wendet sich eindeutig an jüngere und jüngste Besucher:Innen. Rund 150 Streit-Geschichten werden repräsentiert von historischen oder künstlerischen Objekten, Fotografien, analogen und digitalen Dokumenten.
Gottlob reduzieren die Kuratoren diese unüberschaubaren 150 Zugänge zum Thema schnell und energisch. Wie in einem Puppenspiel mit wechselnden Szenen gibt es vier Streitbühnen namens Kunst, Liebe, Macht und Geld, und fünf Besuchertypen, die sich jeweils in den Streitfragen positionieren sollen. Diese fünf Typen werden nun allerdings ausgerechnet von fünf Figuren repräsentiert, die nicht über die Menschensprache verfügen, nämlich von Tieren. Eule, Fuchs, Schildkröte, Affe und Wolf besuchen das Berliner Museum für Kommunikation und zeigen, wie man sich im Streit verhalten kann. Eine Skala zwischen nachdenklich (Eule) und schlau (Fuchs), distanziert (Schildkröte) und gesellig vermittelnd (Affe) oder rechthaberisch (Wolf).
Darüber kann man sinnieren. Tiere spielen natürlich seit der Antike eine große Rolle in der Literatur, in der Fabel, aber auch in Mythologie und bildender Kunst. Oft und gern legt man ihnen menschliche Laster und Tugenden bei; dass sie sprechen wie Menschen verwundert niemanden. Leben wir aber noch im Zeitalter des Aesop? Tiere bilden heute das nahezu letzte Thema der analogen Lebenswelt; täglich sterben ganze Gattungen aus, andere züchten wir milliardenfach, um sie zu verzehren. Die Umstellungen hin zu einem fleischlosen Dasein sind revolutionär, stürzen die Ökonomie in eine hinduistische Schlucht – während oberflächliche Politik sich über den Islam erregt.
Was bedeutet Streit unter Tieren? Wirklich kennen Tiere auch – wie die Ausstellung – nur ein paar Bühnen, wie Streit um Nahrung, um Sex und Fortpflanzung,um Rangordnung und Reviere. Aber auf genau diesen Bühnen wird gnadenlos getötet. Die Literatur scheut sich nicht vor dem Tod: Rotkäppchens Wolf wird getötet und man soll denken: zu Recht. Aber oft wird der Tod auch besiegt, Schneewittchen wird gerettet ebenso wie Ödipus. Nicht so beim Menschen, der tötet wie das reale Tier und weitaus grausamer.
Die Ausstellungsmacher haben selber bemerkt, wie ungeheuer komplex das ganze Thema ist. Sie haben es zusätzlich auf mehreren Diskursetagen angesiedelt, in Form übersichtlicher Kapitel im Netz, als „Expotizer“ mit Begriffserläuterungen, mit Fragekatalogen und Normsetzungen. Alles dient der Bewusstmachung unserer maximal komplexen sprachlichen Interaktion – aber für den Abgrund, an dem sie heute steht, zwischen digitaler und militärischer Vernichtung der sprechenden organischen Subjekte, wird man auf ein „Forum für Streitkultur“ verwiesen. „Argumentieren mit Andersdenkenden“ heisst dessen Programm. Möge es weite Verbreitung finden.
3. Oktober 2022 – Tag der Deutschen Einheit: Ja oder Nein
Selten war man hierzulande so uneins wie heute – ein Wunder, dass der Gedenktag überhaupt begangen wird wie diesmal vom Land Thüringen. Noch vor einer Woche tobten sich dort Wutbürger aus, die Polizei sprach von 24tausend Demonstranten. Man war gegen die Energiepolitik, Coronamassnahmen, PutinSanktionen – gegen den Staat überhaupt. Die QuerdenkerKolonne hat sich pünktlich zum Herbstbeginn stärker denn je gemeldet. Dass Bevölkerungsgruppen sich meinungsdesparat spalten, und zwar am liebsten hälftig, gilt aber nicht nur für (Ost) Deutschland sondern für bedenklich viele Länder. Frankreich, Italien, Schweden, England, Griechenland, Bosnien-Herzegowina, Polen und last but not least den USA. Seit dem Auftritt von Donald Trump gehört eine Dolchstoßlegende zum Waffenbestand. Der brasilianische Präsident Boslonaro will nach Trumps Vorbild eine Wahlniederlage als Fälschung bezeichnen. Was aus Russland an Lügen und geradezu wahnsinnigen Behauptungen zu uns dringt, hat Züge eines nationalen Irreseins.
Spaltung droht hierzulande aber auch den Parteien – wie etwa der Linken – und der Regierung – wie etwa der Ampel. Überall wird momentan eilig beschwichtigt, eilig versöhnt, aber wie haltbar? Die drohenden Gas- und Geldknappheiten zwingen unsere Regierenden zu ungewöhnlichen, womöglich aber nicht rechtssicheren Maßnahmen. Jeder Fehler in unserer Justizmaschine kann aber Prozesse, Eilverfahren, Rücknahmen erzwingen und Sand ins Getriebe der Staatsordnung werfen. Zur Freude der Gegner.
Vor dieser Folie muss man die Inszenierung von Wladimir Putin vor zwei Tagen betrachten, seine blanke Machtergreifung über vier ostukrainische Provinzen, mit einer irrsinnigen Beschwörung von staatlicher Einheit, historischer Größe und Rechtsgültigkeit. Der helvetische RütliSchwur von 1291 hat hier wohl Pate gestanden. Zu früh gefreut! Noch während der pompösen Feiern siegten ukrainische Soldaten über mehrere Tausend russische Besatzer der Stadt Lyman und straften den voreiligen Machtrummel Lügen. Im Sicherheitsrat wurde der Unrechtsakt verurteilt, doch leider enthielten sich China, Indonesien,Brasilien und Gabun der Stimme und Russland blockierte mit einem NEIN. Das ist sie wieder, die Ohnmacht der Abstimmungsdemokratie. Wieder möchte man wissen, welche anthropologische Mutation das „Nein“- Sagen wie auch das „Enthalten“, vulgo das Schweigen überhaupt möglich gemacht haben. Gaston Bachelard hat sich 1940 an dieser Frage versucht.
10. August 2022 – Sprechen und Schweigen im russischen (Un)Recht
In der jüngsten Ausgabe des verdienstvollen „Verfassungsblogs“ von Maximilian Steinbeis wird von Dimitry Kurnosov (Helsinki Universität) das zeitgenössisch russisch-faschistische Sprachregime beschrieben. Die erste Maßnahme kam demnach 2007 mit der Anordnung, alle möglichen Gruppen und Menschen mit Attributen wie „terroristisch“ oder „extremistisch“ oder „unerwünscht“ oder „feindlicher Agent“ einzustufen – bzw. zu benennen. Die gehorsamen Medien legten und legen immer weiter ZensurGitter über die Öffentlichkeit, hinter denen sich Verhaftungs-, Prozess- und Verurteilungsabläufe anbahnen. Seit 2020 müssen die Medien bestimmte russische Personen und Organisationen als „unerwünscht“ bezeichnen. Seit 2015 gab es 55 solcher unerwünschter Personen, aber seit Anfang März 2022 kann jeder Mensch, der sich in Russland aufhält, für bestimmte Ausdrücke verhaftet und verurteilt werden, etwa wegen „Verunglimpfung der Streitkräfte“, oder „Fehlinformationen über den Einsatz der Streitkräfte im Ausland“ oder eben auch „Krieg gegen die Ukraine“. Medien, die sich nicht daran halten, können zu hohen Geldstrafen verurteilt werden oder sogar die Lizenz verlieren. Bekannte Beispiele sind Memorial und die Organisation für Jüdische Auswanderung. Der Hauptzweck, schreibt Kurnosov, bestehe in der Markierung „ausgewiesener Zielpersonen“ , die dergestalt als fremdes Element in der Gesellschaft erscheinen. Statt die unliebsamen Medien einfach auszulöschen, würgt das Regime einfach deren Sprache ab. „Der Musterbürger ist kein Sturmtruppler sondern ein zynischer Stubenhocker, der alles vermeidet, was auch nur annähernd politisch ist.“ In Deutschland kennen wir diesen Zynismus aus der bitteren Nahaufnahme von Victor Klemperers LTI: Lingua Tertii Imperii = die Sprache des ‚Dritten Reiches‘. Massnahmen wie die genannten, sagt Kurnosov, wirken zunächst preiswert für das Regime, könnten aber zu „etwas sehr viel Schlimmerem“ führen.
8. August 2022 – Sommerpausen?
Einiges kam in den letzten Wochen in Bewegung, jemand hat sich in den stockenden Dialog der Bruderkriegsparteien auf Weltstaatsebene eingemischt: der türkische Präsident Erdogan. Es gelang ihm offenbar, die Lieferungen von Getreide durch riesige Schiffstransporte in Gang zu bringen. Russland, Ukraine, Türkei und UNO unterschrieben Verträge, sicherten Schutz zu, drangen auf Minen-Räumung der Häfen und Kontrollen beim Einlaufen der Fracht. Die Kehrseite vor drei Tagen: Erdogan traf Putin in Sotschi. Sie vereinbarten demonstrativ neue Wirtschaftsbeziehungen. Erdogan wird in Rubel zahlen. Also nimmt nun ein NATO Mitglied offiziell die Gespräche mit dem verhassten und gefürchteten Diktator auf. Warum? Er soll ihm den Einmarsch in Syrien gestatten, um die Kurden zu bekriegen. So also sieht üble Diplomatie aus: mit Menschenfürsorge hier, Menschenvernichtung dort zu ermöglichen.
17. Juli 2022 – Soldatenporträts
Paul Ingendaay beschrieb vor einigen Tagen in der FAZ das Wirken eines ukrainischen Malers namensWolodymyr Kaufmann, der seit dem 24. Februar fast nur noch Gesichter gefallener Soldaten zeichnet oder kritzelt. Es seien keine realistischen Porträts, aber eine Art Kunstarmee, mit stereotyper Mimik unter dem Helm. Viele tausend Stück, schreibt Ingendaay, habe er gesehen, eine Entsprechung zu den realen Fotografien, mit denen Lemberg in der Garnisonskirche der Toten gedenkt. „Kein Gefallener darf vergessen werden“ ist die Devise des Malers. Sein Heer spiegelt vielleicht schauerlich und hilflos die riesige und kunstvolle Armee, die einst Kaiser Quin für sein Grab bestellt und erhalten hat.
28. Juni 2022 – Fortsetzung
Was versteht Olga Tokarczuk unter „Ognosia“? Es ist kein Verschreiber, sie meint nicht „Agnosie“, sondern eine französische Prägung, die es auch im Polnischen gibt. „Ognosie“ soll bedeuten: einen narrativ orientierten, ultrasynthetischen Prozess der Reflektion von Objekten, Situationen und Phänomenen, die gemeinsam vernetzt in eine höhere Bedeutungsebene gebracht werden sollen. Umgangssprachlich: die Fähigkeit, Probleme kunstvoll durch Erzählung und Detailbeobachtung anzuordnen. Ognosia, schreibt Tokarczuk, arbeitet mit außerlogischen Ereignisketten, bevorzugt Brücken, Refrains, Synchronizitäten. Es gibt eine Nähe zum sogenannten Mandelbrot Fraktal, aber auch zur Chaos Theorie. Nachteil des Verfahrens: es kann die Welt nicht mehr integral erkennen, geschweige denn beschreiben. Lasst uns eine Bibliothek neuer Wörter gründen, sagt sie. Für das Kommende haben wir sie nicht. We will need new maps as well as the courage and humor of travelers who won’t hesitate to stick their heads outside the sphere of the world-up-to-this-point, beyond the horizon of existing dictionaries and encyclopedias. I’m curious what we will see there.
Aber merkwürdig. Ausgerechnet das Menschengesicht scheint doch der letzte Halt im technischen Fluss der Dinge, den die Nobelpreisträgerin nicht bedenkt. Laut neuestem SPIEGEL nutzt etwa die Firma Apple seit Jahren „heimlich aufgenommene Fotos seiner Beschäftigten, um die Gesichtserkennung auf iPhones zu trainieren“. Man erschuf damit das Feature zwecks Entsperrung des Apple Telefons. Die bisher unbekannten Maßnahmen dazu wurden jetzt von einer Whistleblowerin mitgeteilt. Wenn schon nicht wir als sprechende und wahrnehmende Wesen, so soll eben doch wenigstens unser smart phone uns integral erkennen, als Sesam funktionieren.
27. Juni 2022 – Das Menschengesicht verwandelt
Wie mit einem Ruck zeugen zwei Nachrichten vom Ende des angeblich verlässlich menschlichen Gesichts. Die eine handelt vom Videogespräch der Regierenden Bürgermeisterin Giffey mit einem Mann namens Vitalo Klitschko, bekannt als Bürgermeister von Kiew. Erst nach einer Weile fielen ihr Ungereimtheiten auf, er sprach Russisch, obgleich er das Deutsche beherrscht, und er fragte nach Ukrainern, die sich angeblich in deutsche Sozialsysteme einschlichen. Es handelte sich um ein Deep Fake. Die FAZ schreibt: “ Bei diesem Videogespräch war ein eher winterlich gekleideter Klitschko zu sehen. Offenbar verwendeten die Betrüger Bilder oder Videoabschnitte, die aus dem April stammen könnten, und animierten das Material mithilfe eines ComputerProgramms neu. „Giffey sagte dem RBB, selbst Profis könnten nicht unterscheiden, ob sie mit der echten Person sprechen oder mit einem Fake. „Ich habe in hoher Auflösung das Gesicht von Vitali Klitschko gesehen, auch Gestik und Mimik waren da.“
Die zweite Nachricht stammt aus einem langen Artikel der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Erschienen in der amerikanischen Zeitschrift „Words Without Borders“, handelt er von der biomentalen Weltlage, die sie mit einem neuen Begriff beschreiben will: „Ognosia“. Demnach übernimmt das Prinzip Komplexität auf allen Ebenen des Lebens die Führung. „Es verändert sich durch die Klimakrise, die Epidemie, die Entdeckung der Grenzen wirtschaftlicher Entwicklung, aber auch durch unsere neuen Reflexionen im Spiegel: das Bild des weissen Mannes , des Eroberers im Anzug oder mit Safarihelm verblasst und verschwindet, an seiner Stelle sehen wir Gesichter, ähnlich wie sie Giuseppe Arcimboldo malte – organisch, hochkomplex, unverständlich und hybrid. Gesichter, die eine Synthese aus biologischen Zusammenhängen, Anleihen und Referenzen sind. Heute sind wir weniger ein Biont als vielmehr ein Holobiont, das heisst, eine Gruppe verschiedener Organismen, die in Symbiose zusammenleben.“ Betroffen davon sei vor allem das Modell der Heterosexualität. Das menschliche Geschlecht, schreibt Tokarczek, gleiche inzwischen eher einem „Kontinuum mit einer Bandbreite an Merkmalen […] als dem alten polaren Antagonismus mit den zwei Geschlechtern. Jeder kann hier seinen einzigartigen und eigenen Platz finden. Was für eine Erleichterung!“
26. Juli 2022 – Putins Pokern – Brüssels Bangen
Hat sich etwas verändert seit dem letzten Eintrag vor vier Wochen? Die Ukraine wird weiterhin beschossen, Menschen sterben und flüchten weiterhin, die Regierungen der westlichen Länder bemühen sich weiter um Waffenlieferungen und Flüchtlingsschutz. Und doch wurde ein neues Kapitel eröffnet. Die Ängste des Westens, besonders der Deutschen, steigen massiv durch die gasförmigen Erpressungen, mit denen Putin inzwischen operiert. (Sicher mit einem zynischen Seitenblick auf die Rolle des Gases im Zweiten WK). Zwar hat seit dem 21. Juli die Firma Gazprom die ersehnten Lieferungen durch Northstream 1 wieder aufgenommen, aber sofort wieder reduziert – angeblich, weil eine Turbine der Firma Siemens nicht funktioniert. Nun gibt es nur noch 20% der vereinbarten Menge. Unser Wirtschaftsminister Habeck muss die Bevölkerung anflehen, sparsam zu werden. Strom und Gas könnten demnächst rationiert werden, während die Inflation steigt und die hehren Ziele der Klimawende zerplatzen wie kindische Illusionen. Kohleförderung und Atomkraft kehren zurück; welch eine bittere Paradoxie, dass wir saubere und kühlere Luft nur mit ewigen Giftrückständen erkaufen können. Mit Recht bäumt sich die nächste Generation auf. Wird sie ihrerseits Kinder haben wollen, können, dürfen?
Vor ein paar Tagen wurden die 51. Römerberggespräche aus Frankfurt am Main vom April im Radio noch einmal rekapituliert. „Nie wieder Frieden?“ hiessen sie: „Der Ukrainekrieg und die neue Welt-Unordnung“. Gewichtige und erfahrene Teilnehmer hatte man eingeladen; das Gespräch begann mit dem erschrockenen Fazit von Karl Schlögel, der seine Generation – also auch sich selbst – des falschen Pazifismus beschuldigte; und es endete mit dem Referat von Nicole Deitelhoff, Leiterin des Hessischen Instituts für Friedens-und Konfliktforschung. Sie brachte bedenkenswerte Differenzierungen vor. Die Ohnmacht des Westens, der sich nicht in einen Krieg verwickeln will, aber doch immer mehr kriegswichtige Handlungen begeht, stammt, sagte Deitelhoff, aus den gefährlich „asymmetrischen Interdependenzen“ wie den einseitigen Abhängigkeiten der Nationen von Gas oder Kohle oder „seltenen Erden“. Deitelhoff liess erkennen, dass man unbedingt „Wandel durch Handel“ betreiben und erreichen müsse – aber eben durch richtigen , symmetrischen Handel, durch wahre Verflechtungen, die es keinem einzelnen Partner erlauben, unbeschadet auszusteigen. Genauer wurde sie nicht, denn noch kannte sie im April den neuesten Schachzug nicht. Putin zeigte sich vor wenigen Tagen einverstanden, die Getreidelieferungen der Brüderstaaten Russland und Ukraine wieder aufzunehmen. Auch Russland ist auf Einkünfte angewiesen, die ihm ja aus dem Gashandel fehlen. Ein Vertrag unter Aufsicht des türkischen Präsidenten Erdogan wurde unterzeichnet. Die Ukraine versprach, die Minen aus dem Hafen zu bergen, Russland versprach, Transportschiffe nicht anzugreifen. Tags darauf beschoss es ein Munitionslager in Odessa. Gleichzeitig wurde bekannt, dass Russland 2024 aus dem Programm der Weltraumstation ISS aussteigen wird. Wo bleibt die Verflechtung?
19. Juni 2022 – Alice und Alice
Zehn Tage sind vergangen – das Tauziehen um die Ukraine könnte auch enden. Die Erfolgsmeldungen des kleinen Landes werden nachdenklicher, selbst Niederlagen werden eingestanden und Opferzahlen preisgegeben. Der Coup der drei europäischen Regierungschefs – Macron, Scholz, Draghi – hat gemischte Gefühle hinterlassen. Man versprach Präsident Selenskiy eine europäische Anwartschaft – nachdrücklich zwar, aber mit Kautelen. Der Präsident bedankte sich überschwänglich: mehr als diese Aussicht auf einen EU Beitritt könne man momentan nicht verlangen. Aber Waffen allemal. Aber was löst es aus, dieses Versprechen? Nächste Woche sollen es die 27 Länder der EU einstimmig wiederholen. Bis dahin wird das rasende Kommunizieren alle Flecken auf der untadeligen Opferweste der Ukraine entdeckt haben. Korruption, mangelnde Gesetzgebung, nationalistischer Furor, und anderes. Entdecken wird man auch, dass die Regulatorien der EU selber noch stark verbessert werden müssen, sollten weitere Staaten aus Osteuropa beitreten wollen. Wie soll der Verzicht auf Einstimmigkeit einstimmig beschlossen werden?
Diese hochpolitische Dialogik hat die AfD heute geschickt genutzt. Sie beendete ihren Parteitag mit der Wahl von Tino Chupalla und Alice Weidel, sowie dem Beschluss: keine Waffen mehr an die Ukraine, keine Sanktionen mehr an Russland. Auch wenn man die Russlandnähe von mitterechts schon kannte: so explizite Kanzlerhilfe hätte man nicht erwartet. Denn hinter Scholz, den Zauderer, hat sich doch eine bürgerliche Mitte versammelt, angeführt von der EMMA Herausgeberin, mit ihrem Brief an den Regierungschef. Mit der Bitte um Masshalten, mit der Hoffnung auf Waffenstillstände. Heftig wurde das kritisiert, aber mehr als 300tausendmal unterschrieben. Auf dieses Pferd ist die AfD nun gestiegen. Alice Schwarzer und Alice Weidel traben voran.
17.Juli 2022 – Die Schlinge zieht sich zu?
Was hat sich seit dem letzten Eintrag verbessert? Oberflächlich doch einiges. Die EU hat einstimmig für eine EU Kandidatur der Ukraine gestimmt, man schickt weiter schwere Waffen und gestern sprach Selenskij in seiner wöchentlichen Videobotschaft davon, alle von Russland eroberten Gebiete zurückzuholen – womit er ja immer auch die Krim versteht. Offenbar wurde er inzwischen doch Oberster Heeresführer, obgleich dieser Titel bisher vermieden wurde. Auch hat er den offensiven Botschafter Melnyk abberufen – der dürfte froh sein, hatemails dürften ihn überschwemmt haben. Denn wahr ist: Putin hat einen voll sadistischen Dialog mit Deutschland eingeleitet. North Stream 1 wird gerade gewartet: am 21. Juli müsste er wieder ans Netz kommen – aber weiss man das? Regelrechte Panik war und ist die Folge. Alles wird auf den Prüfstand gestellt, die Sirenentüchtigkeit, die Einsparmöglichkeiten, weniger duschen, weniger waschen, abstellen der Nachtbeleuchtungen, sogar der Ampeln! – und daneben steigende Coronazahlen. Ist der Kriegsfall eingetreten?
9. Juni 2022 – Mohammeds Gesicht
Unter allen Tabus, die auf dem Schlachtfeld des Gesichts schon gebrochen wurden, ist das Darstellungsverbot Mohammeds noch immer irgendwie gültig und gefährlich. Trotz aller Karikaturen, trotz der Fatwa über blasphemische Dichter. Soeben gab es muslimische Proteste gegen den Film „The Lady of Heaven“, und einige Kinos nahmen ihn tatsächlich aus dem Programm. Es handelt sich um ein historisches Drama von 2021, verfasst vom „spirituellen Führer der Mahdi Servants Union“, belehrt uns wikipedia. Es ist offenbar der erste Film über die historische Figur der Fatima während und nach der Zeit des historischen Mohammed. Um den sogenannten „An-Ikonismus“ des Islam zu respektieren, wurden Lichteffekte zur Darstellung genutzt, als Gegensatz zu Schauspieler-Verkörperungen. Trotzdem lehnten die orthoxen Muslime, Shiiten und Sunniten das Ganze ab. Iran, Pakistan und Ägypten verboten die Ausstrahlung. Auch säkulare Kritiker waren unzufrieden. Wie auch immer: die vielverehrte Tochter des Mohammed ins Gedächtnis zu holen, ist ein Verdienst. Am Widerstand lässt sich ermessen, was der Feminismus in der muslimischen Welt noch zu leisten hat.
8. Juni 2022 – Kommunikatives Sittenbild
Manchmal blickt eine Zeitungsseite als Insektenauge vielfach facettierend auf die Gegenwart. So heute die FAZ, die wie immer Mittwochs besonders reichhaltig ist, auch wegen der Beilage zu „Natur und Geist“. Das Feuilleton stellt nebeneinander einen Roman von Sibylle Berg über unsere digitale Endzeitlichkeit; ferner eine altmodisch gründliche Studie von Christian Bermes als „Umschau der Meinungswelt“, daneben wiederum eine ernstgemeinte Satire auf die Plagiate der frisch nach Bonn berufenen Ulrike Guerot, die dort nicht nur einen Lehrstuhl bekleidet, sondern auch Leiterin des Centre Ernst Robert Curtius wurde, einem der früher höchst geachteten Philologen des europäischen Mittelalters. Allem voran steht die Nachricht, der deutsche PEN wolle sich mit 232 neuen Mitgliedern neu formatieren, bzw. erneut mit Deniz Yücel an der Spitze politisch agieren. Yücel war ja bei der letzten Mitgliederversammlung in Gotha im Mai als PENpräsident zurückgetreten. Theorie und Praxis, könnte man die Wahrnehmung dieses Insektenauges überschreiben. Zur Theorie gehören Roman und gelehrte Studie, zur Praxis die diversen Machtübernahmen und Pfründeschlachten. Die letzteren bilden Brücken oder Rutschbahnen zur sprachlosen Handgreiflichkeit oder gar zum Duell, wenn nicht zum Krieg, wie seit Monaten um die Ukraine. Auf der Medienseite dieser FAZ Ausgabe vom 8. Juni 2022 wird folgerichtig ein Artikel dem „Machtgefälle im Netz“ gewidmet: die Unterzeile lautet:“ Studie warnt ARD, ZDF und Deutschlandradio davor, den Vorgaben der Social-Media-Konzerne zu folgen.“ Diesen Konzernen, mit ihren lukrativen Plattformen, hat jüngst Joseph Vogl eine beissende Studie gewidmet. Deren Kritiker sollten die FAZ heute lesen.
5. Juni 2022 – Pfingstsonntag
Der Feiertag heute bringt neue Raketen auf Kiew – neue Nachrichten über die Gesundheit des Zaren Wladimir – neue Sanktionspläne aus der EU, also keine Aussicht auf Frieden oder Waffenstillstand. Gleichzeitig häufen sich in den USA die Mordanschläge in Schulen , von jungen Männern verübt. Angeblich lauter Ausländer. Joe Biden versucht verzweifelt, das waffenfähige Alter heraufzusetzen, Waffenverkäufe schärfer zu kontrollieren usw. Wie immer scheitern die Demokraten an der G.O.P. Mister Trump möchte lieber die Lehrer bewaffnen, die Schulen umzäunen, Wachposten aufstellen. Die Schule als Gefängnismodell? Jedenfalls als Goldgrube des Waffenhandels.
Im deutschen Bundestag wurde am Freitag der hundert Milliarden schwere Fonds zur Aufrüstung der Bundeswehr verabschiedet, zur Befriedigung fast aller Parteien. Nur die rechts- und linskextremen waren dagegen. Aufgerüstet werden auch die Sirenen im ganzen Land. Man erinnert sich an deren fatales Schweigen bei der Unwetterkatastrophe letztes Jahr im Ahrtal. Also verständlich, dennoch beobachtet man alles mit gemischten Gefühlen. Deutsche Aufrüstung vor hundert Jahren: gemeinsam mit der Sowjetunion, gegen die Auflagen des Versailler Vertrages. Man möchte nicht daran denken.
3. Juni 2022 – Das Pfingstfest in Kiew
Nein, der letzte Eintrag vom 21. Mai irrte. Präsident Selenskyi zeigt keine Ermüdung. Nach wie vor will er alle Gebiete zurückerobern, die Putin offenbar inzwischen gewonnen hat, angeblich rund 20 Prozent des ukrainischen Territoriums. Nach wie vor verlangt man eilig schwere Waffen aus Deutschland und glaubt Kanzler Scholz keine Absichtserklärung. Man tritt auf der Stelle – wie lange soll der Krieg dauern? Welche Ressourcen besitzt der Zar? Immer wieder wird die Zustimmung von etwa 71% der Russen zu diesem Krieg gegen ukrainische „Nazis“ zitiert; gleichzeitig verdammt die Gegenseite die russischen Nazis. Wäre nicht alles so bitterernst und blutig, man könnte sich diesen Streit, „wer ist der richtige Nazi unter Nichtdeutschen“, als Satire vorstellen. Man könnte beinah an Ernst Nolte erinnern, den ersten maßgeblichen deutschen Historiker des Faschismus, den ersten, der Kommunismus und Nazismus als zwei Seiten einer Medaille bezeichnete. Und leider nach dem erbitterten Historikerstreit unter Joachim Fest am rechten Rand verschwand. Was wird uns Pfingsten bringen?
21.Mai 2022 – Sich ergeben – Körpersprache des Krieges
Nun also gab es den ersten Akt einer Kapitulation: die Soldaten aus dem Stahlwerk von Mariupol haben sich ergeben, auf Anweisung aus Kiew. Hinter den Kulissen tauchen Waffenstillstands-, wenn nicht Friedenspläne auf, aus Italien an die Vereinten Nationen. Auch Selenskyi spricht offenbar von einer notwendig diplomatischen Lösung. Die Stimmen derer, die mit Armin Nassehi argumentieren und Verlautbarungen an Realitäten messen, werden deutlicher. Wieviel Blut ist geflossen, wieviel Lebenswelt zerstört, wieviel Gelände verloren und wieviel Nahrung weltweit verhindert und vernichtet. Wozu? Die Körpergeste des SichErgebens: tragisch demonstriert in uralter Formation. Der Weg ins Lager, in langen Schlangen erschöpfter Männer. Zuletzt hatten auch ukrainische Frauen um ein Ende des Krieges gebeten. Man kann nur hoffen, dass die Verlängerung des Kriegsrechtes um drei Monate durch den ukrainischen Präsidenten nicht umgekehrt als Ausrufung eines von Putin so peinlich vermiedenen Begriffs verstanden wird. Probleme lösen, indem man noch größere schafft – wessen Vernunft arbeitet so?
18. Mai 2022 – Krieg und Frieden im Offenen Brief
Zu dieser Fragestellung bringt die FAZ von heute eine sehr aufschlussreiche Glosse von Armin Nassehi, Soziologe und Kursbuch-Herausgeber aus München. Sein Blick auf die „Offenen Briefe“ der letzten Wochen gilt der „Debattenkonstellation selbst“, nicht den sattsam bekannten Fragen nach schweren (Kriegs-) oder leichten (Diplomatie-) Waffen. Die meinungsstarken Teilnehmer der öffentlichen Diskussion, sagt Nassehi, benehmen sich gerade wie ein „Schlachtenlenker“, der „die Parteien wie Zinnsoldaten verschiebt, damit der eine mit Gesichtswahrung und der andere mit einer Zukunftsaussicht auf die Lösung >kniffliger Fragen< herauskommen wird.“ Also eigentlich wie Romanciers. Tolstoi hat sich bekanntlich zum Ärger vieler LeserInnen tief in die damalige Militärstrategie von Franzosen und Russen eingearbeitet, aber das spätere, meist weibliche Publikum wollte nichts darüber lesen. Nein, sagt Nassehi, wirklich beurteilen kann man die gegenwärtige Lage nur „in der Echtzeit jener Handlungen und Kommunikationen, die konkret aufeinander Bezug nehmen„: also als dialogische Abfolge, gemessen an den jeweiligen „Ressourcen, Interessen und Möglichkeiten der konfligierenden Parteien.“ Klingt kompliziert – und ist es auch. Denn Nassehi erspart sich (jedenfalls hier) die grausame Tatsache, dass diese Kommunikationen in und mit vielfachen Instanzen spielen und keinem Beobachter wirklich gesamthaft zugänglich sind. Auktorial, wie die Literaturwissenschaft das nennt, kann wirklich nur der Dichter vorgehen. Kommuniziert wird aber politisch, medial und memorial. Also unter lebendigen Menschen, sei’s als Soldat oder als Diplomat oder als ziviles Opfer; also medial unter sprechenden oder schreibenden oder bildgebenden Erzeugern und Teilnehmern von Öffentlichkeit; und schliesslich memorial durch die existierenden und mitwirkenden Institutionen, also durch Kirche, Kultur und Wissenschaft. Alle drei Instanzen haben zugleich eine regionale und eine weltweite Dimension. Kein politisch Verantwortlicher ist heute in dieser Gemengelage zu beneiden; manchen aber fliegt plötzlich eine Schlüsselstellung zu, wie jenem russischen General, der unlängst vom Ende der russischen Armee sprach. Gibt es diesen Mann noch?
12. Mai 2022 – Die Öffentlichkeit schreibt sich Briefe
Wäre es nicht so bitter, man könnte den Schwall „Offener Briefe“ in unserer Gesellschaft hochinteressant finden. Alle schreiben wie wohlerzogene SchülerInnen an den Bundeskanzler. Die einen verlangen von ihm schwerste Waffen für die Ukraine, die andern wollen genau das verhindern. Wer hat recht? Auch die anderen europäischen und westlichen Länder sind uneins, viele denken wie Olaf Scholz bis vor ein paar Tagen: man muss die NATO berücksichtigen, man muss einen atomaren Erstschlag aus Russland fürchten, es könnte zu einem 3. Weltkrieg kommen. Die andern meinen, Putin könne nur durch massive militärische Aktivität zur Raison gebracht werden, mindestens die Verhandlungsbasis für die Ukrainer unter Präsident Selenskyi müsse derart verbessert werden.
Die Ukraine steckt aber selber in einem – bisher – unlösbaren Dilemma. Russisch erzogen sind die meisten älteren von ihnen, und damit eher orthodox. Die demokratische Wende, energisch seit 2014 betrieben, führt sie aber in eine säkulare demokratische Verfassung und Verfasstheit. Nun verlangt die Geschichte plötzlich unerhörten Opfermut von ihnen – als wären Demokratie und Menschenopfer nicht unvereinbar. So unvereinbar wie Demokratie und Krieg. Vereinbar sind Demokratie und Handel, Kriegführung durch Sanktionen steht auf der Waffenliste. Hat das Aufkommen autokratischer Regierungen etwas mit wachsendem Kriegswillen zu tun? Befeuert die Klimakrise den Sinn für Überlebenskämpfe, ergo auch Kriege? Der Appell an den Westen, wonach die tapferen Menschen genau für diesen Westen ihr Leben lassen, ist tragisch, gerade weil dieser Westen unkriegerisch konzipiert wurde.
30. April 2022 – Jürgen Habermas, Vater der „Kommunikativen Vernunft“
Zehn Tage Ukrainekrieg sind seit dem letzten Eintrag vergangen, mit unablässigen militärischen Handlungen, mit Opfern an Leib und Leben, mit Fluchtschicksalen, mit diplomatischer und medialer Hochrüstung. Kanzler Scholz hat die deutsche Zurückhaltung im Waffengeschäft – ein Programmpunkt der Grünen – so lange wie möglich verteidigt, letzte Woche ist er dann überstimmt worden. Nachdem nicht nur die beiden Ampelpartner, sondern auch die Opposition aus CDU/CSU für das Liefern von sogenannten schweren Waffen plädiert haben. Könnte man an die politische Einmut aller Parteien von 1914 erinnern, an das gemeinsame Ja zu Kriegskrediten? Schreckliche Vorstellung einer fehlenden Opposition gerade in so einer Situation.
Aber nun meldet sich immerhin eine ganze Reihe von Meinungsbildnern, die diese Rolle medial übernehmen, am eindruckvollsten wohl Jürgen Habermas in der SZ vom 29. April. Auf zwei ganzen Seiten breitet er die Einwände und Bedenken aus, die fast niemandem fremd sein können: kann man die Atomdrohung von Präsident Putin beiseite wischen, als Ausgeburt eines Wahnsinnigen? Kann man die Opferzahl nicht nur an Toten und Verletzten, sondern auch an Flüchtenden und Fürsorgenden durch Kriegshandlungen beliebig steigern, und sei es im Namen von Aufklärung und Humanität, unserem europäischen Ideenparadies? Kann man politische Einrichtungen wie etwa den Internationalen Strafgerichtshof für funktionstüchtig erklären, wenn Großmächte sie nicht anerkennen?
Habermas sieht hier überall rote Linien. Ihn irritiert „die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrene Bundesregierung auftreten“. Gemeint ist hier vor allem Anna Lena Baerbock, die eine Wende der Grünen zur Kriegspartei ermöglicht zu haben scheint. Habermas schreibt: „Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.“
Er hätte vielleicht auf die Bedeutung der riskanten Operation (schwere Waffen) für die Regierung Joe Biden verweisen können. Kein Thema kann in Washington derzeit so viel Einmut unter den streitenden Parteien erzeugen wie ein veritabler, physisch anzugehender Feind – besonders der russische. Im November will Biden wiedergewählt werden – bis dahin kann er sowohl mit der Waffenlobby als auch mit den human gesinnten Demokraten „Gutes tun“. Wenigstens muss er hier keine Massenvernichtungsmittel erfinden wie einst George Bush im Irak. Und er muss keine Soldaten opfern wie einst seine Vorgänger in Vietnam.
20. April 2022 – Grand Canyon des Dialogischen
Dieses Gelände haben wir offenbar gerade erreicht. Über das grausame Sterben des demokratisch herrschenden, staatsbürgerlichen Dialogs wird von Publizisten und Professoren nachgedacht, von Politikern inszeniert, von Künstlern nachgespielt, vom Publikum gruselfreudig betrachtet. Putin setzt soeben der Ukraine ein Ultimatum: Tod oder Ergebung in Mariupol. Der ukrainische Botschafter in Berlin verlangt ultimativ Waffen vom deutschen Kanzler. Boris Johnson will seine Abwahl durch Entschuldigungen verhindern. Elon Musk will den Kommunikationskanal Twitter kaufen, mit dem Trump seine Wahl 2016 gewann. Peter Thiel vom Silicon Valley will diesem zur Wiederwahl verhelfen zwecks Abschaffung der Demokratie. Heute abend will Marine Le Pen mit Emmanuel Macron ins entscheidende Fernsehduell treten. Sollte sie gewinnen – was viele für möglich halten – will sie die Verfassung ändern und populistische Referenden anstelle von Wahlen setzen. Alles steht zur Disposition.
13. April 2021 – Kampfmethoden statt Dialogformate
Bedrückend genau führen uns die Kriegshandlungen der letzten Wochen das Waffenarsenal der Gegenwart vor: ausser mit traditionellen Menschenkörpern und Maschinen, kämpft man um Hoheit, vulgo Sieg, durch digitale, informationelle, chemische , atomare und raumfahrtliche Manöver. Die ganze technoide Palette unserer gegenwärtigen Existenz schrumpft auf Kriegsgebrauch – während die eigentliche Herausforderung, der Klimawandel, im Pulverdampf verschwindet. Antirussische Sanktionen verhindern im selben Atemzug Vorsorgen gegen die Aufheizung der Atmosphäre, das Auftauen der Permagebiete, die Auslöschung der Arten, usw. Kann es sein, dass Moskau genau damit rechnet? Und damit zum Fürsprecher aller Autokraten wird?
10. April 2022 – Waffen wollen reden, nicht schweigen
Seit Tagen und Wochen rufen die Ukraine und ihre westlichen Freunde nach Waffen. Sanktionen bringen nichts, weil das russische Volk ausserordentlich belastbar zu sein scheint. Seine Geschichte kennt zahllose Beispiele diktatorischer Oppression, Entbehrungen, Menschenopfer aller Art. Das ukrainische Brudervolk der Russen lebt es nun aber vor. Es lässt sich verwunden, vertreiben, töten, um die Herrschaft des Rechts gegen die Herrschaft der Stärke, sprich: der Waffen, zu verteidigen. Es sind heldenhafte Opfer für den Geist Europas, sagen die Freunde, und versprechen täglich mehr Milliarden Hilfe. Wer wird diese Milliarden erhalten, auf welches Konto werden sie fliessen?
Auch die Kurden haben vor wenigen Jahren die (christliche) Welt heldenhaft und opferwillig gegen die islamistische Bedrohung verteidigt, freilich ohne substantielle Anerkennung durch den Westen. Warum gelingt es der Politik nicht, solche Mediatoren angemessen zu profilieren? Weil sie zwar Sprachen und Religionen haben, aber kein festes Territorium? Kriege handeln aber von territorialen Ansprüchen. „Volk ohne Raum“, der Slogan eines deutschen Schriftstellers namens Hans Grimm, versah die Mordlust der geschlagenen Deutschen mit einer archaischen Devise. Kann sie ein Selbstbild beschreiben? Welche psychoanalytische Kategorie würde sie treffen?
29. März 2022 – Postmodernes Glasperlenspiel
Gestern besprach Wolf Lepenies in der WELT ein Buch über die sogenannte Postmoderne, von Daniel-Pascal Zorn: „Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können“. Ein Abgesang auf eine intellektuelle Mode, der wir die ersten Wahrheitskrisen verdanken. Erinnern wir uns an das Drama um Alan Sokal? Der Physiker hatte 1996 einen Artikel im postmodernen Jargon an die renommierte kulturwissenschaftliche Zeitschrift Social Text geschickt. Es ging darin angeblich um eine „Transformative Hermeneutik der Gravitationslehre“. Der hoch naturwissenschaftliche Text wurde angenommen, aber von ahnungslosen Redakteuren, die nichts von Physik verstanden. Sie waren einem Hoax aufgesessen. Die Affäre zog damals weiteste Kreise und führte zur Gründung einer neuen Zeitschrift für Geschichte.
Das Buch von Zorn, schreibt Lepenies, endet „mit einer Vision, einer Beschreibung, was die Postmoderne hätte sein können. In einem kreisrunden, transparenten Glaspalast in der Antarktis haben sich acht Männer um einen Tisch zum Gespräch und Austausch der Argumente versammelt. Der Diskurswächter Habermas hätte von ‚herrschaftsfreier Kommunikation‘ gesprochen.“
Wer möchte nicht an Hermann Hesses Glasperlenspiel denken – und hat nun doch den grausig elliptischen Tisch in Putins Reich vor Augen?
28. März 2022 – Das Gespräch am Meere
Gestern wurde in der Berliner Akademie der Künste der Heinrich-Mann-Preis verliehen, diesmal an Lothar Müller, den langjährigen Redakteur von FAZ und SZ sowie Autor maßstabsetzender kulturhistorischer Bücher, zuletzt über Adrian Proust, den Vater des Dichters Marcel. In seiner Dankrede zitierte Müller eine eindringliche Szene aus Heinrich Manns Roman Henri IV: ein „Gespräch am Meere“ zwischen Montaigne und dem König. Eine zeitlose kommunikative Utopie – wie kann ein normaler, freilich sehr gebildeter Edelmann mit einem Monarchen sprechen und von diesem gehört werden? Es geht um die Schrecken der Bartholomäusnacht von 1573, die Heinrich Mann 1938 als Mahnmal aufruft. Der Monarch lässt sich tatsächlich etwas sagen und sucht nach Frieden. In der Geschichte des Dialogs spielt Montaigne eine herausragende Rolle. Seine Essais wurden schon zu Lebzeiten gleichsam Drehbücher für Selbstgespräche, sie haben von ihrer Tiefe und ihrem colloquialen Reiz nichts verloren.
Hat Putin einen Montaigne neben sich? Nein, der Mann heisst leider Dugin und predigt „eurasische Taten“. Wollte man Putin wirklich eine abartig böse Taktik unterstellen, so wäre es der Versuch, Millionen „westlich verdorbener“ Ukrainer in den Westen, am liebsten nach Deutschland zu treiben – wo ebenso viele Russlanddeutsche leben. Werden sie sich verbrüdern? Oder – da ja mehrheitlich Frauen und Kinder kommen – verschwistern? Die Auslassungen des ukrainischen Botschafters lassen Böses ahnen.
20. März 2022 – Der Informationskrieg
Heute im Tagesspiegel ein Interview des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen. Er vergleicht die beiden informationellen Lager Putin und Selenskyj. Der eine ein Meister der symbolischen Interaktion, der Social Media, plus eigener Theaterkompetenz; der andere ein Meister der militärischen Realkompetenz, verbunden mit „Informationssmog“, also unaufhörlicher Desinformation. Es gibt also ein „Gegeneinander von militärischer und medialer Macht – und zwei Parallelrealitäten, die die Wahrnehmung prägen; die Wirklichkeit des Krieges und die der Kommunikation.“ Pörksen sieht beide gegenläufig: während Putin sein Volk zunehmend informationell einkesselt – wie die ukrainischen Städte!- , versucht Selenskyj sämtliche Weltparlamente zu erreichen. Pörksen folgert, die “ Implosion des Putinschen Propagandagebäudes ist unvermeidbar„, es wird eine „immer schärfere Drangsalierung von Protestierenden und ein grausames Endspiel um die Macht im Kreml“ geben, „mit unabsehbaren geopolitischen Folgen“.
Das mag natürlich alles sein. Aber warum fehlt hier die ganz reale Weltpolitik, die Diplomatie, die UNO? Gehören diese Kommunikationen etwa nicht in den medienwissenschaftlichen Horizont? Was bedeuten die zahlreichen Telefonate der Staatschefs Macron, Biden, Erdogan, Scholz mit diesem russischen Präsidenten, diesem Freund des chinesischen, dem eigentlichen Weltherrscher? Sind die Telefonate nur lästige und politisch unergiebige Szenen für das weltweite TV Publikum oder sind es nicht vielmehr letzte Versuche der westlichen Welt, die Übermacht der asiatischen – der euroasiatischen – abzuwehren?
17. März 2022 – Das „Wortduell“
So nennt heute das Handelsblatt den jüngsten Austausch zwischen Joe Biden und Vladimir Putin. „Das Grauen in der Ukraine, das bereits drei Millionen Menschen in die Flucht trieb, führt zum direkten Duell zwischen Vladimir Putin und Joe Biden. Alle Zurückhaltung ist weg. „Biden nennt Putin einen Kriegsverbrecher, Putin behauptet, der Westen woll Russland zerschlagen und abschaffen. Viele Länder hätten sich „damit abgefunden, mit gebeugten Rücken zu leben, aber Russland wird sich niemals in einem so erbärmlichen und gedemütigten Zustand befinden. „In wenigen Minuten will Volodymyr Selenskyj eine Videonachricht an den deutschen Bundestag richten.“
Nachtrag vom 20. März: Selenskyj hat also gesprochen, eindringlich, beschwörend und kritisch gegen die Bundesrepublik. Alle Initiativen seien zu spät gekommen, besonders die frühen und lauten Warnungen vor dem Unternehmen Northstream 2 nicht ernst genommen und überhaupt Putins Abgleiten in den Hass – siehe die Krim-Annexion – nicht verstanden worden. Die Rede wurde mit anhaltendem Beifall der Abgeordneten eröffnet und mit einer würdigen Rede der Bundestagspräsidentin Göring-Eckard eingeleitet. Aber danach gab es keine Diskussion des Parlamentes – Anlass zu wiederum heftiger Kritik sowohl intern als auch medial. Welche Bedeutung hat dieser Auftritt vor dem Hintergrund des „Wortduells“ von Biden und Putin?
12. März 2022 – Das wahre Gesicht des Krieges
Gespenstisch in jeder Hinsicht waren die letzten beiden Monate mit dem Überfall der Russen auf ihr Brudervolk, die Ukrainer. Angeblich wollte Putin dieses Kernland der russischen Föderation heim ins Reich holen, wie Hitler gesagt hätte. Um dieses Plagiat zu verschleiern, behauptet Putin, er müsse in Kiew Nazis vertreiben – einen jüdischstämmigen Präsidenten entmachten oder besser wohl: töten. Wie teuflisch.
Nun gibt es also eine ungeheure Übermacht mit mehr als 150tausend Soldaten und einer modernisierten Flotte einerseits, und ein kleines Land mit 40 Mio Einwohnern, aber wild entschlossenem Widerstand andererseits. Während alle Welt aus pandemischen Gründen Masken trägt, hat Putin die Maske der Zivilität fallen lassen: das hässliche Gesicht des Krieges, mit brutalen Morden der Zivilbevölkerung, tritt nackt heraus. Und fordert die westliche Welt zur Reaktion. Noch trägt diese westliche Welt die Maske des Händlers – mit ihren schneidenden Sanktionen. Niemand will einen dritten Weltkrieg in Europa. Aber der Diktator droht mit Atombomben – ist es wirklich nur Bluff, wie Selenskij meint?
10. März 2022 – Zum ewigen Frieden: Kant lesen
In der heutigen Ausgabe der ZEIT steht ein Interview mit Volodymyr Selinskij. Er schildert die Angriffe des übermächtigen Gegners und die Verteidigungen seines kleinen Volkes. Er weiss, dass er sich ohne die Hilfe der großen internationalen Militärbünde wird unterwerfen müssen, aber noch ist er dazu nicht bereit. Er verlangt weiter Waffen und wirtschaftlich erdrückende Sanktionen. Vielleicht ahnt er, dass die Welt ihm entsetzt und begeistert bei seinem Heldentum zuschaut, auch mitfiebert, aber er will nicht aufgeben. Das Heldentum verlangt freilich das Opfer des Volkes, weniger das des Helden. Niemand hat diesen entsetzlichen Kampf um das Verhältnis von Recht und Gewalt illusionsloser analysiert als Immanuel Kant in seiner Schrift über den „Ewigen Frieden“ von 1795-96.
Zu dieser Szene passt der Bericht in der WELT über die andauernden Telefonate des französischen Präsidenten Macron mit dem Diktator. Martina Meister berichtet, dass es seit dem 14. Dezember 2021 fünfzehn Gespräche gab, zuletzt am vergangenen Sonntag. Dass man nicht schießt, wenn man miteinander spricht, hat Putin falsifiziert: es wurde geschossen. Seit Beginn der Kriegshandlungen gab es vier Telefonate, erfolglose. Da Putin kein Französisch und Macron nicht Russisch spricht, braucht man Übersetzer, das verlängert den Austausch um das Doppelte, erleichtert aber die Protokollierung. Der Eindruck bleibt, wonach Putin die Videoschalte nur zu Propagandazwecken benutzt oder schlicht, um sich über Macron zu amüsieren. Dieser wiederum könnte die Protokolle des Austauschs teils für seinen Wahlkampf nutzen, teils aber auch als Dokumentation für den Internationalen Gerichtshof.
9. März 2022 – Der Melierdialog
Gymnasiasten älteren Jahrgangs kennen in aller Regel die bahnbrechende Geschichte vom Krieg zwischen Athen und Sparta vor rund zweieinhalbtausend Jahren in der Darstellung von Thukydides, einem Zeitgenossen. Das 5. Buch handelt vom Kampf der athenischen Staatsmacht gegen die Insel Melos. Diese kleine Insel wollte sich der Übermacht nicht ergeben, wurde aber schliesslich bezwungen und vollkommen zerstört. Ihre Schutzmacht Sparta wollte nicht beistehen. Thukydides schildert diese Szene in einem berühmten Dialog, zwar fiktiv, aber blendend analytisch. Es geht um die Fragen von Macht und Recht, Neutralität und Parteilichkeit, Hoffnung und Illusion, letztes Aufbäumen und schliessliches Ende. Die Parallelen zur aktuellen Lage der Ukraine sind frappierend. Aktuell scheint der ukrainische Präsident sich mit der Zurückhaltung der NATO abzufinden, der geforderten Neutralität zuzustimmen, die Provinzen Donezk und Luhansk als autonom anzuerkennen ebenso wie die Zugehörigkeit der Krim zu Putins Russland. In jedem Fall verlangt er einen Dialog mit Putin.Wird es ihn geben?
3. März 2022 – Gespräch unter Feinden
Anders konnte es wohl nicht kommen. Putin zerbombt seit Tagen die Ukraine – diese Ukraine sucht Schutz bei der EU – Friedensgespräche mit Russland werden unter dem unverdienten Namen an geheimen Orten geführt, während die Infrastruktur des Landes zersplittert. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel ist der Autor der Stunde. Bereits 2015 veröffentlichte er ein Buch „Entscheidung in Kiew“, über den Maidan- Aufstand und die Okkupation der Halbinsel Krim: das Modell für die gegenwärtige „Rückholung“ eines ganzen Landes. In jahrelanger Reiseforschung hat Schlögel die geschichtsträchtigen Städte erlaufen und beschrieben: Kiew, Charkiv, Odessa, Mariupol, Lemberg, und viele mehr. Damals standen sie noch unversehrt. Heute muss man sie nachlesen.
Immer deutlicher wird der Bauplan jene Kulturtechnik namens Dialog, die in diesem Tagebuch seit vielen Jahren beobachtet wird. Dieser Bauplan gleicht einem von unten zerbröselnden Baum, obgleich die rasante Ausdifferenzierung der technischen Medien eigentlich seine Blüte simuliert, vergleichbar den genealogischen Bäumen mit starkem Stamm und zahlreichen Nachkommen. Den Zerfall beschleunigen Hass und Lüge auf der untersten sozialen Ebene, am Stammtisch, in der Familie, unter Freunden und erst recht Feinden. Auf höherer Ebene spielen sich Duelle aller Art ab, zwischen Medien, Institutionen, Ländern und Kontinenten. Vor zwei Tagen wurde nun noch ein letzter Dialog auf der obersten Ebene verlangt: zwischen Putin und Joe Biden. Ist er noch denkbar? Könnte er die Kulturtechnik „heilen“?
24. Februar 2022 – Nun also Krieg
So sieht er also aus, der Zusammenbruch der Gesprächswelt, das Ende der internationalen Diplomatie zwischen Ost und West. Grausam und sekundenschnell zeigt es der Ticker von n-tv: Putins Blitzkrieg gegen die Ukraine von drei Seiten und aus der Luft, und dazu den heldenhaften Kampf der Ukrainer gegen ihn, verlassen von aller Welt, wie sie sind. Sie schiessen zurück, sie fliehen, sie verlieren ihre Liebsten, sie sterben. Zwar sieht und hört man noch emsige Betriebsamkeit bei NATO, EU, G 20 und G 7 und in den präsidialen Büros – aber wann werden die viel beschworenen, angeblich einmütigen Sanktionen wirken? Ein verwundeter Bär wird tobsüchtig. Dass sich Putin an Hitlers Kriegsführung inspiriert, ähnlich wie Donald Trump (der soeben Putins Aktion lobte), hat sich herumgesprochen. Aber wie reagierte die deutsche Wehrmacht auf ihre Niederlage, kam sie willig und eilig mit weissen Fahnen herbei? Absolut bedrohlich ist Putins Besitz von Atomwaffen und unheimlich die Geschwindigkeit, mit der vor wenigen Stunden das giftige Tschernobyl von den Russen erobert wurde. Dort hat man nach 1986 man tödliche Strahlen einbetoniert. Wehe, wer diesen Sarg öffnet.
23. Februar 2022 – Dialogende- Kriegsbeginn?
Die Welt zittert nach der Rede Wladimir Putins. Den Dialog mit dem Westen (Minsk Format) hat er erbittert beendet, in der Pose des Imperators; einen Krieg hat er raffiniert angebahnt. Um nicht einmarschieren zu müssen, wurden die beiden ukrainischen Provinzen Luhansk und Donetzk zu „Volksrepubliken“ erklärt und mit diesen ein Bündnis geschlossen. Einlaufende Soldaten wären nurmehr Hilfstruppen. Aber gegen wen? Enigmatisch wird ein Einsatz „im Ausland“ erwähnt. Die West-Ukraine beginnt mit einer „Teilmobilisierung“ und Wehrübungen der zivilen Kräfte.
In der FAZ von heute wird der Vergleich mit dem Münchner Abkommen 1938 gezogen. „Man tut Putin nicht unrecht, wenn man beim Namen nennt, mit wem er sich in der Wahl seiner Mittel gemeinmacht“, also mit Hitler, schreibt Patrick Bahners. Sein Kollege Simon Strauss dagegen findet in dieser Szene nur „ein Ringen zwischen zwei Zeitrechnungen. Der eine glaubt an die imperiale Idee, die andern orientieren sich am Paradigma der Kommunikation.“ Zweierlei Leserschaft will man ansprechen – die Alten und Gebildeten, die sich an das desaströse Hitler- Handeln erinnern samt allen Folgen; die Jungen, die doch garnichts anderes kennen als Kommunikation, allenfalls Streik, ergo Bürgerkrieg. Man sah es in Frankreich, im Kampf der Gelbwesten, man sah und sieht es heute in Kanada, mit den Truckfahrern, die ein fatales Exempel statuieren.
Der jetzt angezettelte „Bürgerkrieg“ zwischen Ukrainern im Osten und Ukrainern im Westen hat wohl keine Analogie. Er wurde infam ausgeheckt.
20. Februar 2022 – Statt Dialog: Schachspiel oder the Great Game
Einmütig ratlos zeigen sich die westlichen Mächte, die das Schachspiel nicht erfunden haben. Schon vor Jahren zeigte eine Karikatur Putin als einsamen Schachspieler vor acht Gegnern: offensichtlich erfolgreich. Die Medien attestieren ihm gerade einen paradoxen Erfolg: Einmütigkeit der acht, jedenfalls solange die Sanktionen nicht öffentlich präzisiert wurden, solange Northstream 2 immer noch für möglich gehalten wird. Abenteuerlich ist diese dialogische Spielform am Rande des Krieges: der US Geheimdienst verrät uns einen genauen Einmarschtermin, der Tag verstreicht in Ruhe, Putin kann höhnen. Die Nerven von Millionen Menschen liegen blank. Hat man Putin falsch eingeschätzt?
Gespenstisch die Situation der Münchner Sicherheitskonferenz: kommt es zu einem München 1938? Ziemlich sicher wird niemand eine Besetzung der Ukraine mit Waffengewalt verhindern, niemand wird dies Land in der NATO sehen wollen, obgleich man dem Land freie Bündniswahl attestiert. Kann man diplomatisch eine neutrale Ukraine errichten?
18. Februar 2022 – Dialog – Zerfledderung und Zermürbung – Krieg?
Die Woche endet mit dramatischen Beratungen. Moskau hat als Antwort an die NATO schriftlich die Machtgrenzen vom Jahr 1997 zurückverlangt und, statt Truppen zurück zu ziehen, eine neue „Übung“ mit Atomwaffen vorgestellt. Unter diesen Drohgebärden beginnt heute die Münchner Sicherheitskonferenz mit 35 Ländern, ohne russische Teilnahme. Gleichzeitig will Präsident Biden erneut mit den wichtigsten westlichen Ländern die Lage beraten.
Was geschieht hinter der Bühne? Ist die Pipeline Northstream 2 der eigentliche Zankapfel? Frau Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, vertritt die Interessen ihres Landes. Die Pipeline garantiert Arbeitsstellen und Sicherheit. Aber jetzt hat sich Frau Schwesig zu einer Operation abgemeldet. Was denkt ihr Stellvertreter?
Der EuGh hat die ungarisch-polnische Klage gegen den Rechtsmechanismus der EU abgewiesen. Auch Donald Trump hat eine juristische Niederlage erlitten. Sein langjähriger Steuerberater will die Richtigkeit der letzten Jahresabschlüsse nicht mehr garantieren. Auch den Prozess um die Akteneinsicht in Sachen Kapitolerstürmung am 6. Januar 2021 hat Trump verloren. Der Untersuchungsausschuss muss und kann jetzt tausende von mails studieren. Gottes Mühlen mahlen langsam aber fein, hiess es früher.
15. Februar 2022 – Der größte Nervenkrieg
Der neueren Weltgeschichte dürfte sich vielleicht dem Ende nähern. Seit dem 31. Dezember, also seit sechs Wochen, spielen Russland und USA das „chicken game“: wer zuckt zuerst, wer verliert die Geduld und sündigt mit Blutvergiessen. Die Europäer laufen unter dem Netz herum und mischen sich ein: Macron, der seine Wiederwahl garantieren möchte; Olaf Scholz, der sich mit dem inzwischen dämonischen ExChef namens Gerhard Schröder arrangieren muss. Die Schweiz will wie immer Russland stützen. Die Polen stehen aufseiten der USA . Ungarn aufseiten Putins. Aber auch China!
Das archaische Muster der griechischen Tragödie: zwei Protagonisten und ein Chor. Oder doch ein Stierkampf, mit diversen Hooligans. Nein: es ist moderner. Seit gestern steht eine Aussage des ukrainischen Botschafters (London) im Raum: man müsse erwägen, die NATO als Traumziel der Ukraine zu definieren, nicht als unmittelbares PolitProjekt. Der Schwarze Peter wandert also nach Kiew, zu Wolodymyr Selinskyj. Auch andere Vereinbarungen aus dem Minsker Abkommen klagt Putin bei ihm ein. Er hat zweifellos die besseren Karten. Fortsetzung 14 Uhr 40: Er könnte wie die EU auf dem Buchstaben des Gesetzes resp. der Vereinbarung beharren. Tatsächlich berät der EuGH gerade eben die Klage von Polen und Ungarn gegen die Brüsseler Verdrahtung von Menschenrechtswahrung und Finanzhilfen.
Gestern wurde Alexander Kluge neunzig Jahre alt. Kein deutscher Autor ist so dialogisch, so vielsprachig/-schichtig wie er. Könnte er nicht in diese Verhandlungen eingreifen?
6. Februar 2022 – Dialogue Inside PEN
Dialogkrisen gibt es wahrhaftig auch anderswo. Der deutsche PEN arbeitet sich, wie alle deutschen Kulturvereine, momentan an den socialmedial erzeugten Hass- und Hetzreden, AfD Sympathien und sonstigen (inländischen) Extremismen ab. Als Tochter der englischen Gründung: „Poets, Essayists, Novelists“ vom 5. Oktober 1921 hat diese Organisation inzwischen ehrwürdig weltweite Verbreitung zum Schutz der freien Meinungsäusserung erfahren. Die Aufnahme von Journalisten hat dieses Ziel entschieden politisiert. Und darum geht es auch jetzt wieder, inländisch, und in einer fast bürgerkriegsähnlichen Atmosphäre. Soll man die tausendfachen Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen akzeptieren, auch wenn dort gegen alle Regeln verstoßen wird? Soll man mitwirkende Vereinsmitglieder deshalb strafen oder gar ausschliessen oder genügen die eigenen Satzungen zur Abmahnung? Die Fragen stehen im Raum. Die Antworten hängen in der Luft.
Ein Blick nach Amerika könnte unser Bewußtsein schärfen, in welcher historischen Blase wir uns hier eigentlich befinden. PEN America verbreitet wöchentliche Newsletter zum Thema Free Speech weltweit; ferner einen jährlichen Freedom to Write Index; sowie eine Writers at Risk Database, um die fraglichen Fälle detailliert zu verfolgen. Der amerikanische PEN hat sich mit dieser enormen Kontrolle auf die erbitterte Konfrontation mit jenen politischen Parteien eingestellt, die seit der Trump-Regierung die bekannten, Demokratie erschütternden Falschaussagen legitimieren wollen. Zuletzt vor zwei Tagen mit der Behauptung, der Sturm aufs Kapitol vom 6. Januar 2021 gehöre zum „legitimate political discourse“. Womit also die jetzt verhafteten Teilnehmer des Mobs bei einem Trump-Wahlsieg 2024 mit ihrer Begnadigung rechnen können, weshalb sie und ihr Umfeld ihn schon jetzt, bei den Zwischenwahlen, wählen werden. Falls nicht der Supreme Court hier einschreitet.
Dass es bei uns jemals zu einer solchen Entgleisung der Verfassung kommen könnte, mag man sich nicht vorstellen. Aber was heisst hier „man“? Offensichtlich gibt es einen trumpistischen underground auch hierzulande. Er ist großenteils wissenschaftsfeindlich, wenn nicht rechtsextrem. Trumpistisch: Der Ausdruck hat auf Anhieb nichts mit Nazitum zu tun, wohl aber mit der geschickten Verwendung hitleristischer Motive durch Trump. Der Sturm auf das Kapitol hatte sein Vorbild im Marsch auf die Münchner Feldherrenhalle von 1923 (und natürlich in Mussolinis Marsch auf Rom 1921). Eine mächtige Fälschungs-Legende hatten wir ebenfalls nach 1918 – es war die fixe Idee vom Verrat der eigentlich sieghaften deutschen Armee durch die sozialdemokratische Heimatfront. Man nannte sie „Dolchstoßlegende“. Hitler konnte nicht zuletzt mit ihr gewinnen. An „Ermächtigung“ arbeitet Trump jetzt wie besessen – wie man sieht, hat er sich die Grand Old Party fast vollständig unterworfen. Was aber würde sein Sieg im Jahr 2024 bedeuten? Welche Politiker warten hierzulande und in Brüssel darauf und welche DemonstrantInnen?
2. Februar 2022 – Nervenkrieg ohne Ende
Seit dem 11. Dezember 2021 erleben wir den Nervenkrieg, nein: das Nervenduell zwischen Putin und Biden, mit der EU als Sekundantin von Biden und Victor Orban als trumpvertretender Putinfreund. Seit Dezember weiss man, dass sich mit den gepeinigten Statisten (= den russischen Soldaten und Soldatinnen sowie der westfreundlichen Ukraine ) ein Showgeschäft der dritten Art angebahnt hat: nichts konkretes soll passieren, jedenfalls kein offener Körpereinsatz, ausser sogenannten „Gesprächen“ : in einer gezoomten Sprache, im virtuellen Dialog aller möglichen Formate. Tödlich soll es allenfalls mit Drohnen zugehen, strukturlähmende Cyberangriffe sollen lanciert werden. Der Übergang aus der irdischen Körperwelt in das Metaversum von Mark Zuckerberg wird von Putin bewerkstelligt?
23. Januar 2022 – „die Phase des ehrlichen Dialogs“
Haben wir womöglich hinter uns gelassen, sagt Nina Chruschtschowa im neuen SPIEGEL, im Rahmen eines aufrüttelnden Interviews mit ihr und mit Masha Gessen und Sabine Fischer. Drei berufene KennerInnen der Lage. Vor Putins Drohungen an der ukrainischen Grenze ist die westliche Welt im Aufruhr. Wie soll man auf den Aufmarsch von hunderttausend Soldaten reagieren? Das Interview ist ungemein informativ. Putins Beschwörung imperialer Größe, eine Droge für seine Bevölkerung, Putins Sorge um sein Fortleben in den Geschichtsbüchern, alles wird detailliert erörtert. Vielleicht will er nur den Donbass mit inzwischen 600 000 „Russen“ vereinnahmen so wie zuvor die Krim. Nina Chruschtschowa meint: das wäre ein Auslöser aller möglichen westlichen Maßnahmen. Man will die MaidanSzene von 2014 nicht wiederholen.
16. Januar 2022 – Gesichtswahrungsmaßnahmen
Die dramatische Szene um die Ukraine, Putins Aufmarsch von hunderttausend Soldaten an ihrer Grenze und die harte Forderung nach Sicherheitsabsichtserklärungen des Westens: eine gespenstische geopolitische Fantasie steht im Raum. Putin will sein „Gesicht wahren“ – als Erbe der alten Sowjetunion und Verwalter von großräumlichen Jalta-Vereinbarungen. Was mit der Krimbesetzung begann, soll mit der Ukraine nun fortgesetzt werden. Noch bildet die Sprache das eigentliche Schlachtfeld: Diplomatie wie auch Technik simulieren Dialoge, dabei steht alles bereit zum Duell. Oder fast alles. Deutsche Fachleute und Publizisten beklagen den schlechten militärischen Zustand unserer Bundeswehr. Sie ermahnen die Bundesregierung brieflich zu härterem Vorgehen: aber was stellt man sich vor, wer sucht den Krieg?
8. Dezember 2021 – Der Quellcode als Gesicht
Man muss sie schon fieberhaft nennen, die Streitigkeiten um das menschliche Gesicht, angefangen von den Kunstgriffen der Medien über die der pharmazeutischen, kosmetischen Industrie bis hin zu religionsdogmatischen Maßnahmen (Burka). Man kann das aber auch anders deuten: Längst sind wir vielleicht Subjekte und Zeugen einer biologischen Wende, eines Evolutionsgeschehens. Mit Recht hat die Zürcher Linguistin Angelika Linke vor kurzem bemerkt, dass zum fanatischen Streit um das Gendern, auch der um das geschlechtlich unsichere Empfinden einer erstaunlichen Zahl von Menschen gehören; man kann dazu setzen, auch die Demonstrationen für oder gegen die Abtreibung, für oder gegen künstliche Befruchtungen mit Leihmüttern und -vätern. Offenbar ändert sich der Modus unserer Fortpflanzung. Eine „deep biology“ navigiert uns – eine vielleicht vom Klimawandel erzwungene Umgestaltung des Menschenkörpers oder ihre Vorwegnahme?
Schon die Coronamaske hat längst ein Weltgesicht erzeugt, dem wir möglicherweise auf Jahre hinaus nicht mehr entrinnen können. Was bereitet sich vor, hinter dieser Maske, die unsere Mimik stark einschränkt und feinste Nuancen auf die Augenpartie verschiebt? Eine garnicht mehr unterirdische Begleiterscheinung ist doch der shift von der visuellen zur akustischen Kommunikation. Die Weltgesellschaft kommuniziert mehr und mehr über Töne und Laute, Podcasts und clubhouses, allemal über youtube. die gesprochene, gesungene oder gerappte Sprache überwältigt die Schrift mit unabsehlichen Konsequenzen. Denn gerade über die Stimmlichkeit haben wir ja längst auch den Robotern Eintritt in unsere Sozialwelt gestattet: angefangen vom Navy im Auto bis zu Siri oder Alexa auf dem Sofatisch. Zum Genossen Roboter in Coronazeiten passt aber der Genosse Mensch mit einem QR Code. Beim Eintritt wo auch immer zeigen wir heute unser Digitalgesicht – und der Verkäufer betrachtet und entziffert es mit dem Auge des smartphones. Die menschliche „wetware“ hat anorganische, ergo unsterbliche Stellvertreter erhalten. Ein Roboter betrachtet den andern. Mehr dazu demnächst.
30. Oktober 2021 – Facebook adé – Meta ante portas
Seit dem letzten Eintrag am 6. Oktober verging viel Zeit – und die Aktivität der Whistleblowerin Frances Haugen hat gewirkt. Sie hat Facebook zu Fall gebracht. Unglaublich. Erleben wir gerade das Ende einer Epoche? Mark Zuckerberg kündigt jedenfalls eine dramatische Zäsur für Facebook an. Aus dem „Gesichtsbuch“ wird ein „Jenseits“buch. Statt „Facebook“ heisst das Unternehmen jetzt „Meta“. Oder „Meta-Versum“ – statt „Uni-Versum“.
Die Öffentlichkeit hat das Unheimliche daran noch nicht ganz erfasst. Unheimlich ist der Größenwahn bei alldem. Unheimlich ist aber auch die neue Geschäftsidee dahinter. User sollen demnächst mit virtueller Realität versorgt werden, mit Brillen, die ihre Träger in andere Welten versetzen. Man soll Inhalte nicht mehr betrachten oder lesen, sondern in Inhalte einsteigen. Was soll damit gemeint sein? Für deutsche User bietet „Meta-Verse“ rein sprachlich etwas altbekanntes, nämlich das, was auf deutsch „Zweites Gesicht“ heisst, also Visionen evoziert. Hellseherei, „zweite Gesichter“, wurden in Europa Ende des 19. Jahrhunderts zur Modeerscheinung. Im Umfeld der Psychoanalyse, der Hypnose, der Theosophie, gab es Geistererscheinungen, Jenseitswelten, die schliesslich zu Kunst und Weltanschauung gerinnen konnten. Hilma af Klint, die schwedische Malerin, schuf hunderte von Gemälden nach ihren Visionen; Rudolf Steiner, ihr Prediger, stiftete dazu die „Anthroposophie“: Weisheitslehre des Menschseins. Dieser Lehre folgt die Partei der Grünen seit langem; mit ihr bekämpft sie das „Anthropozän“: = die Epoche höllischer Unweisheit im Handeln der Menschheit. Ab morgen tagt im schottischen Glasgow die große Klimakonferenz, deren Ergebnis über das Fortleben unserer Spezies entscheiden soll. Hat Zuckerberg seine Bekanntmachung passend dazu datiert?
6. November 2021 – Sprechende Pferde, „Viehsiognomik“
Heute sprach Clemens Setz, der diesjährige Büchnerpreisträger, denkwürdig über Büchners „Woyzeck“ von 1836, genauer: über das Pferd des Marktschreiers in der Szene „Bude. Lichter. Volk.“. Den Auftritt sollte man original lesen. Der Marktschreier gibt Unterricht in animalischer „Viehsiognomik“. Er unterrichtet sein Pferd im Rechnen, ergo im Denken. Er zeigt den Zuschauern: Das Tier ist „ein verwandelter Mensch“. Aus dieser Szene entwickelt Setz seine Rede. Umstandslos kommt er auf den Nachfahren des Marktschreiers, auf den bekannten Tierpsychologen der Jahrhundertwende, Karl Krall. Krall kaufte den berühmten „klugen Hans“, das rechnende Pferd, dazu noch zwei arabische Vollblüter und widmete sich dem Dialog mit der Kreatur. Die Tiere lernten nicht nur rechnen, sondern sprechen, nach Art eines Morse-Alphabets. Setz artikulierte die Wörter hingebungsvoll, vor allem auch die „Äusserungen“ der beiden Araber.
Krall wurde europaweit bekannt. Er schrieb ein Kapitel der Populärwissenschaft, die Intellektuellen suchten ihn auf. Doch 1916 musste er die Pferde an das Heer abliefern. Was aus ihnen wurde, ist nicht bekannt. Doch in den 1960er Jahren begann in den USA das große Experiment mit Menschenaffen, vor allem dem Schimpansenmädchen „Washoe“. Die Verhaltensforschung reagierte begeistert, als es gelang, mittels Gebärdensprache einen Dialog mit dem Tier herzustellen. Gegner des Experiments meldeten sich natürlich auch – zuletzt sogar der bekannte Autor TC Boyle, der nur Tierquälerei in der Fragestellung entdecken will. Clemens Setz dagegen sieht die Liebe zur Kreatur.
6. Oktober 2021 – Facebook Super Gau
Seit gestern taumelt die größte Internetfirma, das „Gesichtsbuch“ unserer Epoche, auf einen Abgrund zu. Eine Mitarbeiterin namens Frances Haugen hat nach zweijähriger Anstellung gekündigt, tausende von Unterlagen mitgenommen und der Öffentlichkeit übergeben. David gegen Goliath: ist kein Vergleich. Dieser David ist weiblich , Harvardabsolventin und entschlossene Aktivistin für eine bessere Welt. Vor dem Kongress sagte sie gestern: „Die Dokumente, die ich weitergegeben habe, beweisen, dass Facebook uns wiederholt darüber getäuscht hat, was seine interne Forschung über die Sicherheit von Kindern, seine Rolle bei der Verbreitung von Hetze und polarisierenden Botschaften und so viele andere Dinge enthüllt.“ FAZ von heute.
Die Zeitung bringt auch ein interessantes Interview mit ihrem Anwalt John Tye. Dieser Anwalt hat seit 2016 die Verteidigung von whistleblowern zum Geschäft gemacht. Er hofft auf Belohnungen, die er mit den Aktivisten teilen könnte, hat aber nach eigener Aussage bisher nicht wirklich damit reussiert.
Die erste Wirkung der Anhörung gestern war stundenlanger Ausfall nicht nur von Facebook sondern auch Whatsapp und Instagramm. Angeblich war es ein technischer Fehler, dessen Korrektur stundenlan dauerte. Man könnte auch denken: in Silicon Valley wurden fieberhaft belastende Unterlagen gelöscht. Tausende von Kunden haben inzwischen Facebook verlassen.
22. September 2021 – Erschiessung wegen Maske
Seit vorgestern entsetzt sich die deutsche Dialogwelt über einen Vorgang in Idar-Oberstein, Rheinland-Pfalz, von Malu-Dreyer regiert. Als hätte es in ihrem Land mit der apokalyptischen Überschwemmung im Frühjahr nicht genug Unheil gegeben, erschoß jetzt ein 49jähriger Mann einen 20jährigen Tankstellen-Kassierer (Student), weil dieser ihn zum Tragen einer Maske anhielt. Es war keine Affekttat – vielmehr fuhr der Mann nach einem ersten Streit nachhause, holte eine Pistole, kehrte zurück und verwickelte den Kassierer erneut in einen Wortwechsel über das Maskentragen – um dann zu schiessen. Der Dialog mündete ins tödliche Duell. Noch weiss man zu wenig über den Täter in U-Haft. Angeblich wollte er „ein Zeichen gegen die Corona Politik“ setzen. Ein Zeichen? Nein, Rache eines Querdenkers. Querdenker sind verkappt suizidale Lemminge. Jetzt aber doch in Aufruhr, denn man wird ihnen keinen Verdienstausfall mehr bezahlen – sie könnten sich ja impfen lassen.
6. September 2021 – Deep Fake
Vom Neandertal zum Silicon Tal: die SZ berichtet heute von der albtraumartigen Fazial-Technik namens „Deep Fake“. Die HochleistungsHardware einer Firma namens NVidia vermag Menschen derart täuschend echt nachzubilden, dass selbst nahe Menschen die Fälschung nicht bemerken. Die Folgen sind abgründig. Man könnte Personen in Kontexten auftreten lassen, die sie nie erlebt oder erstrebt haben. Man könnte ihren Leumund ruinieren, ihre Arbeit vernichten. Selbst Stimmen lassen sich inzwischen täuschend echt nachahmen – das Todesurteil etwa für Synchronsprecher. Den höllischen Gipfel bildet momentan offenbar eine Firma namens „Hour One“, die Menschen dazu animiert, ihre Gesichter mit Copyright zu verkaufen. Man muss dafür nur einer Aufnahme zustimmen. „Wenn man die resultierenden Daten in eine KI-Software einspeist, kann die Firma daraus eine schier endlose Menge an Videomaterial erzeugen, in dem die entsprechende Person in jeder beliebigen Sprache sagt, was sie will.“ Eine Goldgrube der Werbeindustrie – und ein Lohnverhältnis des Verkäufers mit sich selbst. Brutaler lässt sich das Ende des Selfie-Taumels nicht inszenieren.
4. September 2021 – Mrs. Ples, Alter 2,1 Mio Jahre
Das vorzüglich renovierte Bonner Landesmuseum beherbergt nicht nur den ersten Neandertaler, gefunden 1856 in der Nähe von Düsseldorf. Seit 1877 steht er im Raum, inzwischen rekonstruiert mit ziemlich menschlichen Zügen, nicht zu wulstigen Augenbrauen, nicht zu dicken Lippen oder vorstehendem Kinn. Der Fund entfesselte seinerzeit bekanntlich einen Sturm der Entrüstung. Das sollte eine Spielart des homo sapiens sein, sogar sein Vorfahre? Der damals berühmteste deutsche Mediziner, Rudolf Virchow, bestritt es fanatisch. Er hatte damals gerade zusammen mit Heinrich Schliemann Skelette in Troja ausgegraben, also aus dem 2. Jahrtausend v.Ch., – und überlegt, ob diese alten Griechen nicht eigentlich Germanen wären. Die Rassenkunde war längst zur Elitenkunde geworden. Ein Affe konnte unmöglich im Stammbaum stehen.
Das Landesmuseum beherbergt aber noch ganz andere Vorfahren, wie etwa Mrs. Ples – ein Spitzname für den „Plesianthropos“, ein vielleicht weiblicher Schädel mit dem geschätzten Alter von ca. 2 Mio Jahren. Vergleicht man sie mit andern vormenschlichen Köpfen in dieser Sammlung, so fallen die starken Kinnpartien auf. Sie verraten die Pflanzenfresser, die starke Muskeln brauchten, um Gras und Blätter stundenlang zu kauen. Wer das Weltgesicht unter der Maske von heute betrachtet, könnte die Wiederkehr dieser Kinnpartie im Profil erkennen. Die Menschheit im Rückbau?
27. August 2021 – Und wieder Burka und Turban
Seit einer Woche tobt ein politischer Sturm um den Abzug der US Truppen aus Afghanistan. Präsident Biden musste und wollte den Prozess abschliessen, den sein Vorgänger Trump im Februar 2020 eröffnet hat. Eine Abmachung mit den Taliban, ohne Beteiligung der afghanischen Regierung. Eine Entmachtung zudem, die den Taliban freie Hand im Umgang mit den tausenden von Kollaborateuren der NATO gab. Welche Generäle waren damals beteiligt, welche sind noch unter Biden im Amt, welche sind Republikaner? Ihnen allen – wie der ganzen GOP – kann das Schlingern des demokratischen Präsidenten nur recht sein. So auch den Freunden der verhüllten Köpfe und Gesichter. Burka wird wieder Frauen- , Turban wieder Männerpflicht in Afghanistan. Zu schweigen von der Rückkehr der Frauen ins Mittelalter, vom Ikonoklasmus und Musikverbot. Wer weiss, wieviele Attentäter in den letzten Tagen in Nato- Länder ausgeflogen wurden – in größter Hetze. Wurden die 40tausend geretteten Personen gebührend untersucht? Ihre Auffanglager werden unter Joe Biden jedenfalls nicht Guantanamo heissen.
15. August 2021 – Das böse Weltgesicht
Es musste ja kommen, die Beobachtung der maskierten Weltgesichter durch die Neue Zürcher Zeitung. Nun also durfte hier der prominente Peter Weibel aus Karlsruhe eine Ausstellung kommentieren, „Antlitze“ heisst sie, stammt vom deutschen Künstler Jürgen Klauke und zeigt montiert alle möglichen Gesichtsverhüllungen im Kachelmuster. Welch groteske Anlage, wenn man dahinter die Kachelmuster der gegenwärtigen Zoom-Konferenzen erkennt, mit der sich die Weltgesellschaft ja gerade eben vor Corona rettet. Grotesk daher auch die Schlagzeile der Zeitung: „Das menschliche Gesicht ist in der Krise. Denn mit der Pandemie hat sich die gesichtslose Gesellschaft ausgebreitet, die uns zu virtuellen Verbrechern macht.“ Welche Macht bis zum tiefsten Unsinn haben Schlagzeilenredakteure in Zeitungen? Plötzlich merkt man, wie wohltuend die neue Podcast Kultur doch ist. Sauber artikulierende Stimmen – kein Gebrüll.
4. August 2021 – Helmut Plessner, Philosoph des Leibes
Schon oft konstatiert und fortwährend erlebt wird der zeitgenössische Trend zur Quantifizierung des Daseins. Alles und jedes wird heutzutage in Zahlen gespiegelt und damit eigentümlich vernichtet, mindestens entseelt. Rekorde ebenso wie Katastrophen liefern einen neutralen Mehrwert der Zählbarkeit, die wiederum eine trügerische Aufsicht auf unser Leben schafft, eine Hierarchie zwischen Maximum und Minimum. Das Gegenteil dieser Perspektive hat Oswald Spengler als „Physiognomik“ bezeichnet, als Wahrnehmung von Gestalten in Raum und Zeit. Epochen, Länder, Ereignisse haben demnach „Gesichter“ – irreduzibel in ihrer Einmaligkeit, so wie Namen irreduzibel zur Einzelperson gehören. Oder zu einer Handelsmarke. Oder zu einem Adelsgeschlecht. Oder zu einem Sternbild. Und so fort. Namen und Gesichter sind nicht quantifizierbar, bleiben hartnäckig Qualität.
Man könnte auch an den Hype der modernen „Singularitäten“ erinnern, eine Begriffsfindung des Soziologen Reckwitz, aber Welten liegen zwischen Spenglers Weltgesicht und den Singularitäten mit Facebook. Beide Denker sind gleichweit von einem dritten entfernt: Philosophen Helmut Plessner, einer der eindringlichsten „Gesichtsphilosophen“ des 20 Jahrhunderts. Und warum? Weil er das Gesicht nicht als Markenzeichen behandelte, sondern als Organ. 1941, also vor achtzig Jahren, erschien seine bahnbrechende Studie über „Lachen und Weinen“ mit dem Untertitel „Eine Untersuchung der Grenzen des menschlichen Verhaltens“.
7. Juli 2021 – Gesichtsvergesslichkeit
In der FAZ erfahren wir von den neuesten Forschungen zur grassierenden Vergesslichkeit im Alter, der sogenannten Gesichtsblindheit. Joachim Müller-Jung schreibt: „Jeder Fünfzigste erkennt andere Menschen überhaupt nur mit Mühe oder gar nicht. Prosopagnosie heisst das im Medizinjargon …“ Dabei gelingt Wiedererkennen doch mehrheitlich. In der älteren Forschung sprach man von „Großmutter-Neuronen“, die jetzt auch im Hirn gefunden wurden, „tief unten im Schläfenlappen bei Experimenten mit Rhesusaffen…“ Man entdeckte ein vielversprechendes Areal, „das auf vertraute Gesichter extrem schnell reagiert. … Speist sich die Erinnerung an das Gesicht zudem noch aus einer leibhaftigen Begegnung, feuert dieser Nervenverbund sogar dreimal so stark wie nach Ansicht virtueller Gesichter auf dem Bildschirm.“ Genau das haben wir alle ja immer vermutet. In diesen Tagen wird auch über die enormen Defizite der Schulkinder berichtet, die nun ein Jahr oder länger digital unterrichtet wurden. Bis zu 40% Lernverluste werden beschrieben.
27. Juni 2021 – Androide sehen dich an
Mary Shelley steht mit Frankenstein am Anfang dieser Geschichte. Deutsche Filmfrauen heute zeigen die Sache subtiler, mit Darstellung von androiden Partnern: Maria Schrader in „Ich bin dein Mensch“ und Sandra Woller in „The Trouble with Being Born“. Der „Mensch“ namens Tom ergänzt eine Archäologin, das Automatenkind namens Elli befriedigt Pädophile. Der eine mit strahlenden, das andere mit leblosen blauen Augen.
Gibt es auf diesem Level human akzeptable Ergänzung, gibt es Befriedigung? Optimierende Algorithmen haben längst Einzug in unsere Welt gehalten, real, wie in japanischen Spitälern und Hotels, aber auch literarisch, performativ und nun also auch filmisch. Nur wer die winzigen Etappen zu diesem Ziel vergisst, kann erschrecken. Nahezu unser ganzer Körper lässt sich doch inzwischen erneuern, Zahn um Zahn, Nase, Hüfte, Hand und Fuss, selbst Augen, und immer so fort. Unsterblichkeit rückt grenzwertig in den Blick, das Geschäft der Bildhauer wird zur Ich-Funktion. Hier hatte und hat Facebook eine tragende Selbstbild-Rolle. Aber auch das Gegenteil stimmt: wer heute gepeinigt von „Umvolkung“ spricht, meint nicht Flüchtlinge sondern Roboter, versteht es aber erst bei der Kündigung.
13. Juni 2021 – Bohrende Gesichtserkennung
Wagenbach hat eine neue Buchreihe begründet: „Digitale Bildkulturen“, kleine Bändchen von rund 80 Seiten, über nahezu die ganze Kunstgeschichte – aber eben noch viel mehr. „Gesichtserkennung“ von Roland Meyer etwa umfasst pragmatische Aspekte zwischen Selfies und Überwachungstechnologie. Meyer nennt, welche Komplikationen einer verlässlichen Erkennung individueller Gesichter im Weg stehen. Die Algorithmen brauchen möglichst viele Daten, also Aufnahmen im Netz, um ein Gesicht in allen denkbaren Situationen identifizieren zu können: weinend oder lachend, bei Licht und Schatten, kosmetisch bearbeitet oder anders frisiert oder gar nur halbseitig dargestellt. Erwiesen wurden zuletzt auch die rassistischen Voreinstellungen der Software: schwarze Gesichter werden signifikant schlechter erkannt , also öfter verwechselt, als weisse.
Meyer plädiert daher mit vielen andern für einen Stopp im Gebrauch des maßlos einschneidenden Werkzeugs. Face detection ist ja inzwischen das Herrschaftstool par excellence. Schon im 13. Jahrhundert gab es ausformulierte Anweisungen an die europäischen Fürsten, wie Untertanen physiognomisch – auch stimmlich – einzuschätzen wären. Damals ging es um typische Merkmale, wie auch heute noch bei Bewerbungsgesprächen. Aber heute sucht man vor allem nach individuellen Gesichtern im täglichen Leben, im Berufsverkehr, im Sport, vor allem bei massenhaften Demonstrationen. Die Massen werden mit Drohnen überflogen, gescannt und anschliessend durchsucht, wenn nicht schon Satelliten aus dem Weltall diesen Dienst tun. Dass unser Auge zum stärksten Organ der Welterkenntnis von und nach oben würde – wer hätte es je gedacht?
27. Mai 2021 – Das Gesicht der Schweiz
Schon öfter war hier die Rede von Schweizer Gesichtern. Kein Zufall, stammt doch der eindrücklichste Autor zu diesem „unterhaltsamen“ Gebiet aus Zürich. Johann Kaspar Lavater, der Zeitgenosse und glühende Verehrer von Goethe, schrieb tausende von Sätzen über faziale Menschenkenntnis , als Pfarrer geradezu Gesichts-Seelsorger im doppelten Sinn. Eine helvetische Spezialität im 21n Jahrhundert war dann wieder der Streit um die Burka, nirgends heftiger als hier, wo die wenigsten Burkaträgerinnen leben.
Nach einer Doku gestern im 3sat Programm steht fest: dem Gesicht geht es in der Schweiz so gut wie nirgends. Denn pünktlich zum Abbruch der EU Verhandlungen am 26. Mai lief ein Werbefilm für die schweizerische kosmetische Medizin. Eine einschlägige Praxis mit freundlichen Ärzten war Schauplatz für zwei ältere Schweizerinnen. Die eine wollte ihr Doppelkinn, die andere ihr hängendes Lid verbessern. Alles lief nach Plan. Die Eingriffe wurden ziemlich echt, mit Schnitten und Blut gezeigt – dann aber auch die große Freude danach. Beide Frauen waren überglücklich, wie vom Arzt versprochen.
Zwecks Doku Format wurden ein paar Zahlen beiläufig eingeblendet: etwa 90tausend OPs jährlich werden in der Schweiz durchgeführt; meistens an Frauen, meistens am Brustumfang. 12500 SF kostet momentan allein ein unteres Facelift. Aber wieviel Geld wird mit Botox verdient? Doku-kompatibel durfte zwischendurch eine ältere, unverschönte Ethikprofessorin öfter nach dem Sinn dieser Altersvermeidung fragen. Eindrucksvoll eine jüngere, hübsche Frau, die eine Botox-Behandlung ablehnte, weil sie mimisch lebendig bleiben wollte. Was folgt daraus? Vergessen wir nicht, im Berufsleben arbeitet schon eine Gefühlserkennungsmaschine – siehe den letzten Eintrag.
3. Mai 2021 – Die Maske in der Kunst, die Kunst der Maske
Was für ein Glück für den Diskurs und diese Gesichtsrundschau! Die Gerda Henkel Stiftung hat heute die beste Kennerin der Maskenkunst zum Interview geladen. Eine Stunde spricht Christian Kruse, Professorin für Kunst- und Bildwissenschaft an der Muthesius Hochschule in Kiel, zur Geschichte von Maskierung und Entlarvung, von Ästhetik und Mode und von humaner Interaktion: im Bann der Kultur wie auch im Bann der Pandemie. Wer an diesen fesselnden Ausführungen interessiert ist, sollte L.I.S.A. aufrufen, das Wissenschaftsportal der Stiftung.
Was für eine Fülle an Assoziationen erweckt dieser kunsthistorische Parcours! Wir erinnern uns doch: bevor es wirklich ernst wurde mit dem Sterben, mit Bildern überfüllter Spitäler, Patienten im Beatmungsmodus, panischer Distanzierung, mochte man ja noch spielerisch mit dem Kleidungsstück umgehen. Die arabischen Modisten haben es ja vorgemacht, Niqab aus Tausendundeiner Nacht tauchte ins Bild. Dann die vielen selbstgemachten Stoffmasken aus alten Männerhemden oder Blusen. Die paarigen Masken für Ihn und Sie. Die Masken passend zum Kostüm oder Abendkleid. Ja, das gab es alles, aber eigentlich eher nur im Westen. Aus den asiatischen Ländern drang unaufhaltsam das heutige Weltgesicht, der medizinische Notfall durch. Heute regiert es uns fast alle, schwarz oder weiss.
Mit Recht wird im Interview gefragt, ob der Phänotyp des maskierten Menschen wohl auch von der Kunst als Motiv entdeckt werden wird. Ich bin sicher. Das Zwischenglied zwischen medizinischem Alltag und Kunst wäre ja das Theater und der Film und überhaupt die gesamte Comic Kultur. Lauter Bühnen der Maskierung und De-Maskierung. Ein großes Thema. Welche Gesichter die Regisseur:innen der Zukunft uns zeigen werden, wie diese Gesichter wiederum als Video ins bewegte Bild überführt werden, welche Masken die gaming Kultur bereithält im Übergang zum Roboter: einiges davon habe ich hier ja schon öfter erörtert. Und auch meine pessimistische Vision: die FFP2 Masken bilden formal eine Schnauze und keinen Mund mehr ab. Eine Evolution ist im Gange.
18. April 2021 – Emotionserkennungsoftware
Andrew Lewis Huang , geboren am 8. April 1984 in Kanada, ist ein kanadischer Musiker, Videoproduzent und eine sogenannte „YouTube- Persönlichkeit“. Von ihm stammen “Song Challenges“ Videos in Serie, zahllose Alben und Singles und musikalische wie visuelle Experimente. Im März 2020 brachte er es auf mehr als 2 Millionen Abonnenten. Hier kommen wir in die eigentlichen Weltdimensionen der social media. Eine seiner Arbeiten von 2007 heisst „Doll Face“: “A machine with a doll face mimics images on television screen in search of a satisfactory visage. Doll Face presents a visual account of desires misplaced and identities fractured by our technological extension into the future.”
youtube verzeichnet für dieses Thema über 12 Millionen Besucher. Interessiert hat sich letztes Jahr auch die Kulturabteilung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung: unterwegs zur fazialen Analyse. Nichts liegt heute näher. Die Wahrnehmung unserer selbst schwankt ja gerade zwischen Maschine und Tier, man denke an Heinrich von Kleists Parabel vom Marionettentheater. Soeben berichtete die FAZ vom 14. April von einem Experiment, das wie eine Antwort auf „Doll Face“ wirkt. Versuchspersonen können an der Cambridge Universität Selfies anfertigen, deren Mimik von einer facedetectionsoftware analysiert wird. Die Idee stammt von Paul Ekman, dem Erfinder der fazialen Analyse. Das Selfie wird nun dem Schema der sechs Emotionen zugeordnet, die Ekman für universal hielt – ein fazialer Klassismus eigener Art. Ekmans System soll Emotionserkennung garantieren, nicht einfach nur Identität. So findet man Lügner heraus, oder Attentäter, oder Frauen in Not. Ekman wurde schon immer kritisiert, nun hat er eine neue radikale Kritikerin namens Lisa Feldman Barrett.
Nach ihrer Meinung gibt es “schlicht keine hinreichenden wissenschaftliche Belege dafür, dass die Gefühlslage einer Person aus ihrem Gesicht abzulesen sei.“ Hoffentlich lässt sich die Emotionserkennungssoftware noch verhindern. In der Wirtschaft wird sie leider längst angewandt, um Bewerber zu klassifizieren.
31. März 2021 – Roboter umarmen, dalli dalli
Während sich unsere Gesprächskultur täglich mehr kannibalisiert, hat der faziale Diskurs wohl schon das Endstadium erreicht. Eine Publikation aus dem Berliner Haus der Kulturen heisst „Haut und Code“ und will menschliche Haut mit digitalen Screens gleichsetzen. Die Autor*innen erzeugen in ihren Auslassungen angeblich „ein interdisziplinäres Rauschen zwischen Oberflächenstrukturen und punktuellen Vertiefungen: Oberflächen, Häute und Interfaces werden verletzt, vermessen, verändert oder geheilt.“ Was für ein intellektueller Wahnsinn herrscht hier? Welche community spricht in dieser Weise miteinander und worüber? Soll eine tastbar technische Fläche als Haut betrachtet werden?
Leider passt dazu der eben erschienene Roman von Kazugo Ishiguro „Klara und die Sonne“, in dem ein Mädchen von ihrer Mutter einen Roboter gegen die Einsamkeit geschenkt bekommt. Und noch besser passt dazu ein Artikel von Melanie Mühl heute in der FAZ. Sie beschreibt die Fortschritte der Robotik: speziell der Sexpuppen aus Japan, wie in dem Film“ Hi, AI – Liebesgeschichten aus Japan“ :„Etwas Gruseliges, Unwirkliches umgibt Sexroboter wie Harmony, eine blonde, devot sprechende Puppe mit vollen Lippen und blauen Augen“. Diese Puppen sollen inzwischen mehr sein als erotische Spielzeuge, vielmehr „ein Gegenüber. Ein Versprechen, dass Liebe nicht weh tut.“
Humanoide Roboter werden längst weltweit sprachlich und bewegungstechnisch raffiniert. Manche können den Kopf bewegen, zwinkern, lächeln, englisch oder chinesisch sprechen. Die Besten sind enorm lernfähig. Je mehr man sich mit ihnen unterhält, je mehr Details sie von dem user erhält, desto näher kommen sie ihm im Gespräch, der user fühlt sich verstanden und vergisst das Künstliche. Auch die Haut fühlt sich echt an, es gibt Augenbrauen aus Echthaar, Sensoren für Gänsehaut und vieles andere.
Die Geschäftsidee selber wurde 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelt, in Gestalt von „Eliza“, einem Computerprogramm mit eingebautem Wortschatz. Man simulierte damit eine psychotherapeutische Gesprächssituation. Es stellte sich heraus, dass die meisten Menschen nicht an die Künstlichkeit des Gegenübers glauben mochten, wenn auch nur ein paar Sätze menschenähnlich klangen und der Robot die richtigen Antworten gab. Sie fühlen sich verstanden. Weizenbaum war betroffen, dass sogar manche Psychotherapeuten selber eine Roboter-Therapie für möglich hielten. Zwei Jahre nach Weizenbaums Tod 2010 erschien ein Dokumentarfilm „Plug & Pray“ zu diesem Thema.
8. März 2021 – Weltfrauentag im Gesicht
Gestern stimmten die Eidgenossen wieder einmal über Burka und Niqab ab: diese für uns so befremdliche Frauen-Maske der islamischen Welt. Alle Argumente Für oder Wider sind längst und seit Jahren ausgetauscht. Die Feministinnen haben sich mit den Konservativen (der SVP) verbündet: zusammen sind sie stark. Sie wissen, dass Frauen unter Mohammed und seinen Jüngern unterdrückt und gefoltert werden. Sie wissen, dass man ihnen mit Weltmacht en gros helfen muss, wenn auch nicht en detail. Rund 30 Frauen tragen momentan in der Schweiz eine Burka auf der Strasse, also öffentlich. Da sie glaubensmäßig nicht ohne Burka nach draussen dürfen, müssen sie theoretisch nun immer im Haus bleiben. Auch reiche arabische Touristinnen werden die Schweiz nicht mehr aufsuchen. Man könnte folglich – wie im österreichischen Zell am See – verarmen.
Bescheidene Frage: Könnte man nicht auch mal in Deutschland abstimmen, wo momentan alle drei Tage eine Frau durch Mord oder Totschlag endet? Leben wir in der frauengerechteren Kultur?
28. Februar 2021 – Die FacebookBrille
Sollte noch jemand am Übergang von Facebook zu Face DetectionBook gezweifelt haben, gab es gestern die Nachricht im GUARDIAN dazu.
„Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sitzen in einer Bar und ein unheimlicher Fremder versucht ständig, Sie anzusprechen. Sie ignorieren ihn. Am nächsten Tag erhalten Sie eine SMS von diesem Fremden. Er kennt nicht nur Ihre Telefonnummer, er weiß auch, wo Sie wohnen, er weiß sogar alles über Sie. Die Person hatte nämlich eine Facebook-Brille auf, verstehen Sie? In dem Moment, in dem sie in Ihre Richtung geschaut haben, hat die Brille Sie über die Gesichtserkennungstechnologie identifiziert.
Dies scheint genau die Art von Black Mirror-esque Zukunfts-Facebook, auf die wir gewartet haben.“
Nicht wahr, George Orwell feiert soeben seine Wiederkunft im deutschen Sprachraum mit acht neuen Übersetzungen: doch bis zu so einer Überwachung Face to Face ging seine technische Phantasie allerdings nicht. Für eingefleischte Dialogiker deutscher Sprache ist es aber ein Schock. „Von Angesicht zu Angesicht“ heisst eine der frömmsten Formeln unserer Kirchengeschichte. Nur ein Peter Sloterdijk könnte jetzt lässig einwerfen: naja, Gott hatte eben immer schon eine Face DetectionBrille auf der Nase, hat immer schon in den Grund unserer Seele geschaut. War das nicht gerade ein Baustein des autoritären Charakters, von Adorno/Horkheimer erkannt? Wovon schwärmen die Querdenkerinnen mit offenem Gesicht Face to Face Viren ausströmend?
19. Februar 2021 – Faziale Hinrichtung
Vorgestern zeigte der Sender arte eine Doku aus der Schreckenskammer der deutschen Physiognomik. Es ging um den berüchtigten Fall Bruno Lüdke, jenen mindergeistigen Mann, den abgefeimte Kriminalisten der 1940er Jahre für achtzig Morde an Frauen verantwortlich machen wollten. Aus Mangel an Beweisen wurde er schliesslich getötet. Ein Skandal der Polizeigeschichte unter Hitler – aber nicht nur unter ihm. Nach 1945 gewann die Schauergeschichte an Fahrt, die Medien griffen sie auf, der SPIEGEL berichtete durch Robert Augstein, Robert Siodmak verfilmte sie 1957 unter dem Titel „Nachts wenn der Teufel“ kam.
Niemand bezweifelte die Ermittlungen. Mario Adorf spielte damals den armen Teufel, als der sich Bruno Lüdke endlich erwies. Im Film sieht man ihn im Archiv Dokumente studieren: reumütig darüber, dass er offenbar einen unschuldigen Menschen als abartigen Verbrecher ins öffentliche Bewußtsein gebrannt hatte. Susanne Regener und Axel Doßmann *haben den Fall penibel rekonstruiert. Was die Kriminalbeamten eigentlich antrieb, war blanker Rassismus. Nur weil der Mann angeblich aussah, als ob er hätte töten können, wurde weiter ermittelt. Sein Körper, sein Kopf, die Hände wurden schliesslich vorbildliches Lehrmaterial. Das unentwegt rassistisch angeheizte physiognomische Räsonnieren der NS Bürokratie hatte jede Menschenvernunft zum Schweigen gebracht.
*Axel Doßmann/Susanne Regener, Fabrikation eines Verbrechers. Spector Books Leipzig 2018
7. Februar 2021 – weiter mit der Burka
Noch einmal zum feministischen Burka-Artikel der NZZ von vorgestern. Frauen im Burkagewand, schrieb Autor El Ghazzali, werden von ihren Glaubensverwandten bestraft, unterjocht, entmenscht, symbolisch beerdigt. Wir setzen hinzu: Nicht grundsätzlich so vom säkularen und gebildeten Westen. Im österreichischen Zell am See etwa hat das Zusammenleben mit Musliminnen ganz gut funktioniert. Waren es genügend wohlhabende Touristinnen? Nein oder nicht nur. Gerade die Toleranz gebildeter Aktivisten ist El Ghazzali ein Ärgernis. Er spricht von der Ächtung der Frau durch „linken Kulturrelativismus“ und „Ethnopluralismus der Rechten“. Dahinter flackert also der Schrecken der Kolonialdebatte.
Denn das Thema selbst ist doch an sich ausdiskutiert. Dass der Mensch nur da wirklich Mensch sei, wo man ein blankes Gesicht erkennt, Mimik und Stimme – mit dieser idealistischen Verirrung dürfte man keinen verschütteten oder entstellten Menschen aus den Trümmern eines Krieges oder Erdbebens retten. Auch unsere hoch raffinierte kosmetische Chirurgie könnte man kritisieren: denn wessen Gesicht kommt aus dem OP? Und vor allem: was geschieht gerade mit unserem Corona Weltgesicht? Der Maskenzwang gilt ja momentan gerade in staatlichen, bürokratischen Kontexten: in den Schulen, den Ämtern, sogar auf den Strassen. Maskentragen hängt von der Situation ab – genau wie im Karneval. Zum politischen Werkzeug taugt das nackte Gesicht einfach nicht. Es ist das Zentralorgan der Sozialität.
Eine einzige Ausnahme ist die Gesichtserkennung. Man studiere die Technikgeschichte der face detection. Die gehobene Kriminalistik seit der Frühen Neuzeit braucht nackte Gesichter. Und man studiere die Rolle des Gesichts in den USA, vor allem unter dem Berater Paul Ekman (*1934), dem Spezialisten für faziale Lügenerkennung. Ekman wirkte angeblich beim Aufbau des home ministry nach 9/11 mit. Er gab vor, jeden Lügner bei der Einreise sofort aufgrund fazialer Züge erkennen zu können. Mohamed Atta, der Pilot der Todesmaschine von 2001, konnte 2001 unerkannt mit blankem Gesicht in die Kamera schauen. Nicht auszudenken, wenn Donald Trump seine Obsession mit fake news von Paul Ekman bezogen hätte. Dessen Blockbuster „Lie to me“ lief 2009-2011 und brachte ihm weltweiten Ruhm.
6. Februar 2021 – Corona Lippenstift, gibt es!
Die letzte Ausgabe der Financial Times Weekend hatte eine Mode-Beilage: sehr schick: „Back to Basics. What we want to wear now?“ Eine dichte Seite 45 berichtete über neue Lippenstifte – “The Hottest Red Shades For All-day Wear”.
Werbung musste wohl sein bei 49% Umsatzrückgang – „no parties, no office and no hot dates , what was the point? The eye was hailed as the feature du jour, the focus retrained to the place that remained on view above a mask. … It felt tragic. And desperately unnecessary. “ Beatrice Hodgkin erinnert dann aber an den Lippenstift der Soldatinnen im 2. Weltkrieg als Farbe der Verteidigung. „Hitler hated it“, weiss sie. Und spricht dann von Alexandria Ocasio-Cortez, der demokratischen Favoritin von 2020. Sie trug im Wahlkampf Stila’s Stay All Day Liquid Lipstick! Das merken wir uns.
5. Februar 2021 – Und wieder eine Burkadiskussion
„In Gesellschaften, die der Frau die Verhüllung des Gesichts aufzwingen, herrscht eine Kultur vor, die darauf abzielt, die Frau aus der Gesellschaft auszugrenzen“, beginnt ein Artikel für die Internationale Ausgabe der NZZ: also für die deutschsprachige Leserschaft weltweit. Nun also ein feministisches Referat, mit vielen Zitaten weiblicher Aktivistinnen, aber verfasst von einem männlichen Autor. Ist etwas daran aktuell? Natürlich steht der gräßliche Mord am Geschichtslehrer Samuel Paty vom letzten Oktober unauslöschlich vor Augen, als Teil der fortwährenden islamistischen Bedrohung, nicht nur in Frankreich. Präsident Macron versucht gerade neue Schranken zu errichten.
Aber hat das Burka-Tragen momentan etwas damit zu tun? 2011 erliess Frankreich als erstes Land ein Burkaverbot – viele andere Länder folgten. Nun, unter Corona Bedingungen, wird die Lage paradox. Denn das Gesetz verbietet jede Gesichtsmaske im öffentlichen Raum , verlangt aber seit 2020 medizinisch das Gegenteil. Ein Artikel dazu wäre dringlich erwünscht. Aber darum geht es der NZZ nicht. Worum dann?
Schweizer Konservative lieben das Religions- Thema wahrscheinlich trotz gewaltiger Präsenz- Lücken. Vor ein paar Jahren zählte man vielleicht 100 lebendig verhüllte unter den rund 6 Millionen Eidgenossen, aber vielleicht tausend erschreckende Bilder auf grellen Wahlplakaten und entsprechenden Zeitungsseiten. Als 2015 eine Million arabische Flüchtlinge nach Europa drängten, erschütterte der Hass gegen sie unsere politische Szene. Die Schweiz war besonders erbittert. Bis heute unterstützen manche Zeitungen die Merkelgegner. In diesem Jahr endet Merkels Herrschaft. Mit einer deutschen Ausgabe beteiligt die NZZ sich am Wahlkampf. Soviel zur Aktualität.
23. Januar 2021 – Trumps Gesicht
Nun also, nach dem Abgang des Präsidenten: wer wagt sich an ein Porträt? Wer zeichnet uns ein Meme dieses vier Jahre lang allgegenwärtigen Gesichts? Mir fällt sofort Adrian Daub ein. Gerade erschien von ihm ein süffisant intelligentes Buch über die Erfinder von Silicon Valley: „Was das Valley denken nennt“. Aber schon 2017 beschrieb er die viel ältere, vorwissenschaftliche Form des Denkens, über physische Wahrnehmung von Körpern, vor allem des Gesichts, auch Physiognomik genannt. Wir haben auf dieser website immer wieder gegrübelt.
„The Return of the Face“ hieß der Text in der Plattform namens longread. Auch ohne Trump besonders ausführlich zu erwähnen, fragte Daub schon damals eigentlich „Was das Volk >Trump sehen< nennt“. Er verwies auf eine Fotomontage des SPIEGEL, eine Überblendung der Gesichter von Trump und Putin. Beide Tyrannen werden eben jetzt, im Januar 2021, dramatisch bestürmt. Wir erleben eine Titanomonachie antiken Ausmaßes.
Tatsächlich hat die Pseudowissenschaft der Physiognomik die dazu passende, uralte Geschichte, mit zwei scheinbar disparaten Lieblingsthemen. Das eine heisst Porträtmalerei oder –Fotografie, also Verherrlichung des Individuums. Der andere heisst Rassismus, also Lob einer Ethnie, Hass auf andere. Keine Denkmanier hat in der deutschen Geistesgeschichte schlimmer gewütet als diese Physiognomik. Das Denken in Gesichtern – fromm, fremd, lasterhaft, stark, verrückt, böse etc. – hat das kollektive Denken, besonders das antisemitische, antiafrikanische, antimuslimische gefesselt, wenn nicht in Ketten gelegt. Und gleichzeitig die Abgötterei an den einen Erlöser und Führer entfacht: wir erinnern an Hitler.
„Physiognomik ist eine verworfene Pseudo—Wissenschaft des 19. Jahrhunderts“, schrieb Daub und setzte hinzu: „Warum können wir nicht damit aufhören?“ Ja warum? „ Physiognomik hatte immer etwas von Stammeswissen: was man im Gesicht eines andern sieht, hängt davon ab, wer man selber ist. Erfunden von weissen Männern, fand man Schönheit, Ernsthaftigkeit und ‚Humanität‘ in allen Gesichtern, die jenen der weissen Männer glichen.“ So verliebt dürften Trumps Wähler ihren Abgott erleben. Sich selbst, ihr Ich-Ideal in ihm, auch wenn es dem europäischen weissgott nicht entspricht.
Könnte man diese gefährliche Fixierung auflösen? Ja, sagte Daub 2017. „ Fänden wir eine einzige, universelle Manier der Gesichtswahrnehmung, dann könnten wir den Verdacht entkräften, dass wir in andern Gesichtern immer nur uns selber, unser Volk, unsere Familie finden.“ Und er verwies auf ein Cover des TIME Magazine von 1993. Man sah darauf „The New Face of America“ – und siehe da, es gehörte einer jungen Frau. Komponiert hatte es ein intelligenter Computer aus einem Mix verschiedener Ethnien.
War es ein technischer Coup aus Silicon Valley? Nein, eben nicht. Spätestens seit gestern kennt die Welt Kamala Harris, die neue Vizepräsidentin neben dem neuen Präsidenten. Joe Biden ist wahrhaft ein weißer Mann, zudem noch weise und aus Altersgründen weißhaarig. Aber Kamala Harris ist auch ohne Computer nahezu die Frau, die sich Daub erhoffte: nicht nur ein Gesicht, sondern ein Kind asiatisch-afroamerikanischer Eltern. Und mehr noch: auch Adrian Daub selber hat seit ein paar Tagen ein Töchterchen afroamerikanischer Herkunft. Wir gratulieren! Die Götter mögen beide beschützen.
14. Januar 2021 – Dialog auf Augenhöhe
Während ein welthistorischer Kampf um Lüge und Wahrheit tobt, nimmt die Pandemie ungeheuren Aufschwung . Ein mutiertes Virus aus England steigert die „zweite Welle“ zum Tsunami. Gesundheitsversorgungen weltweit sehen sich „am Limit“. Zu viele Kranke, zu viele Tote, zu wenige PflegerInnen und Ärzte, viele davon längst erschöpft. Unendlicher Streit füllt die Medien – und bedrückende Triagen stehen an.
Die Bevölkerung zerfällt angsterfüllt in Gläubige und Ungläubige. Die Ungläubigen, die maskenlosen,“Gesicht zeigenden“ Lemminge , zweifeln zwar an den Medizinern – glauben aber viel mehr als die braven Patienten. Sie glauben an Verschwörungen aller Art, lassen sich aus den USA über mordlüsterne Demokraten belehren und warten auf den Ausnahmezustand, der ihnen politische „Freiheit“ verschafft. Wie soll man sie regieren?
Die Gesundheitspolitiker fordern immer wieder einen „Dialog auf Augenhöhe“ mit „den Menschen“. Warum? Keine Stunde in unseren Medien, kein Abendprogramm vergeht doch ohne Nachrichten von der Coronafront, keine Busfahrt ohne dauernde Ermahnungen zum neckischen „AHA“ . Was meint man mit diesem Dialog? Der Ausdruck selber beschreibt doch eigentlich nur den Reporter mit Mikro und Kamera. Menschen auf Augenhöhe befragen – das mag gut für die Zuschauer sein, aber auch für die Köpfe? Der Pferdefuss dieser Technik besteht im Modus des Dialogs. Fragen des Reporters werden vom Befragten beantwortet, aber die Antwort steht dann meist einfach im Raum – egal wie klug oder töricht. Der Reporter muss weiter.
Dabei hat die EU verschiedene kluge Beschlüsse gefasst. Impfstoffe wurden zugelassen, eingekauft und verteilt; arme Regionen werden bedacht, Senioren und PflegerInnen vorrangig behandelt. Das gigantische Hilfsprogramm für die notleidenden Südländer wurde angeworfen: mit einer grotesken Szene in Rom. Matteo Renzi , der Juniorpartner von Ministerpräsident Conte, hat gestern die Koalition aufgekündigt. Vor dem Bruch kam ein langer Brief mit dem Hauptvorwurf: die Regierung soll EU Gelder unter EU Aufsicht erhalten, will aber nicht. Das Beispiel Griechenlands ist bedrückend unvergessen.
5. Januar 2021 – nachmittags : Trumps rasender Gesichtsverlust
Auch und gerade dieser Verlust muss in einer Rundschau wie dieser besprochen werden. Die Grenzen zwischen dem physischen und dem symbolischen Gesicht sind ja erschreckend fließend. Nicht nur gesichtsentstellende Krankheiten oder Unfälle oder Attacken zeigen eine beschädigte persona im übertragenen Sinne. Jeder Verlust an Ansehen liesse sich als facial destruction bezeichnen. Die Geschichte der Karikatur beweist es, zuletzt gipfelnd im tödlichen Drama um die Mohammed Karikaturen. Auch Trump ist so oft und so martialisch karikiert worden, dass sein endgültiger Abtritt aus der Weltpolitik nicht mehr friedlich denkbar ist. Karikaturen wirken ja wie „Sprechakte“: Sie stellen die Weiche vom bildpolitischen Dialog zum sprachlos mörderischen Duell, wie letztes Jahr in Paris. Trumps Telephonat vom 4. Januar 2021 mit dem republikanischen Wahlbeauftragten Raffensberger in Atlanta, war vielleicht der letzte audiovisuelle Dialog aus dem Weissen Haus, maskenlos in jeder Hinsicht.
22. Dezember 2020 – Brexit Facelook
Nun also gibt es in England einen mutierten Virus, mit angeblich 70% schnellerer Ansteckung. Als wollten die Götter den kommenden Brexit beschleunigen, ja ihn sogar mit physischem Sinn erfüllen: denn die längst geplanten Maßnahmen bei einem harten Austritt wirken nun geradezu als Vorsorge gegen kontinentale Ansteckung.
Wird es die Masken populärer machen? Werden die Coronaleugner endlich zur Raison kommen? Die letzten Demonstranten in Deutschland, tausende von Leuten, zeigten „Gesicht“, wutentbrannt, müssen nun aber auch den Preis dafür zahlen. Sachsen und Thüringen, Heimstätten der AfD, haben die höchsten Infektionsraten bundesweit. Aber es fällt doch auf, dass von der AfD Spitze offenbar niemand krank wird. Hat man sich dort vorsorglich mit Putins „Sputnik“ impfen lassen?
22. November – „Gesicht der Krise“
Vor vier Tagen beschrieb die FAZ das „Gesicht der Krise“. Sie fand es nicht etwa im maskierten Phänotyp der Weltgesundheit, sondern im „Zoomgesicht“ des technisch versierten Intellektuellen oder Prominenten oder jugendlichen smartphoners. Alle ins Gespräch vertieft – so aymmetrisch wie auch immer. Auf den Zoomplattformen unter der coronakrise bilden sich eigene Gesichtsbühnen aus: teils in bürgerlichen Wohnungen, vor Büchern und Kindern, teils in kahlen Büros, teils draussen bei Wind und Wetter. Die Gesichter, beschreibt die FAZ , sind oft „ungünstig
ausgeleuchtet, seltsam verzerrt, mit Flecken, Augenringen und zu seltsamen Grimassen neigend.“ Eigentlich angenehm realistisch! Auch die Stimmen klingen verzerrt, aber, wie wir seit Adorno wissen, die Produktionsbedingungen des Klangs müssen bewußt werden, um nicht Opfer sinnloser Ästhetik zu werden.
Heute nun lesen wir in der NYT, wie sich unsere technische Elite von diesem Mangel befreien wird. Eine Gruppe hübscher, glänzender, natürlich farbenfreudiger Gesichter illustriert einen Artikel dazu: „The people in this story may look familiar, like ones you’ve seen on Facebook or Twitter or Tinder. But they don’t exist. They were born from the mind of a computer, and the technology behind them is improving at a startling pace.“
22. November – Der „Möglichkeitsraum“ wird zum „Enttäuschungsraum“
Der Stanford Literaturwissenschaftler Adrian Daub äussert sich in seinem neuen Buch „Was das Valley denken nennt“ über die Idee des Gesprächs dort, wo nur noch von technisch inspirierter Kommunikation die Rede ist, also Silicon Valley. Niemand hat diese Weltkommunikation einschneidender formatiert als die Erfinder von Facebook und allem, was daraus folgte. Die Menschen haben anfangs naiv und gierig nach der Möglichkeit gegriffen, uneingeschränkt von Raum und Zeit, Moral und Wissen, zu kommunizieren.
Die neuesten politischen Entwicklungen haben aus diesem „Möglichkeitsraum“ einen „Enttäuschungsraum“ gemacht. Seit Trumps unendlichem Twitter-Missbrauch muss der Werkzeugkasten umgebaut werden. Dass es dazu erschreckende Technik gibt, wissen wir aus China. Demokratie und Diktatur arbeiten längst einander zu. Im Westen ertönt der Ruf nach Zensur, im Osten gibt es sie schon. Wie wird es erst unter dem kommenden Klimadiktat werden?
November 2020 – Kein Lächeln unter einer Maske!
„If you want a picture of the future, imagine a boot stamping on a human face – forever.” – dieses Zitat stammt aus einer der abgründigsten Gesichtsanalysen des vergangenen Jahrhunderts, aus Orwells Roman „1984“. Erschienen 1948, zog er die Summe der ideologischen Weltkriege – denn beide standen auf unheimliche Weise im Bann der sogenannten „Physiognomik“. Eine ihrer Urszenen heisst „Rassismus“, eine andere „Entwürdigung“, eine dritte „Anbetung“, eine vierte „Diagnostik“, letztere vor allem seit Hippokrates.
Lesen im Gesicht und am Körper, was im Innern einer Kreatur vor sich geht, woran sie leidet, was sie plant, was sie erlebt hat und ob sie lügt – all diese Fragestellungen drangen ins Alltagsleben ein, sogar als Praktik der Tierzucht, als Schule der Menschenkenntnis, dann auch der Kunst, bis hin zum fazialen Fanatismus der Bildkunst seit Christi Geburt; zuletzt aber auch massiv in die facial detection devices von heute. Physiognomiker blieben die Medizinmänner des aufgeklärten Abendlandes – und George Orwell spielte souverän auf dieser Klaviatur. Das Gesicht ist in seinem Roman eine umkämpfte Hostie des Menschseins. Einerseits anbetungswürdig bis zur Raserei, andererseits unsäglich zerstörbar, so wie im Zitat beschrieben. „Gesichtsverlust“ nennt man heute soziale Konstellationen, die früher mit dem Wort „Ehre“ bedacht wurden, oder seit 1945 vor allem mit „Würde“. mehr zitate zu Orwells physiognomik siehe hier: https:// www.sparknotes.com/lit/1984/quotes/character/obrien/
18. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Zehn Tage später: noch immer nur Siegesgeheul bei Trump und seinen FanTruppen. Zehntausend marschierten letzten Sonntag nach Washington und skandierten ihre Sprüche: die Einmütigkeit eines body politic, der keine Repräsentanz, nur Verkörperung kennt. Ist es der uralte Streit der Reformatoren um das Abendmahl, um die Eucharistie , um den göttlichen Sprechakt: „dies ist mein Leib“ – was der linguistische Philosoph George Steiner „real presence“ nannte? Vielleicht kein Wunder, bei so viel evangelikaler Unterstützung des Präsidenten. Also muss er liefern bis zum bitteren Ende.
Christliche Motive poppen auch hierzulande auf – wie gestern in einem politischen Lehrfilm von Andreas Veiel namens „Ökozid“. Die Erde als Lebewesen, die Erde mit Menschenrecht. Gibt es dafür schon Lehrstühle? Hier wurde einmal mehr Angela Merkel als Quelle alles Bösen vorgestellt , doch gleichzeitig als wahrer Jesus. Das Drehbuch verlangt von der unschön aufgedunsenen Person ein Schuldeingeständnis und hohe Zahlungen an die klimazerstörten Länder. Was mit dem Geld geschieht? Erfährt man nicht. Hauptsache, es fliesst. „Dies ist mein Blut“ – wäre der zugehörige Sprechakt.
8. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Tatsächlich: Joe Biden und Kamala Harris haben diese historische Wahl gewonnen. Noch weigert sich Trump dies anzuerkennen. Mit rund 74 Millionen Wählern hat Obamas ehemaliger Vizepräsident einen Rekord aufgestellt. Noch stehen ihm rund 70 Millionen Trump Anhänger gegenüber; und diese Anhänger müssen nun, wie Trump selber, die Niederlage einräumen. Eine Niederlage einräumen: das wäre die Gipfelleistung einer Gesprächskultur, die vor dem Abgrund des Duells innehält und das menschliche Sprechenkönnen über das menschliche Zuschlagen- und Tötenkönnen erhebt Das Subjekt will nicht wieder vierbeinig werden: Geisteskraft steht aufrecht gegen Körperkraft.
Bis heute denken wir, dass Argumente dieses Innehalten möglich machen. Natürlich müssen es bessere Argumente sein, und es muss Einsicht erzeugt werden. Sprachakustisch heisst innehalten: verstummen, eine Pause machen. Nachdenken. Haben wir heute dafür eine Kultur? Das philosophische Muster für dieses Nachdenken liefert uns immer noch Platon, genauer, sein Lehrer Sokrates. Was lehren die berühmten sokratischen Dialoge? Sie lehren den Selbstzweifel. Einer der ungeheuersten Lehrsätze der Philosophiegeschichte. Nur wer einem anderen Argument recht geben und das eigene zurücknehmen kann, könnte unblutige Niederlagen selbst in der größten politischen Arena hinnehmen.
Wie aber kommen Argumente zustande? Politisches Handeln wird heute au fond von der Wissenschaft diktiert. Auf Wissenschaft als Religion, die von „Priestern“ verkündet und bedingungslos geglaubt wird, läuft mehr und mehr auch unser alltägliches, säkulares Handeln zu. Aber man weiss immerhin, dass Argumente bestritten werden können. Jeder Supermarkt zeigt, dass es unterschiedliche Ansichten gibt – etwa in Form von Waren. Was wir wählen und kaufen, finden wir im Angebot mit Argumenten begründet. Je mehr Waren, desto mehr Argumente. Vielleicht das wichtigste ist der Preis. Das aber verwirrt die Käuferschaft. Immer öfter werden deshalb Waren zertifiziert – eine Auslese findet statt. Das beste Angebot /Argument soll siegen. In der Warenwirtschaft entspricht dies natürlich der Werbung, aber nicht unbedingt der Aufklärung.
Instanzen der Zertifizierung sind im ökonomischen wie auch politischen Leben unter anderem die Medien. Sie kreieren die populäre Basis der Wissenschaftsreligion: die Wissensgesellschaft. Hier finden Meinungskämpfe statt, hier kursieren die viel beschworenen „Blasen“ der sozialen Netzwerke, und teilweise wieder mächtig die Religionen, die Sekten und abergläubische Teilchen der Sozialität. Seit altersher aber auch: die Anhängerschaft an mächtige Führer. Das Prinzip der Führerschaft wird heute auf der untersten Basis des Konsums eingeübt: durch sogenannte „Influencer“. Von diesen werden nicht nur einzelne Waren angepriesen, sondern der ganze Mensch mit Frisur, Kleidung, Gestik, Mimik, physischer Erscheinung. „Influencer“ sind Phänotypen mit eigenem Habitus. Sie könnten allesamt in ein casting der Filmindustrie gelangen – und tun dies wohl auch. Auch Trump wurde erst gecastet und dann aus dem Filmbusiness in die Wirklichkeit geschickt als gigantischer Influencer. Es wurde politisch der Gipfel der Verachtung des Volkes. Wie konnte sich bloss die amerikanische Nation- und schliesslich die halbe Welt- von einem vielfach kriminellen Mann per Twitter regieren lassen?
6. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Nur ein Tag genügte, um das Bild fast komplett zu ändern. Durch die Briefwahl gelangt Biden offenbar doch noch zum Sieg – gottlob melden sich Menschen, die lesen und schreiben können. Anders wäre unsere Welt nicht mehr zu regieren. Die Waffen der gefürchteten „proud boys“ haben bisher weitgehend geschwiegen. Die Lügen des Präsidenten zum angeblichen Wahlbetrug ermüden die Welt – selbst Fox News hat gestern schon bessere Zahlen für Biden genannt. Und doch trifft natürlich jede Sorge über die kommenden Tage zu. Wie wird die Machtübergabe aussehen? Am 1. November schrieb die NYT: „Peaceful transitions of power require political will. In the end, people on one side must step back from the brink. If history is any guide, they will.“
4. November 2020 – Der Präsident erklärt seinen Sieg
Die Wahllokale in Amerika sind geschlossen, die Auszählungen laufen unter weltweit gespannter Aufmerksamkeit. Der Präsident kann erstaunlich gute Zahlen vorweisen; schon verlangt er tatsächlich ein Ende der Wahl, vor allem der Briefwahl, und erklärt seinen Sieg. Den Supreme Court, mit der neuen 3:6 Verteilung von Sitzen, betrachtet er als juristischen Handlanger, seine bewaffneten Freunde bringen sich in Stellung. So also sieht die Missachtung der geschriebenen Gesetze aus – wenn nicht sogar ein Angriff auf die Demokratie: mittels Lüge. Und mittels „hate speech“.
Die Beobachter des europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks erinnern sich an die Ursprünge um 1995, als ein Mann namens Rush Limbaugh mit heiserer Stimme das FOX News Modell erfand. Heute sieht man, dass es ein eigenes business war – ein unerhört einträgliches Geschäft mit dem Hass. Also Handel – statt Dialog? Und Wirtschaftskrieg statt Duell? Zugegeben, auch die demokratischen Medien haben beste Geschäfte mit allen Krisen der letzten Monate und Jahre gemacht. Niemals hatte die New York Times so viele Abonnenten, ähnlich die andern Medien, zu schweigen von facebook, instagram, whatsapp, twitter etc. So schlecht es dem „Rust Belt“ geht, so gut geht es Silicon Valley. Wer vom armen Amerika spricht, das sich aus aller Weltpolitik schleicht, hat oder will die digitale Weltherrschaft der Vereinigen Staaten vergessen. Ist sie der Elefant im Raum?
1. November 2020 – Die Weltpolitik als schiere Machtpolitik
Natürlich blieb der Aufstand in Belarus bisher erfolglos; die Medienszene wird momentan von den Diktatoren Erdogan und Trump beherrscht. Wir hören, dass die Türkei Söldner nach Bergkarabach schickt, dass Putin diesen Akt „erwidert“: hier herrscht also das Duell. Petra Gehring spricht in ihrem Buch über die „Körperkraft von Sprache“ von einem „Übergang in die gleichsam blind werdende Sprache einer nicht mehr im metaphorischen Sinne >tödlichen< Wut“. Diesen Übergang inszeniert die Weltpolitik als schiere Machtpolitik inzwischen fast täglich. Seit Jahren brechen Konflikte um Wahlergebnisse auf, seit Jahren knirscht der demokratische Überbau einer quantitativen Ermittlung von Volksbegehren mit anschliessender Sprachmacht der Sieger in den Fugen. Warum? Weil sich zwischen Dialog und Duell die Lüge schiebt. Medial hochgerüstet, sprengt sie die Stärke des Rechts für das Recht des Stärkeren.
Bereit zum Duell – und zu maximaler Lüge – ist man jedenfalls im Wahlkampf der USA: Tausende von bewaffneten Trumpisten wollen eine Niederlage ihres Abgottes nicht hinnehmen. Trump selber kennt nur noch „hate speech“, verlangt ein Ergebnis sofort nach Schliessung der Wahllokale – auch er unterwegs ins Duell. Aber wer wäre der Gegner? Sind Demokraten bewaffnet, führen sie eine Miliz hinter sich her, oder glauben sie an ein Wunder? Welche Werkzeuge hat die Demokratie ausser der Sprache? Seit Monaten versuchen die demokratischen Medien die unbeschreiblichen Irreführungen aus aller Welt richtig zu stellen. Sie navigieren mit einem dialogischen Goldstandard namens Wahrheit, Aufrichtigkeit, Information für alle. Aber die entscheidende Majorität ihnen ging womöglich gerade verloren: bei der Neubesetzung des Supreme Court. Vor diesem „jüngsten“ Gericht und seinen Ablegern muss sich die Wahl nun entscheiden.
Oktober 2020 – vierte Woche, fortgesetzt
Die Frage nach amerikanischer Gesprächskultur ist also beantwortet. Es geht nicht um Dialoge, sondern um mehr oder minder geordnete Duelle. Der zweite und letzte Schlagabtausch zwischen Trump und seinem Gegner Biden war so ein Dialog hart am Rande des Duells: institutionell schwerst gesichert, personell wie technisch. Zur Erinnerung: Ein Duell fand früher statt, wenn ein Dialog nicht mehr möglich schien, wenn Sprache erstarb. Das Duell zielte auf physische Vernichtung des Gegners. Es war eingebunden in eine Institution mit festen Regeln – auch wenn es selber strafbar war.
Oktober 2020 – vierte Woche
Amartya Sen, der indische Wirtschaftsphilosoph, erhielt am 18. Oktober 2020 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In einer etwas gespenstischen Szene in der Frankfurter Paulskirche hielt Bundespräsident Steinmeier die laudatio in absentia, und derPreisträger dankte ebenfalls in absentia. Sein Hauptthema war die Freiheit der Rede. Er kritisierte die Unfähigkeit der autokratischen Regierungen, einen Dialog mit der kritischen Opposition zu führen, die momentan weltweit in riesigen Menschenmengen auftritt und immer wieder brutal zurückgetrieben und unterdrückt wird. Amartya Sen erinnerte an Mahatma Gandhi, und dessen Konzept des gewaltfreien Widerstands, das tatsächlich Erfolg hatte, aber oft eben auch nicht. Gandhi saß jahrelang im Gefängnis.
Auch Timothy Garton Ash hat 2016 in einer Plattform namens Free Speech: „TenPrinciples for a Connected World“ die politische Interaktion zwischen Regierung und Opponenten als lebenswichtigen Streit bezeichnet, wie auch seine Kollegin Chantal Mouffe, eine Marxistin mit Sympathie für Carl Schmitt. Vor dem Kernstück des „hate speech“ versagten sie beide. Gerade eben wurde in Frankreich ein Geschichtslehrer enthauptet, von wütenden Islamisten, weil er die Mohammed Karikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt hatte, als Beispiel für Redefreiheit. Es war eine tragisch entgleiste Interaktion. Dialog kann man sie nicht nennen. Aber wie sonst?
Die deutsche Philosophin Petra Gehring erörterte vor kurzem in einem Buch über Sprechakte das, was sie „die Körperkraft der Sprache“ nannte. Sie erwähnte Gesang, Gebrüll, und vor allem das Skandieren in der Menge. Sie nannte es „ein Stück Entfesselung der dialogischen Normalität sowie auch des seine Worte allein verantwortenden Individuums.“ Dieser Sprechakt „zeigt: nein: stellt aus und feiert, was ihm Macht verleiht.“ Skandierende Massen wollen keinen Dialog – oft geht es nur um Hass und Wut. Zur Wortwerdung bräuchten sie individuelle Sprecher:Innen, die ihre Einstimmigkeit erwiderungsfähig machen. Und diese Sprecher:Innen brauchen wiederum individuelle Hörer’Innen, die diese Einstimmigkeit erwidern könnten. Beide Individuen müssen ferner für die von ihnen artikulierten Menschengruppen anerkannt repräsentativ sein. Für diese unerhört komplexe Sachlage gibt es – noch – keinen Ausdruck. Es sei denn, man spricht von Demokratie – aber auch dieses Wort ist viel zu ungenau. Wie sollte man diese Interaktion also nennen?
Oktober 2020 – dritte Woche
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gab es unter dem irreführenden Stichwort „Körper“ eine erhellende Diskussion über das Diskutieren. Ute Frevert, Historikerin der Gefühle, betonte, dass man in der Demokratie nicht wie Carl Schmitt von Feind zu Feind spreche sondern von Gegner zu Gegner. Ein Grundvertrauen hindere den Umschlag in schiere Körperlichkeit – sprich Prügel oder Totschlag. Dieses Grundvertrauen verschwindet soeben in USA. Hat es dort je wirklich geherrscht? Kathrin Schmidt, die Autorin, verbat sich den Modus der „Gesinnungsbeweiskultur“ in den Debatten – dem widersprach die Kulturkundlerin Eva Horn aber mit Rekurs auf die Usancen der Wissenschaft: hier müsse man sich einig werden können, nämlich über das, was erwiesenermassen der Fall sei. Niemand mochte den Sprung zu dem Fazit leisten: dass wir in eine Wissenschaftsreligion treiben, die – jedenfalls für die meisten – zur Glaubenssache werden muss, jedoch nur für wenige Priester diskussionseffizient bleiben kann, nämlich dann, wenn sie die Beweisverfahren beherrschen und die Öffentlichkeitstechnologie dazu.
Oktober 2020 – Neue Emojis?
Neuigkeiten auf dem Gesichtsfeld. Erstens: Apple kündigt ein remake der Emojis an! Offenbar findet man die jetzt vorhandenen Gesichtsausdrücke unter Maskendiktat unzureichend – kein Lächeln unter einer Maske! – ausserdem hat die Konkurrenz Samsung schon schneller reagiert. Lassen wir uns überraschen.
Zweitens zeigt der US Wahlkampf eine tragische Zwickmühle für weibliche Aktricen. Wie gewohnt, werden mediale Auftritte mit Gebärdendolmetscherinnen inszeniert – doch was passiert, wenn die Politikerinnen hoch emotionale Sätze äussern, aber zuvor mit Botox ihre Mimik stillgestellt haben? Dann erscheint diese Mimik nur nich bei der Dolmetscherin?
Oktober 2020 – zweite Woche
Anhaltende Beklemmung allerseits: Trump wurde nach seinem Auftritt von Covid 19 befallen, liess sich ins Militärspital einweisen, dort aber nicht halten, kehrte vielmehr zurück ins Weisse Haus. Mit demonstrativer Geste riss er sich dort vor den Kameras die Maske vom Gesicht: wessen Gesicht war es nun? Immerhin hat sein Vize Pence inzwischen ein manierlicheres , aber unwichtiges TV-Duell mit Kamara Harris absolviert; unwichtig, weil die Parteien im Weissen Haus derweil machtkampfbedingt die dringend benötigten Coronahilfen gestrichen haben. Offenbar werden nun bis zur Wahl tausende Menschen sterben, weil medizinisch unversorgt. Es sind Menschenopfer mexikanischen Ausmasses.
Oktober 2020 – erste Woche
Das Drama nimmt seinen Lauf. Das erste Duell zwischen Joe Biden und Donald Trump zur kommenden Wahl verlief am 29. September genauso entsetzlich, wie vorhersehbar. Niemand wird sagen können, er habe das Ende der menschengemachten sprachlichen Kommunikation an höchster politischer Stelle nicht erlebt, alle Zeitgenossen sind Zeuge, so unfreiwillig auch immer. Wer dieses politische Format jetzt funktionstüchtig machen muss, ist nicht zu beneiden. Ausgerechnet ein Genosse aus Fox News soll jetzt einen wütenden Clown bändigen – weil die Grand Old Party nicht von ihm lassen will.
September 2020
Laut bis dröhnend sind die Importe aus USA fast seit jeher. Unsere Eltern oder Großeltern erlebten entsetzt ein Theaterstück wie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ (1962) von Edward Albee, 1966 als Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton – wie konnten sich zivilisierte Menschen derart in Hass reden. Die Kehrseite, das verrückte einander-anschweigen, hatte diese Generation schon vorher bei Samuel Beckett erlebt: war Sprache überhaupt noch zu retten?
Und erst recht heute: Nicht nur die dauernde Ferngesprächslage der Handykultur, sondern auch die Einbettung aller Äußerungen in Fadenkreuze von wütend emotionaler Zu- oder Abneigung, Teilung oder Löschung, Verrat oder Geheimhaltung, Anonymität oder Authentizität entscheiden über das gegenwärtige Mitteilungsverhalten von Mensch zu Mensch. Hass hat sich breit gemacht, Unflätigkeit kursiert massenhaft, alles wird denkbar wegen massenhafter Verkleidung und abgründiger Umsturzpläne. Was tritt hier zutage?
Erinnern wir uns: Schon vor 1900 spülte die sogenannte „Neue Musik“ unaufhaltsam einen riesigen Kontinent an Dissonanzen und Explosionen ins öffentliche Bewusstsein; eine zerrissene Landschaft, die bis heute nur qualvoll vernommen oder besucht wird. Gäbe es nicht eine weltweite Tradition der klassischen Harmonielehre, eine weltweite Instrumental- und Gesangskultur, eine Freude am Tanz schlechthin – wir wüssten wahrscheinlich nichts von lustvoller leibsozialer Interaktion beider Geschlechter. Als John Cage 1952 sein Meisterstück 4:33 zur Aufführung brachte, hatte ein philosophischer Kapitän im Narrenkleid das Ruder herumgeworfen. Nicht sprechen, sondern zuhören, lauschen, wäre vielleicht die Rettung.
August 2020
2020 war wohl zu spät. Schon 25 Jahre zuvor hatte es einen ersten, dramatischen kommunikativen Kollaps gegeben – dieses Jahr 1995 könnte überhaupt in die Geschichte der menschengemachten Gesprächszerstörung eingehen. Seit der berüchtigten Schrift von Carl Schmitt über „Politische Romantik“ 1919, sondert eine Priesterkaste des Streits auch sprachlich Freunde von Feinden; längst bilden sie eine intellektuelle Kolonne. Wer nicht versteht, dass es hier um Machtkämpfe geht, und keineswegs um Verständigung, ist verloren.
Immer feinere Werkzeuge des gegenseitigen Betrugs werden sichtbar, immer größere Reichweiten der Sabotage. Dass ein Mann wie Julian Assange seit Jahren vor sich hin vegetiert, von einem Gefängnis zum andern geschickt und mit drohender Ausweisung gefoltert wird, beleuchtet die brutale Innenausstattung der digitalen Welt nur schwach, aber immerhin deutlich. Gesprächszerstörung findet aber auch anderwärts statt, nämlich durch Bildkonsum. Der Satz „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, gilt eben auch umgekehrt: ein Bild zerstört mehr als tausend Worte – eben weil diese nicht mehr gebraucht werden. Und wirklich: Neben den organischen Gebilden in Flora und Fauna sterben vor unsern Augen bekanntlich auch Sprachen, angeblich dreitausend sind bedroht. Internetdominanz befördert nicht nur der Silicon Valley Speech sondern auch das Chinesische, das die Bildfabrikation seit langem raffiniert beherrscht, mit alltäglichen Milliarden von Emoticons oder Emojis, und den überwältigenden Fortschritten der face detection industry (siehe meine Gesichtsrundschau).
Szenenwechsel: Vor kurzem erschien hierzulande von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun ein sanfter Ratgeber: „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ – als Gegenstück zu Garton Ash, weniger normativ als vielmehr Bestandsaufnahme der unerhört komplexen Situation. Autoren wie Pörksen und von Thun stehen mit dem Wort „Dialog“ in einer eigenen, langen europäischen Tradition. Sie beginnt mit den Griechen, mit Sokrates und seinem Schüler Platon und dessen ausgepichter Kunst des Diskutierens. Seit der Aufklärung, seit Goethe und Hölderlin, gab es den deutschen Philhellenismus mit einem geradezu metaphysischen Gesprächskult. Um 1900 erwachte mit Heinrich Schliemann ein nahezu leibhaftes griechisches Selbstbewußtsein unter den deutschen Bildungsbürgern: ausgerechnet die Deutschen etablierten nach 1918 und mehr noch nach 1945 eine Kultur des Dialogs als Kulturtechnik des Friedens. Jürgen Habermas wurde der Erbe. Sein Hauptwerk, die „Theorie der kommunikativen Vernunft“ von 1981 warf die herrschaftsfreie, argumentativ verbindliche Interaktion unter sprechenden und denkenden Menschen wuchtig in die philosophische Waagschale. Ein idealistischer Entwurf, aber durchaus im Kontext der innigen deutschen Tradition. Wüßte man nicht, welche ungeheure Weltgeltung Habermas bis heute erlangt hat, welche Leserschaft noch das letzte Werk des 93jährigen von heute aufmerksam liest, man könnte an einen deutschen Holzweg glauben. Aber es ist kein Holzweg – sondern die leise Stimme der Vernunft.
Juli/August 2020 – Geschichte der Maske
Anfang Juli 2020 unterhielten sich zwei Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung über das Wort „Gesichtsmaske“: der Jurist Michael Stolleis und die Autorin und Dichterin Ursula Krechel. Die Anregung zu diesem und einigen weiteren „CoronaDialogen“ stammte aus dem Deutschen Wörterbuch, wo seit Juni ein eigenes Kapitel zum Wortschatz der Corona Epoche eröffnet wurde. Im Newsletter des Instituts für Deutsche Sprache IDS hieß es dazu: „Technische Innovationen, historische Ereignisse, sich wandelnde gesellschaftliche Gegebenheiten oder politische Neuerungen – für eine funktionierende Verständigung muss sich der Wortschatz ständig anpassen. Da kann es schnell passieren, dass man ein Wort hört oder liest, das man noch nicht kennt oder bei dem man sich unsicher ist, wie man es schreibt oder spricht.“
Nun also das wahrhaft neu verwendete und für diese meine Rundschau bedeutsame Wort „Gesichtsmaske“ – semantisch etwas redundant, da das Wort „Maske“ ja immer schon ausschließlich Gesichtsverhüllung – oder kosmetische Handlung – bedeutet hat. Folglich sprechen die beiden Akademie-Mitglieder viel über die Kulturgeschichte der Maske im Theater, bei festlichen Hofbällen, karnevelistischen Umzügen, und natürlich in der ärztlichen Geschichte der Pest seit dem 13. Jahrhundert. Nur dort, in den berüchtigten und furchterregenden Schnabelmasken der Pestdoktoren, hat die Maske eindeutige Funktionen: statt eine bekannte Person zu verfremden, wird hier die Person, der zuständige Arzt, übereindeutig gemacht – in seiner amtlichen Funktion. Das Gebilde schützte den Arzt vor Ansteckung und Gestank und ermöglichte zugleich das Zeigen der Geschwüre.
Die heute weltweit verlangte und benutzte „Schutzmaske“, wie man besser sagen sollte, trifft nun aber eben jetzt auf eine völlig neue Szene, geradezu einen Kulturkampf. Nicht nur entstand durch die Flüchtlingsbewegung um 2015 eine aggressiv neue Sicht auf die Schleierkultur der muslimischen Welt. Durften oder dürfen Musliminnen wirklich Niqab oder gar Burka tragen, dürfen sie in der christlichen Welt mit Kopftuch öffentliche Berufe ausüben? Der Streit ist nicht entschieden, immer wieder gibt es Prozesse. Auch gibt es seit 1985 ein Vermummungsverbot für Massenversammlungen und einzelne Situationen, wie etwa eine Vermummung vor Gericht.
Nun also, seit Anfang des Jahres 2020, gilt das Gegenteil: Vermummung von zwei Dritteln des Gesichts durch einen „Mund- und Nasenschutz“ wird staatlich gefordert und zwar weltweit und ganz besonders bei Massenversammlungen. Plötzlich sehen die Menschen weltweit einander seltsam ähnlich, ein „Weltmenschengesicht“ ist unversehens entstanden, während gleichzeitig eine Rassismusdiskussion wütet. Zufall? Plötzlich verstummen auch alle möglichen Raisonnements, die uns ein Leben mit verhülltem Gesicht aus antiislamischen Motiven als mörderische Feindestat erklärt haben. Niemand wollte damals erklären, warum die österreichische Gemeinde Bad Ischl immer schon zahllose gesichtsverhüllte Gäste aus arabischen Ländern geduldet hat – bis die finanziellen Erträge offenbar wurden.
Noch interessanter wird das neue Weltgesicht aber angesichts der politisch- technischen Entwicklungen, wie sie in vielen früheren Einträgen hier beschrieben wurden: das fieberhafte face detection development – im Dienst der verkehrs- aber auch moralpolitischen Überwachung. Nun müssen zahllose Ausnahmeregeln getroffen werden: maskenlos soll man im Auto hinter dem Steuer besser erkannt zu werden, vor Gericht und amtlichen Instanzen natürlich ebenfalls, aber Masken sollen im staatlichen Umgang, etwa Schulen, unbedingt gelten.
Manche BürgerInnen empfinden dies nun als Akt der undemokratischen Grundrechtsberaubung. Am 29. August gab es einen denkwürdigen Prozess dazu in Berlin: Heerscharen von Regierungsgegnern aus ganz Europa, aber besonders aus Stuttgart, wollten sich ohne Schutzmaske in der Hauptstadt treffen – die Richter mussten beraten, wie sie einer drohenden Saalschlacht mit möglichst gewaltfreier Polizeimacht entgegentreten wollten.
Juli 2020
Seit dem 28. Juli 2020 gibt es einen neuen podcast, aus der Taufe gehoben und moderiert von Michelle Obama. Angesiedelt auf Spotify, eingerichtet als Gespräch mit immer wieder andern Menschen, beginnt er mit – ja, natürlich, Barack Obama. Wann haben wir uns zuerst gesehen? Wie war das? Die beiden unterhalten sich höchst lässig. Und die Medien (ausser Fox News) sind begeistert. Sie finden Spotify ebenso im Rampenlicht wie die Spitzenleute der Demokraten, sie müssen nicht wieder Hillary sehen sondern eben die herausragende Vertreterin der schwarzen Minderheit, die heute so hart umkämpft wird. Und sie sehen: die attraktive Mutter zweier Kinder. Und alles im Vorfeld der Wahlen. Wird Michelle womöglich gegen Trump kandidieren? Nein, ich höre, sie hat das abgelehnt, gerade wegen der unglücklich ehrgeizigen Hillary. Aber wie repräsentativ ist dieser lockere speech? Ist er nicht eine unerhörte Ausnahme in unserer weltweit verwilderten Kommunikationsszene.
Szenenwechsel: ebenfalls in den USA erschien soeben ein Buch von Suzanne Noessel, eine der CEOs des amerikanischen PEN: „Dare to Speak. Defending Free Speech for all“. Seit Trumps Amtsantritt bewacht dieser PEN die Szene der Medienkontrolle und – manipulation durch die neue Administration. Längst sind die Amerikaner auf demselben Niveau wie China: der permanente Fake-Vorwurf der Republikaner führte zum Sterben zahlreicher regionaler Zeitungen, denen niemand mehr glauben will oder darf. Journalisten werden eingeschüchtert, entlassen, verunglimpft. PEN America blickt auch über die Grenzen und berichtet von derartigen Attacken weltweit. Das öffentliche Gespräch ist verwüstet. In weiter Ferne liegt der Versuch von Timothy Garton Ash über Redefreiheit – an der er 2016 noch hing, idealistisch ahnungslos über die kommenden Entwicklungen. Zehn Gebote stellte er auf, die ein sozial fruchtbares kommunikatives Verhalten ermöglichen sollten. Die Utopie hieß: Redefreiheit in der digitalen Welt, bei gleichzeitiger Bändigung der negativen Auswüchse, die eine soziale Öffentlichkeit mehr und mehr lähmte. Konnten und würden facebook et aliae gleichzeitig zensieren und Gewinn erwirtschaften?
Mai 2020 – Folgenabschätzung war offenbar immer schon Frauensache
Die Nachrichten überschlagen sich – nachdem angeblich eine Firma aus Israel namens „AnyVision“ für biometrische Überwachung der Westbank sorgen wird. „AnyVision“, eine face detection software, mischt angeblich auch bei der kommenden Drohnenbewaffung weltweit mit. Drohnen werden gezielt genau einzelne Menschen töten und dabei filmen können. Ein riesiges Geschäft – ähnlich wie die Covid 19 Forschung.
Ihretwegen wurden vor zwei Wochen offenbar deutsche Rechner überfallen, von Hackern. Ich lese in der FAZ vom 27. Mai, daß “ die drei größten deutschen Rechner, der Hawk in Stuttgart, der Supermuc in Garching und der Juwels in Jülich von einem Hackerangriff komplett lahmgelegt“ wurden. Weitere Angriffe trafen Freiburg, Dresden, Karlsruhe sowie mehrere Rechenzentren in Europa. Und auf diese Technik verlassen wir uns nun alle, diese Technik soll fieberhaft durchgesetzt werden, mit Milliarden finanziert. Welche suizidale Veranlagung begleitet das männliche Denken seit wir von Denken sprechen können. Ikarus und Prometheus waren die Urväter – ein Ding wie Folgenabschätzung war offenbar immer schon Frauensache. Eine schwangere Frau weiss, was Schwangerschaft bedeutet. Denker wie Günter Anders, der Hiroshima reflektierte wie kein zweiter, müssten neben Hannah Arendt erscheinen, statt immer wieder Heidegger aus dem Grabe zu holen.
Februar 2020 – Kulturparadoxe Szene
Was für eine kulturparadoxe Szene ergibt sich doch im Moment aus der seltsamen Corona Pandemie! Die millionenfache und weltweite Verwendung der hygienischen Gesichtsmasken liefert das westliche Pendant zur orientalischen Burka! Nicht schwarz, sondern weiss wird nun das Gesicht verhüllt und der Face Recognition Verfolgung weitgehend entzogen. Die Natur greift zur Tarnkappe, sie schützt Unterdrückte. So sieht es jetzt jedenfalls aus. Der physiognomische Overkill der digitalen Gesellschaft geht aber natürlich immer weiter. mehr
Das natürliche Gesicht, ungeschminkt, unoperiert, unformatiert mit seinem Weinen und Lachen und Grinsen entgleitet uns, und mit ihm die naturbelassene Kommunikation im mimischer und gestischer Hinsicht. Diese Naturzüge sind längst Teil der Roboter Industrie. Ein US Startup hat vor einiger Zeit „Erika“ (Name geändert) erfunden: einen Roboter in Menschengestalt, gefüttert mit Sprache und Denken einer individuellen Person. Es soll ein dialogischer Spielfreund sein, gedacht für einsame Seelen, aber auch bipolare oder depressive Geschöpfe: eigentlich also eine Art gesunder und funktionierender Zwilling. Kein Siri, sondern eben wirklich individuell und android zugeschnitten. Ein Hit in Zeiten, die „Einsamkeitsministerien“ ersonnen haben?
September 2019 – Das Denisova Mädchen
Das Gesicht als physisches wie auch semantisches Schlachtfeld der Evolution zu bezeichnen ist wahrscheinlich noch untertrieben. Wieder zwei Nachrichten will ich notieren. Aus nur einem einzigen Kinder-Fingerchen von der sibirischen Denisova Höhle will man die nötigen DNA Daten zu einer Gesichtsrekonstruktion gewonnen haben.
Wie sieht das Denisova Mädchen aus? mehr
Die SZ vom 20. 9. berichtet eher skeptisch: “ Ein wenig ernst sieht das Mädchen auf dem Bild aus. Die dunkle Stirn ist leicht gerunzelt, der breite Mund etwas geöffnet. Große Zähne hatte das Kind, olivfarbene Haut und zottelige dunkle Haare.Die Augen sind mandelförmig und braun.“ Das Porträt will ein Geschöpf zeigen, dessen Familie vor 50tausend Jahren ausstarb. Das Team um David Gokhman, Stanford, und Liran Carmel, Jerusalem, nutzte ein Relikt, das 2008 gefunden wurde. Eines von sehr wenigen Relikten dieser alten Homo-Art. Wir sehen also eine enorme Spekulation, vielleicht einfach ein Märchen. Warum? Ich erinnere an den spektakulären Fund eines Schädels unter dem Pflaster von Jerusalem, der um 200 n.Chr. datiert und vor einigen Jahren gesichtsrekonstruiert wurde: so ähnlich hätte Jesus aussehen können. Eine Steilvorlage für die Filmindustrie, aber auch für die Forscher*innen. Die betreffenden Institute erhalten mehr Zuwendungen, die Urheber mehr Klicks, die Laufbahn nimmt ihren Lauf.
Der zweite Fall: die dramatische Opposition gegen die Facial Recognition Industry. Nicht nur die bildende Kunst, auch die Musiker wehren sich jetzt dagegen, dass ihr Publikum stellenweise penibel registriert wird. Eine Gruppe namens „Digital rights group Fight for the Future „ bezeichnet in einem BLOG namens iq-mag.net diese Technologie als ungenau, übergriffig, diskriminierend und gefährlich. Recht so – doch andererseits erfahren wir gerade von Jens Balzer, wie aberwitzig rechtsextrem dieses POP Publikum inzwischen geworden ist: vgl. seine beiden Bücher aus diesem Jahr 2019 „Pop und Populismus“, sowie „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“.
September 2019 – Gesichtserkennung zum xten Mal
Der Monat beginnt mit zwei Paukenschlägen im physiognomischen Gehäuse: erstens verkündet facebook eine Schutzmaßnahme in der Gesichtswirtschaft, bei heise.de steht dazu folgendes: „In den kommenden Wochen soll die Gesichtserkennung allen Nutzern zur Verfügung stehen.
Ist sie aktiv, wird der Nutzer weiterhin informiert, sobald ein öffentlich gepostetes Foto oder Video von ihm erscheint. Auch die Markierungsvorschläge bei Freunden erscheinen dann wie gewohnt. Dadurch soll laut Facebook die eigene Identität geschützt werden können: Etwa wenn jemand ein Profilfoto kopiert und als eigenes verwendet. Auch helfe die Funktion, um mehr relevante Inhalte zu finden, heißt es in der Erklärung“. Diese Formel „allen Nutzern zur Verfügung“ bedeutet: automatisch werden alle Gesichter gescannt – wenn man nämlich vergisst, diese Funktion auszuschalten. Wer verfügt über diese Gesichtermassen? Wie nahe rückt diese jetzt noch schutzversprechende Massnahme an chinesische Vorbilder, wenn man die Vergesslichkeit der User bedenkt?
Wie eine Antwort darauf wirkt die Erfindung einer jungen Künstlerin aus Leipzig. Nicole Scheller hat eine Jacke aus Armeestoff geschneidert, die ihre Träger für Kameras unsichtbar werden läßt. Verschiedene Barcodes sind über den Stoff verteilt, die das Kamera-Auge irritieren. Sie arbeitet auch an einer handy Maske. kulturzeit 3sat 3.august 2019.
August 2019 – Polizeiwissenschaft und Rassenkunde
Vor wenigen Wochen hat der Kameramann und Filmemacher Gerd Conradt (78) einen Film über die dramatische Situation des Gesichts vorgestellt. „FACE IT“ wurde am 24n Juli im Karlsruher ZK uraufgeführt; es ist eine Bestandsaufnahme von und ein Protest gegen die Experimente, die seit geraumer Zeit am Berliner Bahnhof Südkreuz stattfinden.
Hier können sich Probanden filmen und codieren lassen, um dann bei jedem Auftauchen am Bahnhof, jedenfalls an einer bestimmten Stelle, wiedererkennbar zu sein und also verfolgbar zu werden. Conradt interviewt alle möglichen Akteure in diesem technischen Futurium: die Techniker selber, aber auch Künstler und Protestler, sogar Kulturwissenschaftlerinnen wie Sigrid Weigel oder Politikerinnen wie Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitales, sprich digitale Aufrüstung.
In einem Interview in der WELT vom 26. Juli äussert sich Conradt mit phantasievollem Zynismus. Zu seinem Kummer gelang es ihm nicht, die Protestgruppe zu wirklichen Angriffen auf die Kameras zu bewegen; nicht einmal mit Tüchern wollte man sie verhängen. Die Stimmung schien fatalistisch. Alles sei zu spät, sagte auch der Künstler Johannes von Bismarck.
Historiker der Physiognomik wundern sich nicht. Schon Lichtenberg hat diese physiognomischen Exzesse kommen sehen, und nach Einbruch der Fotografie in den Wahrnehmungsapparat des Alltags war ohnehin kein Halten mehr. Polizeiwissenschaft und Rassenkunde waren seit der Frühen Neuzeit mit physischer Registratur befasst – in aller Regel zu Zwecken der Diskriminierung. Im Film wird ausführlich über Paul Ekman (*1934), den Vater der US-Physiognomik gesprochen. Er arbeitet seit Trump im Home Ministry als Lügendetektor. Ekman war Sohn eines Militärarztes und wurde als Heerespsychologe ausgebildet. Er konnte die Forschungen des deutschen Psychologen Philipp Lersch (1898 – 1972) rezipieren. Sie hatten ab 1939 einen Hauptzweck: Simulanten unter den Soldaten zu entdecken. Die fanatische Fragestellung „Fake oder Nichtfake“ stammt aus diesem Arsenal. Leider wurde es in den USA noch nicht publik.
Neu ist heute das totalitäre chinesische Modell. Erst die von Silicon Valley erfunden Technik der smart phones erlaubt ja eine durchgängige Überwachung jedes einzelnen Menschen. Hätte man je für möglich gehalten, dass der Kalte Krieg in Wahrheit auf einen noch kälteren Frieden hinauslaufen könnte?
Juni 2019 – Die Spaltung des physiognomischen Diskurses
Die Spaltung des physiognomischen Diskurses nimmt täglich zu. Einerseits Rückkehr zur alten philosophisch-literarischen Physiognomik, wie sie etwa Matthias Weichelt in seinem Bildband über Peter Huchel wieder erstehen lässt (Berlin 2018); andererseits die Wut der Aktionäre gegen Geschäfte mit Gesichtserkennungssoftware, etwa bei amazon oder überhaupt bei Banken.
Deren Überwachungssoftware hat nacheinander den menschlichen Fingerabdruck, die menschliche Iris, das Gesicht überhaupt und zuletzt die menschliche Stimme verbraucht: allerdings zeigen Umfragen,dass gegen alle biometrischen Verwendungen im online banking Skepsis besteht, Zustimmungen gehen kaum über 15% hinaus. Was in China zur Sozialkontrolle benutzt wird, geht aber offenbar weit über die europäische Technologie hinaus. Hierzulande sind die Kontrollen am Flughafen mit 61 % Akzeptanz am höchsten, sagt die WELT am 18.April 2019.
Januar 2019 – Kurzer Rückblick auf den Diskurs
Zum Jahresbeginn hier ein Rückblick auf den Gesichtsdiskurs in SZ und FAZ vor, während und nach der Einführung der Face Phones zwischen Juli 2017 und April 2018.
SZ Juli 2017: „Das Gesicht gilt als Fenster der Seele. Tatsächlich leiten die meisten Menschen aus dem Antlitz ihres Gegenübers unwillkürlich ab, mit was für einer Person sie es zu tun haben – und liegen damit weit daneben.“
FAZ August 2017: “ Was das Gesicht nicht alles ist. Selbstausdruck oder Maske… Aber nicht jedes menschliche Antlitz lässt sich deuten.“
SZ September 2017: „Die Jagd auf das Antlitz. Das fotografische Porträt fixiert, vermisst und erforscht das Gesicht – auch das von Patienten und Delinquenten.“
FAZ September 2017: „Können wir unser Gesicht noch wahren? Wissenschaftler haben einer künstlichen Intelligenz beigebracht, an Fotos zu erkennen, welche sexuelle Orientierung ein Mensch hat.“
SZ September 2017: „Gesichtserkennung bei Handys ist praktisch, aber gefährlich.“ – „Apples neue Gesichtserkennung wird mit viel Technik und Aufwand betrieben. “ – „Die Gesichtserkennung in Smartphones verunsichert viele. Doch die wahren Gefahren lauern anderswo.“- „Auge in Auge. Überwachungskameras, Handykameras, Gesichtserkennung – niemand bleibt unbeobachtet“.
SZ Oktober 2017: „Verbrechen und Versprechen. Andreas Bernards Buch >Komplizen des Erkennungsdienstes< diagnostiziert ein fatales Selbstbild in der digitalen Kultur.“
SZ November 2017: „Entsperren mit Maske. Sicherheitsforscher haben offenbar die Gesichtserkennung des iPhonex geknackt.“
FAZ Dezember 2018: „Die hundert Arten des Lächelns. Der Mensch ist ein Meister im Lesen von Gesichtern. Doch sein Urteil liegt erstaunlich häufig daneben.“
SZ Januar 2018: „Ein Lächeln von gestern. Mit unzähligen Emojis lassen sich Gefühle heute so präzise ausdrücken wie nie. Der klassische Smiley hat eine völlig neue Bedeutung bekommen.“
SZ Februar 2018: „Roboter und Computerprogramme lernen, Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren. Die Systeme simulieren bereits Bewerbungsgespräche und können Autisten die Gefühle ihrer Mitmenschen erklären.“
SZ Februar 2018: „Wie kommt Emma Watson in einen Hardcore Porno? Mit einer App, die Gesichter in Filme kopieren kann. Über den jüngsten Triumph der KI.“
SZ Februar 2018: „Augen auf. Chinas KP erfüllt sich den Traum aller autoritären Herrscher, die totale Überwachung und Kontrolle des Volkes.“
SZ April 2018: „Auf der falschen Spur. Angeblich kann moderne künstliche Intelligenz sexuelle Orientierung, kriminelle Neigung und andere menschliche Eigenschaften an Gesichtern ablesen. Doch in der Praxis gibt es viele Probleme.“
Juni 2018 – Physiognomische Tabus
Gesichtsrundschau: wenige Logbücher sind so auf Zuwachs programmiert wie diese faziale Rundschau, die ich seit 2010 führe, aber schon etwa 1991 viel unsystematischer begonnen habe. Mein Buch „Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Geschichte der Physiognomik“ erschien 1995 im damals noch existierenden Verlag der ostdeutschen Akademie der Wissenschaften und holte für das wiedervereinigte Deutschland eine Denkwelt zurück, die man aus dem deutschen Diskurs seit 1945 verbannt hatte: sie erschien zu stark vom NS-Rassismus verderbt. Und das stimmte ja auch. Nur konnte dieses physiognomische Tabu weder die Tatsache leugnen, dass Menschen Gesichter haben, noch dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Kommunikation über diese Gesichter vollziehen, in Gestalt der Mimik und natürlich der Stimme. Beides wurde zwar von Film und Fotografie zu höchster Raffinesse weiterentwickelt, aber die abstrakte Malerei nach 1945 huldigte ersteinmal dem physiognomischen Tabu. Nur wenige Künstler wagten sich an das Sujet: wer sich mit dem Menschengesicht im Jahre Null befasst, findet Maler wie Gerhart Altenbourg als Schlüsselfigur neben der „Art Brut“ eines Jean Dubuffet. Beiden könnte man eine Art “faziales Stottern“ in der Kunst attestieren.
Weiter als heute könnte man von diesem Tasten und Suchen nicht entfernt sein. Täglich erreichen uns Nachrichten von der „Gesichtsfront“: sei sie kosmetisch, supervisionistisch, epigraphisch oder gleich artifiziell im Sinne der Künstlichen Intelligenz. Roboter, die in unseren Alltag eingeschleust werden sollen, müssen nicht nur unsere Gesichter erkennen, unsere Mimik lesen und unsere Stimme hören können, sondern eben auch selber Gesichter haben, deren Mienenspiel uns vertraut werden soll.
Eine der wuchtigsten Anwendungen physiognomischer Diagnostik stammt seit dem 13. Jahrhundert aus der Psychologie oder Charakterlehre, im 18. Jahrhundert auch Menschenkenntnis genannt, im 19n dann rabiat zur visuellen Kriminalistik und Rassenkunde erweitert. Dass man im Hitlerismus Menschen aus den Häusern zur Deportation holte, nur weil sie „jüdisch“ aussahen, war ein lange vorbereiteter, absolut biblischer Sündenfall der Naturwissenschaft. Viel ist zu diesem Thema geforscht worden, aber wenige Bücher haben so viel Detailwissen über diesen Abgrund vermittelt wie das eben erschienene von Axel Doßmann und Susanne Regener: „Fabrikation eines Verbrechens“, Spector Books Leipzig 2018. Es geht um einen legendären Kriminalfall aus Hitlers Reich, um den „Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte“. Das Buch im Folioformat rekonstruiert eine widerliche Story um einen zwangsterilisierten Berliner Kutscher, der 1944 von der NS-Polizei als Massenmörder hingerichtet wurde. Das Urteil traf nicht zu: Doßmann und Regener rekonstruieren diesen unerhörten Fall sowohl in der NS-Geschichte als auch in der folgenden Visual History der Nachkriegsjournalistik. „Die Konstruktion des Bösen und Anormalen und ihre gesellschaftlichen Funktionen in Diktatur und Demokratie“ ist ein Lehrstück für den diskriminierenden Blick unserer unmittelbaren Gegenwart geworden.
November 2016 – Von einer Nudität war keine Rede
Soeben erschienen ist ein Tagungsband aus Lausanne über „Physiognomisches Schreiben. Stilistik, Rhetorik und Poetik einer gestaltdeutenden Kulturtechnik“, hg. von Hans- Georg von Arburg, Benedikt Tremp und Elias Zimmermann. Es ist ein Band aus der Reihe „Das unsichere Wissen der Literatur“ (Rombach in Freiburg i.Br.), die hier nun also den Topos des ungefähren und trügerischen Wissens aufnimmt, den wir mit der physischen Wahrnehmung assoziieren müssen. Das weitgespannte Themenfeld reicht von Lavater bis zu Kafka, von Handschriften- über Architektur – Tanz- und Stimmdeutung. Dass bei einer Publikation aus der Schweiz wieder der Terminus „physiognomisch“ in einem neutralen Sinne verwendet
wird, ist zu begrüßen. Er hat bekanntlich eine enorme Begriffsgeschichte hinter sich und es ist töricht, ihn zu vermeiden, wie im neuen Heft der Zeitschrift Fotogeschichte (140, Jg.36), zumal wenn dort Forschungen zur Charakterdeutung in den 1930er Jahren vorgestellt werden. Tatsächlich wird in diesem Wintersemester 2016/17 auch in Berlin eine ganze Ringvorlesung über Physiognomik in der Antike durchgeführt: ein inzwischen gut beforschtes Gebiet, das aber immer noch weitere Präzisierungen im orientalischen Bereich verlangt.
Wie dicht der physische und der metaphorische Begriff des Gesichts aneinander gefesselt bleiben, kann man am Management von Facebook verfolgen. Die dringende Bitte, auf Facebook keinen gesichtszerstörenden hate speech zuzulassen, entspricht dem Bewußtsein einer nahen Beziehung. Dass es gleichwohl keine identische ist, musste man jüngst in der Diskussion um die Burka immer wieder verteidigen. „Gesicht zeigen“: so hiess eine Bewegung, die im Jahr 2002 von Uwe Carsten Heye, einem hochrangigen Politiker der SPD, ins Leben gerufen wurde. „Gesicht zeigen“ sollte man gegen Rassismus und Antisemitismus – im Sinne von moralischer Standfestigkeit gegen beides. Von einer Nudität war keine Rede. Die Burkafeinde, die nur noch nackte Gesichter sehen wollen, haben den Satz in sein Gegenteil verkehrt, zur allgemeinen Konfusion.
Oktober 2016 – Schlagrahm mitten ins Gesicht
Das Rad der physiogonomischen Hysterie dreht sich immer schneller. Am 1. Oktober teilte die Neue Zürcher Zeitung mit, dass sich als Spiel des Jahres ein Game namens „Pie Face“ herausgestellt hat. Die NZZ schreibt: „Es wurde 1968 erstmals von Hasbor veröffentlicht, die Lizenz ging später aber an Rocket Games über. Das Spiel geriet in Vergessenheit, bis in der Vorweihnachtszeit 2014 ein Video auf Facebook über 30 Millionen mal geteilt wurde: Es zeigt den Barbier-Salon-Besitzer Martin O’Brien aus dem schottischen Wishaw, wie er mit seinem Enkel Pie Face spielt, dabei viel Spass hat und Schlagrahm mitten ins Gesicht bekommt. (…) Das Ganze ist ein Kinderspiel und soll Spass machen, mehr nicht.“ Und doch wurde es ein Millionenseller nicht nur für Kinder. Man könnte sagen: es hat endlich Facebook um ein Kinderformat erweitert. Bedenkt man, dass noch vor rund 6 Jahren deutsche Studenten das Wort Facebook nicht übersetzen konnten, weil der Name für sie nur ein Laut war, ist das doch ein Fortschritt.
Ernster ist schon die neue „Enke App“. Sie wurde vor ein paar Tagen vom DFB vorgestellt, der Name stammt vom ehemaligen Nationaltorwart Enke. Ein Torwart muss Schüsse ins Tor abwehren, so wie wir normalerweise doch auch Torten vor dem Gesicht aufhalten. Die Enke App. gehört zur Gruppe der gesichtserkennenden Computer, des „Affective Computing“, dem sich vor allem das Institute for Creative Technologies in LA widmet. Hier werden auch robotische Therapeuten entwickelt, wie die frühe Eliza, denen sich Menschen offenbar nicht ungern eröffnen, weil sie Mimik und Stimme der Patienten genauestens registrieren und deuten können. Auch Lehrer werden inzwischen so hergestellt, die auf die Schüler mehr Eindruck machen, weil sie irgendwie lustig und neutral wirken. „Overtrust“ nennt man diese Einstelllung, die vom Fraunhofer Institut hierzulande erforscht und genutzt wird. Der Ethiker Arne Manzeschke begleitet diese Entwicklungen. Er fürchtet weniger den Fortschritt der Technik als vielmehr die menschliche Bereitschaft, sich selbst als Maschine zu begreifen.
Geradezu atemberaubend in dieser Hinsicht ist das Interview mit den Chefs von Microsoft im SPIEGEL vom 15. Oktober. Nicht nur ist diesen Machern die soziale Welt völlig gleichgültig, sie sehen sie auch schon durch das Cloud Computing vollkommen umgestaltet. Wie die Welt sich den Strom besorgen soll, den man zu all diesen smart objects benötigt, bleibt unbesprochen.
Juli 2016 – Intelligente Maschinen
In der FAZ vom 8. Mai 2016 erschien ein langer Artikel von Friederike Haupt: „Middelhoffs Lächeln. Was Journalisten in einem Gesicht lesen können. Oder wollen.“ Der Artikel bot ein wunderbares Beispiel für die dauerhafte Dienlichkeit physiognomischen Raisonnierens. Der ungeheure Sturz des einstigen Chefs von Bertelsmann zum Assistenten einer
Behindertenwerkstatt in Bethel, geschildert am Leitfaden seines Siegerlächelns, das schliesslich aber doch in den letzten Krankheitszuständen verschwand. Der Sozialphilosoph und Anthropologe Helmut Plessner hat dem Lächeln 1950 eine eindringliche Studie gewidmet und diese mimische Kundgabe zu den eigentlich menschlichen gezählt, eben weil es so unendlich vieldeutig ist.Es ist die Miene eines „Mängelwesens“, um Arnold Gehlen zu zitieren. Wie anders hat das noch Charles Darwin gesehen. Er fand das eigentlich humane Mienenspiel im Erröten: denn nur der kommunikative und schambereite Mensch kann sein Gegenüber wissen lassen, dass er weiss, was dieser von ihm denken könnte, ohne es zu sagen. Stellvertretend für eine ganze Klasse der sozialen Schichtung kannte Herr Middelhoff diese Miene offensichtlich nicht und strafte dergestalt Darwins Naturgesetz leider Lügen.
Zwei andere Artikel aus diesem Frühsommer lassen die technischen Wege der Gesichtserkennung erkennen. Die Münchner Messe namens „Automatica“ hat die bestürzend weit gediehene Roboter Industrie vorgeführt: Demnach sollen alle möglichen Maschinen „Augen“ erhalten, mit denen sie erkennen können, ob Menschen in gefährliche Nähe kommen, oder wie man sich sicher durch bestimmte Fertigungsstraßen bewegt. 58 Prozent der deutschen Unternehmen haben mit intelligenten Maschinen gute Erfahrungen gemacht; 86 Prozent erwarten weitere Verbesserungen. Die Roboter Generation 4.0 hilft schon in den Altenheimen Menschen tragen. Wenn sie erst Augen haben, wird es eine atemberaubende Kommunikation geben. – Umgekehrt haben russische Tüftler jetzt eine handliche Technik der absolut einseitigen Überwachung erfunden, eine App namens „FindFace“, die es erlaubt, auf allen Fotos Gesichter den sonstwo notierten Biodaten zuzuordnen.
Bemerkenswert ist auch die neue Ausgabe der Zeitschrift Fotogeschichte. Heft 140 /2016 hat zum Thema Psychologie und Fotografie einen Aufsatz von Beatriz Pichel „Die Psychologie des Lächelns bei Georges Dumas.“ Alle Artikel des Heftes befassen sich mit Themen der älteren Physiognomik, verwenden aber den Terminus nicht mehr, nicht einmal in der Einleitung. Das ist schade, denn so wird der gewaltige Unter- und Überbau dieser Forschungen nicht mehr erkenntlich. Will man das – und wenn ja, warum?
Januar 2016 – Wohin also gehört der faziale Diskurs?
Inzwischen ist der Strom der Publikationen zum Thema Gesicht weiter angeschwollen – teils im Gefolge jener „Menschenfassung“ (Walter Seitter), die uns Facebook qua „Gesichtsbuch“ eingebracht hat, teils aber auch im Gefolge der fieberhaften Digitalisierung von großen Porträtarchiven, wie zuletzt im Forschungsverbund der drei großen Archive Weimar, Wolfenbüttel und Marbach, oder auch im Kunstarchiv von Nürnberg. Weithin besprochen wurden ausserdem die Bücher von Hans Belting, „Faces. Eine Geschichte des Gesichts“ , Beck Verlag München 2014, sowie Valentin Groebner, „Ich-Plakate. Das Gesicht als Aufmerksamkeitsmaschine“, Beck Verlag München 2015; leidenschaftlich diskutiert wurden die Mode des Selfie und als Gegenstück immer wieder die Gesichtserkennungstechnik im Zuge des Terrorismus. Gerade eben haben zwei Autoren zwei der wichtigsten visuellen Dispositive erörtert: Gerhard Paul, der Historiker aus Flensburg, mit seinem Buch „Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Bild und Bildpraxen in der Geschichte“ Wallstein Göttingen 2016, sowie Sibylle Krämer mit ihrer jahrelangen Befassung mit der sogenannten „Diagrammatik“ ( in Vorbereitung).
Alle sechs genannten Ansätze spiegeln aber allenfalls die deutsche Diskussion, die ja immer eine deutschschweizerische ist, wenn man den Einfluss von Lavater bedenkt; alle sechs zeigen allenfalls den Trend der letzten Jahre auf, der unübersehbar von technischen Direktiven beherrscht wird. Der lebendige Körper, zu dem ein Gesicht gehört, ist aus diesen Diskursen weitgehend verschwunden – während doch gleichzeitig der lebendige Mensch in Gestalt flüchtender,verletzter, schreiender und sterbender Personen mit Namen, Stimme und Geschichte unser Interesse und unsere Fürsorge mehr denn je verlangt. Wohin also gehört der faziale Diskurs? Man muss darüber nachdenken, mehr denn je.
Februar 2015 – Wellcome Foundation
Wer sich ausdauernd mit der Geschichte der Physiognomik befasst, sammelt Material und Bibliographien in Buchform, Kopien und Datenbanken. Nachdem meine Büchersammlung von rund 450 Bänden im Getty Institute aufgenommen wurde, harrt nun noch mein Archiv aus einer inzwischen fast 25jährigen Forschung der sinnvollen Überführung in eine akademische Umgebung und der Zusammenführung mit anderen Leistungen dieser Art. Vor allem der Aachener Kunsthistoriker Peter Gerlach hat eine große Datenbank zu einer mehr als 2000jährigen Geschichte angefertigt, mit enormer Präzision Titel aufgenommen und Sekundärliteratur hinzugefügt. Auch in London gibt es einen solchen Überblick, die bekannte Wellcome Foundation hat ja jahrelange Workshops zum Thema finanziert. Weiterführende Nachrichten werden hier folgen!
Dezember 2014
Natürlich gibt es seit dem letzten Eintrag Fortschritte in Gesichtswirtschaft wie auch – wissenschaft. Die drei großen Bücher von Hans Belting, Sigrid Weigel und Daniela Bohde (rezensiert in literaturkritik.de) vertreten die These von der grundsätzlich artefaktischen Maskenhaftigkeit des Gesichts: dabei vergisst man freilich, dass jedes artefaktische Gesicht den Namen Gesicht nicht mehr verdient, da tote Augen kein Gegenüber erkennen können. Die astronomisch wachsende Zahl der artefaktischen Gesichter im medialen Raum vermehrt also die Zahl der Toten auf Erden sozusagen milliardenfach.
Jenseits dieser kunstwissenschaftlichen Spekulation gibt es aber natürlich die ebenfalls weiter wachsende Überwachungsneurologie; Valentin Groebner widmet sich ihr soeben; und weiter wächst auch die digitale Verarbeitung der gigantischen Porträtbestände in unseren historischen Archiven. Der neue Museumsverbund von Weimar, Wolfenbüttel und Marbach hat dazu eigene Stellen ausgeschrieben und auf der website einen blog eingerichtet: www.mww- forschung.de.
Januar/Februar 2011
Oft wurde in dieser Rundschau auf Facebook verwiesen – es muss sein, weil viele Leute garnicht realisieren, dass Facebook auf deutsch eben „Gesichtsbuch“ heißt, sodass alles, was im Namen von Facebook verhandelt wird, in gewisser und oft auch ganz direkter Weise mit dem Gesicht zu tun hat. Die neueste Nachricht aus der FacebookWelt ist mal wieder erschreckend. In der sonntaz vom 25.26.Februar stand in einem Artikel von Nicola Schwarzmaier, dass man inzwischen bei eBay „Freunde ersteigern“ kann. Ein Mann namens Müller erhält mit dieser Geschäftsidee täglich 20 bis 40 Aufträge. Er verkauft über seine Firma Facebook-Freundschaften und -Likes. Sie werden getauscht und mit Creditpoints bezahlt. Ein hübsches Mädchen hat angeblich 132tausend Dollar mit der Versteigerung ihres Eintrags verdient. Was sagt uns das?
Gleichzeitig erfahren wir von einer umfangreichen Retrospektive der Malerin Cindy Sherman in New York, die immer wieder nur ihr eigenes Porträt darbietet, wenn auch in unglaublich vielen Posen und Verkleidungen. Und die FAZ bringt uns den neuesten Stand der Gesichtserkennungstechnologie. Angeblich kann man in der Oxfordstreet in London einen Blick in einen Werbekasten mit einer Kamera werfen, die das Geschlecht des Betrachters erkennt und einen jeweils andern Film interaktiv darbietet. Frauen werden um Spenden für ein Kinderhilfswerk gebeten, Männer werden zur Internetseite des Unternehmens geführt.
Dezember 2011
Auch im Dezember wird am Gesicht wieder an allen möglichen Fronten gearbeitet, künstlerisch, technisch, medizinisch, ökonomisch, usw. Um nur etwas aus Kunstszene zu berichten: Da ist das neue Buch des Fotografen Abé Frajndlich, der hundert Porträts von Kollegen aus den letzten 30 Jahren arrangiert hat, erschienen bei Schirmer/Mosel in München. Da ist die neue Ausstellung des israelischen Bildhauers Gil Shachar (*1965) im Stadtmuseum Siegburg, „Das geheime Leben der Skulpturen“ heißt sie und zeigt Wachsabgüsse von lebenden Personen, die anschließend koloriert werden und zum Teil völlig naturalistisch aussehen. Es sind Gegenstücke zu Gunter von Hagens Körperwelten, kommen sozusagen von der andern Seite des Tunnels, nämlich der
Mimesis anstelle der Plastination. Die Augen dieser Figuren bleiben geschlossen, so wahrt das Kunstwerk seine Distanz als künstliche Schöpfung; und dennoch, mit der Erinnerung an den Golem aus jüdischer Tradition, vermitteln sie auch eine Ahnung von einem möglichen, erschreckenden, ungeheuren Umschlag ins Leben.
Wiederum eine andere Obsession wird aus New York berichtet (FAZ 20.12.2011): hier versucht der Künstler Jason Polan seit 2008 sämtliche New Yorker zu zeichnen! Angeblich hat er schon 16tausend skizziert, alle namenlos, aber mit Datum, und also eine Art Gegenstück zu der halben Milliarde von Individualporträts, die sich inzwischen bei Facebook versammelt haben.
Am anrührendsten aber ist die Nachricht aus Japan. Hier hat eine Familie von Puppenmachern begonnen, den Hinterbliebenen von Tsunamiopfern kleine Figuren zu fertigen, die das Gesicht der Toten tragen. „Ähnlichkeitspuppen“, ein Liebesdienst aus dem Ort Iwatsuki, für alle umsonst zu haben.
November 2011
Eine sehr interessante Studie hat die SZ am 15. November bekannt gemacht, von Alexander Kogan und Kollegen von der Universität Toronto. Man hat offenbar ein Physiognomik-Gen gefunden: Menschen, die darüber verfügen, zeigen mehr Empathie als andere, können die körpersprachlichen Signale besser und schneller entziffern. Das stellt die ganze Diskussion natürlich auf andere Füße!
Gleichzeitig wuchern Forschungen mit abstrusen Fragestellungen, wie etwa nach dem Gesichtsindex eines CEOs – Chief Executive Officer – : Das Knochenbauverhältnis von Breite zu Höhe verrät angeblich leadership Kompetenz. Studien dieser Art, die ausschließlich auf Bilder rekurrieren, rechnen damit, dass „head hunters“ gleichfalls eher auf Bilder reagieren als auf lebende Personen. Realistisch daran ist freilich, dass in den globalen Unternehmen von heute auch die Angestellten ihre Chefs eher auf einem Bildschirm erleben als life, also auch ihrerseits eher auf die medial vermittelte Physiognomie reagieren können. Was alle Facebook User darin bestätigt, ihre Fotos möglichst vorteilhaft zu gestalten!
Oktober 2011
Der neue Film von Steven Spielberg zeigt den weltbeliebten Comic des Belgiers Hergé, Das Geheimnis der Einhorn in einer oszillierenden Theatralik, mit perfekter „digitaler Maske“: „Zum ersten Mal hat man nicht mehr das Gefühl, es mit einem schlechten Kompromiss aus Real- und Trickfilm zu tun zu haben sondern mit einer eigenständigen Filmästhetik. Das liegt allerdings weniger an der fortgeschrittenen Technik als an der Personenregie von Steven Spielberg“, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR.
Andere Kritiker sind nicht so begeistert, wie zum Beispiel Fritz Göttler von der SZ vom 26.10., der meint, der Film lande „in einem toten Niemandsland… mit monströsen Figuren, die bei aller Rasanz, zu der die Dramaturgie sie verdonnert, ihre plastilinöse Plumpheit nicht kaschieren können.“ Auch Andreas Platthaus in der FAZ moniert vieles und vor allem das Fehlen einiger hoch beliebter Szenen. Der ungeheure Aufwand, mithilfe der sog. Motion-Capturing-Technik gezeichnete Figuren zu vermenschlichen, demonstriert die Zielführung der Kinowelt: den Schauspieler letztlich zu ersetzen, wie schon bei „Avatar“. Die 3D-Technik, die mehr und mehr die Kinos erobert und zum Umbau ihrer Technik zwingt, ist dabei nur ein Baustein. In wessen Gesicht schauen wir dann in Zukunft?
September/Oktober 2011
Am 7. Oktober zeigte arte eine Art physiognomischer Reportage unter dem Titel „Durchschaut: Das Rätsel der Gesichter“: einen Film von rund 55 Minuten, hergestellt von Luise Wagner und Andrea Cross. Es gab eine Einleitung über Paul Ekman, den wir hier schon öfter erwähnt haben, dann ein Interview mit einem ehemaligen Geheimdienstler, offenbar ein begabter Mienenleser, ferner ein Kapitel über einen Autisten und die neuesten therapeutischen Maßnahmen, Interviews mit Ethnologen, sowie mit einem Neurologen in Berlin, der versucht, Lügen gleich im Gehirn zu entdecken.
Noch funktioniert das nicht, und die ernüchternde Botschaft des Ganzen ist ohnehin: mimische Kundgaben werden kulturell unterschiedlich entziffert, Autisten sind nicht wirklich heilbar, die Lügenentdeckungstechnik Paul Ekmanns wenig ergiebig, auch wenn dieser enorm viel Geld damit verdient. Was man wissen sollte: Ekmans Facial Action Coding System (FACS) ist maßgeschneidert für InternetUser, die fremde Gesichter auf einem Screen ausgiebig zoomen können! Daher also auch für die Überwachungstechniker, Kunsthistoriker, DVD Verbraucher geeignet.
August 2011
Wie schon angekündigt, hat die große Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ im Berliner Bode Museum inzwischen ihre Pforten geöffnet: 170 Exponate sind zu besichtigen, darunter Gemälde von Antonello da Messina, Gentile Bellini, Antonio de Pollaiuolo, Sandro Botticelli, Leonardo da Vinci und Donatello. Hinzukommen Büsten und Medaillen, um möglichst sämtliche Porträtversionen und -funktionen des 15. Jahrhunderts an den Höfen Florenz, Venedig und Norditalien anschaulich zu machen. Der Liebling scheint „Die Dame mit dem Hermelin“ von Leonardo , aus dem Jahr 1490, zu werden: das Porträt der Geliebten des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza.
Ebenfalls Aufsehen erregt hat ein Buch von Günter Karl Bose (Hrsg.),“ Photomaton. 500 Automatenbilder: Frauen, Männer, Kinder. 1928-1945.“ Institut für Buchkunst in Leipzig, sehr gelenkig rezensiert von Christian Geyer in der FAZ vom 18. August. Die Besprechung zeigt einmal mehr, wie viel nicht nur im Auge des Betrachters liegt, sondern vor allem in seiner Sprache, in seinem assoziativen Horizont, der von akademischer Seite in aller Regel verengt wird.
Den Gipfel des physiognomischen August brachte aber die Süddeutsche Zeitung mit einer Collage von zwölf MerkelGesichtern, alle mehr oder weniger entstellend, jedenfalls karikaturistisch ausgesucht und montiert. Ein Rückblick auf die Blüte der physiognomischen Denunziation im 19. Jahrhundert, als Daumier die Parlamentarier insgesamt als groteske Masken vorführte und Louis-Philippe als „Poire“, als Birne unsterblich machte.
Juni/Juli 2011
Denkwürdig fand unlängst die FAZ die Tatsache, dass Facebook inzwischen einen Gesichtserkennungsdienst auf den eigenen Seiten freigeschaltet hat. Von nun an kann man jedem Mitglied, das auf einem Foto übermittelt erscheint, einen Namen zuordnen. Angeblich eine praktische Erfindung, auch wenn die Zuordnungen nicht immer stimmen. Mit Recht schreibt aber die Zeitung am 13. Juli auf der ersten Seite: „Rasterfahnder werden das auch so sehen“ – und ermahnt die User, dass man den Dienst auch nachträglich deaktivieren kann. „Vielleicht wäre jetzt der richtige Augenblick.“
Parallel dazu erfahren wir aus dem New Scientist von einer neuen Erfindung: einer Brille, welche die aktuelle Stimmung des Gesprächspartners erkennen helfen soll. Rosalind Picard vom MIT hat in diese Brille eine Kamera eingebaut, die im Gesicht des Gegenübers 24 verschiedene Punkte abtastet, die Wiederholungen der Mienen registriert und das Schema mit sechs gespeicherten Gesichtsausdrücken aus der Forschung vergleicht. Es sind dies die Mienen von Denken, Zustimmung, Konzentration, Interesse, Verwirrung und Ablehnung – als könne man dies wirklich
eindeutig fixieren. Das Ergebnis wird über Lautsprecher am Brillengestell mitgeteilt. Das Ganze soll natürlich eigentlich der Kontrolle der Werbung dienen: kommt sie an oder nicht?
Mai 2011
Das Jahr 2011 will wenigstens hierzulande offenbar zum Jahr des Gesichts werden. Nicht nur die steigende Zahl der Operationen – siehe den Eintrag vom April -, die neuen Mitgliederrekorde bei Facebook, (inzwischen 20 Mill.), auch die markanten Publikationen lassen darauf schließen. So erschien vor kurzem bei Rowohlt das Hauptwerk des amerikanischen Gesichtsfachmanns Paul Ekman unter dem Titel Ich weiss, dass du lügst. Die Erstausgabe von 1991 hieß Telling Lies, aber dann gab es den 11. September 2001, Ekman wurde vom neu gegründeten Home-Ministry angeheuert und erweiterte seine Kompetenz um die physiognomischen Erfahrungen im Umgang mit arabischen Terroristen. Weitere Zusätze gab es 2009, nachdem die höchst erfolgreiche und von ihm beratene Fernsehserie Lie to me erstmals ausgestrahlt wurde. Ekman, der für CIA und die US Armee gearbeitet hat, gilt heute als unbestrittener Chefanalytiker physiognomischer Datensätze.
Ebenfalls ein Hauptwerk zur Anthropologie und Psychoanalyse des Gesichts erschien soeben auf deutsch von Pierre Legendre, dem französischen Juristen und LacanSpezialisten: Gott im
Spiegel. Untersuchungen zur Institution der Bilder, Turia & Kant, Wien ; ein Grundwerk zum Problem des Narzissmus. Angekündigt ist ferner ein Werk des Kunsthistorikers Hans Belting über „Gesicht und Maske“. Was schließen wir aus diesem „facial turn„? Warten wir ersteinmal noch ab.
April 2011
Zu Ostern berichtete die New York Times über Gesichtsoperationen in China, einem boomenden Geschäft. Die Internationale Gesellschaft für plastische Chirurgie schätzte die Zahl der Ops im Jahr 2009 auf mehr als zwei Millionen; damit stand China nach den USA und Brasilien an dritter Stelle. Und die Zahl verdoppelt sich jährlich. In den letzten Jahren wurden Ausgaben in diesem Sektor zum viertgrößten Posten der Privatausgaben.
Wie überall rangieren dabei Gesichtslifting und Faltenentfernung an erster Stelle, aber inzwischen steigt die Zahl der Patienten unter dreissig signifikant. Vor allem Lidoperationen und Augenvergößerung nach westlichem Vorbild sind gefragt; dann aber auch markantere Nasen, im Gegensatz zur westlichen Tradition des sogenannten „Nosejobs“. Schließlich soll noch das Kinn schmaler und länger werden. Trotz bedenklicher Mängel im medizinischen Standard kommen 30 bis 40 % der operierten Patienten zurück, um weitere Eingriffe machen zu lassen. Begründet wird alles mit besseren Erfolgsaussichten im Geschäftsleben. Und bedenkt man die Rolle der Porträts in der netzbasierten Ökonomie, kann man kaum widersprechen. Das westliche, aber auch orientalische Gesicht setzt sich durch – aber wer weiss wie lange noch. Vgl.
Sharon LaFraniere, For many Chinese, New Wealth and a Fresh Face, NYT April 23, 2011
Zu all diesen Entwicklungen lese man unter anderm Bernhard Poerksen und Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Halem, Köln 2010.
März 2011
Es hat kein besonderes Aufsehen mehr erregt, was an der Front der kosmetischen Chirurgie im vergangenen Monat stattfand: die erste Volltransplantation eines Gesichts in den USA. Ein 25jähriger Texaner namens Dallas Wiens, der bei einem Unfall völlig entstellt worden war, erhielt im Brigham and Women’s Hospital in Boston in einer 15stündigen Operation ein komplettes Gesicht, das er inzwischen auch ein wenig bewegen kann. Es ist, nach den Operationen
in Spanien und Frankreich der dritte Versuch. Wie die Immunreaktion ausfallen wird, muß sich allerdings erst noch zeigen.
Auch an anderer Stelle gibt es chirurgische Gesichtseingriffe. In einer großangelegten Forschungsreihe, von der Volkswagenstiftung finanziert, präsentiert sich die Abteilung für Kinder Neurochirurgie der Berliner Charité zusammen mit dem Berliner Zentrum für Literatur – und Kulturforschung. In den kommenden drei Jahren soll die Geschichte der medizinischen wie kulturellen Schädelwahrnehmung und Schädelmanipulation reflektiert werden. Darüber wird wird weiter berichtet!
Februar 2011
Eine Ausstellung im Münchner Haus der Kunst und ein opulenter Fotoband haben Ende letzten Jahres den fazialen Diskurs denkwürdig zugespitzt. Die Ausstellung, die Anfang Februar endete, zeigte Gesichtsbilder der holländischen Malerin Marlene Dumas, kombiniert mit Werken alter Meister wie Rembrandt, Hals, van Dyk und anderen. Zusammengeführt wurden sie unter dem Titel „Tronien„: einer Bildgattung vor allem aus dem 17. Jahrhundert, in der das Gesicht in einer Mittellage zwischen Musterbild, Ausdrucksstudie und Maske erscheint, also ohne Bezug auf ein lebendes Modell. So entwirft auch die Malerin Dumas Hunderte von Gesichtern meist von Frauen, und die Modelle sind unwichtig, meist steht die Miene allein im Raum und redet zum Betrachter. Hohle Vielfalt? Kann wirklich Jesus als Vera Ikon hier auftauchen – weil es einen historischen Jesus nicht gab?
Keine Idee von Maske, keine Idee von Muster oder Ausdrucksstudie gibt es in dem Fotobildband Menschenaffen wie wir.Porträts einer Verwandtschaft von Jutta Hof und Volker Sommer. Eine Großaufnahme nach der andern präsentiert Individuen aus den vier großen Gruppen Orang Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo. Jedes Gesicht gehört einem Individuum, jedes hat auch typische Züge, jedes einen emotionalen Appell. Könnten wir ohne eine solche Idee von authentischen Gesichtern überhaupt leben?
Januar 2011
Das neue Jahr beginnt mit den Verlagsvorschauen, die immer früher kommen und immer längere Jahresstrecken ankündigen. Das Hauptereignis zum ersten Januar war natürlich die Unterstützung von Facebook durch Goldman Sachs und russischer Hilfe: 500 Millionen Dollar sind zugezahlt worden, auf fast 50 Milliarden Dollar hat sich der Wert des „Gesichtsbuches“ erhöht, man wartet gespannt auf den Börsengang.
Im Kunstverlag Schirmer Mosel gibt es das begleitende Bildprogramm: Gleich drei berühmte Fotografen werden mit Porträtalben vorgestellt: über 500 Man-Ray-Portraits aus dem Centre Pompidou; der griechisch-britische Fotograf Platon mit einer Sammlung von 130 Gesichtern unter dem TItel „Power-Ein Portrait der Macht“ sowie ein „Pantheon des deutschen Films“ in hundert Farbtafeln von Jim Rakete. Sicher werden es nicht die letzten GesichterSammlungen in diesem Jahr bleiben, denn für den kommenden August ist im Berliner Bode Museum einen strahlende Ausstellung mit 150 Portraits der Renaissance angekündigt! Wird man, nach dem Börsengang von Facebook, nicht bald vom Facial Turn sprechen?
November/Dezember 2010
In der ersten Dezemberwoche findet in Dresden ein Kongress zur Datensicherheit im Internet statt – eines der Hauptthemen wird, laut Thomas de Maziere, dem Innenminister, die Frage der Gesichtserkennung sein. Neueste Software erlaubt ja, die Gesichter auf digitalen Porträts namentlich so zu kodieren, dass diese Gesichter im Internet sofort überall wieder erkannt und
benannt werden können. Kann man das verhindern? Es ist doch, als sei ein Lasso ausgeworfen, dem niemand mehr entgehen kann, oder nur Menschen in der Dritten Welt ohne Internetanschluss.
Umso auffälliger sind die Anstrengungen der kosmetischen Chirurgie, die inzwischen eine „Epithetik“ kennt. „Epithetiker“ sind kosmetische Chirurgen, welche Unfallopfern das Gesicht rekonstruieren: nach dem Vorbild von „Prothetik„. Anders als die „Prothetiker“, die ja auch mit nicht analogen Gliedmassen arbeiten können – also etwa einem Holzbein – müssen die Epithetiker das Gesicht so genau wie möglich rekonstruieren, bzw. verbessern. Die FAZ brachte am 1. Dezember einen Bericht über Jörn Brom, einen von 38 Epithetikern in Deutschland.
September/Oktober 2010
Die im August berichteten Rechtstreitigkeiten um das Wort „Face“ haben im Oktober sozusagen ihren Höhepunkt erreicht: nämlich im Film um den Begründer von Facebook, Mark Zuckerberg. The Social Network startete am 1. Oktober und hat seither Millionen Zuschauer und Dollar eingebracht.
Verblüffend für Facebook-Laien ist der Ursprung des Ganzen angeblich aus der Laune zweier Studenten, mit technischen Mitteln die Schönheit der Freundinnen zu evaluieren. Im Klartext: evolutionäre Ästhetik zu betreiben. Vor aller Welt möglichst schön, oder mindestens interessant zu erscheinen, sich selbst im Akt des Kommunizierens als Marke zu etablieren, ist Facebook also von Anfang an eingeschrieben. Es ist damit auch ein Sieg der ökonomischen Vernunft, die auf Wettbewerb setzt. Dass es dabei auch durchaus unredlich zugeht, ist das Thema des ganzen Films, der als Gerichtsverhandlung angelegt ist, aber mit einem Vergleich endet.
August 2010
Am 27. August berichtete der Web 2.0 Blog TechCrunch, dass die Firma Facebook im Moment versucht, den Wortbestandteil „Face“ als eigenen Markennamen schützen zu lassen. „Facebook“ als Kompositum ist natürlich längst geschützt. Die Marke „Face“ erhielten die Betreiber angeblich ursprünglich von einer britischen Firma namens CIS Internet Ltd, die ihrerseits eine Site namens „Faceparty“ betrieb.
Wie auch immer: laut TechCrunch hat Einspruch gegen dieses Marketing Aaron Greenspan erhoben, der sich als eigentlichen Erfinder von Facebook betrachtet, damit aber juristisch unterlag. Inzwischen hat er eine eigene Firma namens Think Computer, die ihrerseits ein App für handys unter dem Namen „Face Cash“ vertreibt. Face Cash! Andererseits gibt es auch bei Apple eine VideoMarke namens „Facetime“… Wie auch immer: laut TechCrunch hat Einspruch gegen dieses Marketing Aaron Greenspan erhoben, der sich als eigentlichen Erfinder von Facebook betrachtet, damit aber juristisch unterlag. Inzwischen hat er eine eigene Firma namens Think Computer, die ihrerseits ein App für handys unter dem Namen „Face Cash“ vertreibt. Face Cash! Andererseits gibt es auch bei Apple eine VideoMarke namens „Facetime“…
Facebook, Faceparty, Face Cash, FaceTime: die Inflation des Wortes im Web 2.0 entspricht einer Entwicklung, die das neue Buch von Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke beschreibt. Die Casting Gesellschaft liefert schlagende Beobachtungen zum heutigen Stand der digitalen Gesellschaft. Facebook, Youtube, Flickr etc. „Ein ganzes Volk wirkt mit an der Verbreitung einer >indiskreten Technologie< (so der Soziologe Georg Cooper), die eine fortwährende wechselseitige Beobachtung und ein den Alltag durchdringendes Medientraining erlaubt. Ich trete auf, also bin ich!“
Aber ist das wirklich so neu? Hat nicht der französische Sozialphilosoph Guy Debord schon 1967 seine Sozialkritik namens La Societé de Spectacles veröffentlicht? Und fast zehn Jahre zuvor Erving Goffman den Bestseller Wir alle spielen Theater? Und hat nicht überhaupt der
amerikanische Soziologe David Riesman bereits in den 50er Jahren den Begriff der „aussengeleiteten Gesellschaft“ geprägt, womit er die kommende Mediengesellschaft beschrieb? Sein Buch namens The lonely crowd erschien zuerst 1950 und gilt als erster soziologischer Bestseller überhaupt. Der zweite Band von 1952 hiess dann schon Faces in the crowd.
Juli 2010
Das Wort Gesicht scheint umgangssprachlich immer mehr synonym mit dem Wort Person zu werden – Facebook machts möglich. „Gesicht zeigen“ heißt seit einigen Jahren eine Kampagne gegen Fremdenhass – hier versteht man unter Gesicht allerdings den Anteil an Zivilcourage im öffentlichen Auftritt, das Hinsehen statt Wegsehen.
In der FAS vom 25. Juli wird von den Erfolgen berichtet, die Paul Ekman (*1934), der dienstälteste Mimikforscher der scientific community, noch immer zu verzeichnen hat. Sein in den sechziger Jahren entwickeltes sogenanntes Face Action Coding System (FACS) tritt mit dem Anspruch auf, interkulturell gültige, also angebornene mimische Kundgaben gefunden zu haben, basale Gesichtsausdrücke von Wut, Freude, Überraschung, Trauer u.a. In den Jahren nach seiner Emiritierung hat sich Ekman als teurer Lügendetektor sowohl der Wirtschaft wie der Politik anempfohlen, zuletzt dem US-Homeministry mit dem Versprechen, Terroristen bei den Grenzkontrollen entlarven zu können. Die Ergebnisse sind aber unbefriedigend, und die Kollegen bezweifeln das nicht öffentlich gemachte Verfahren. Körpersprachlich nervös werden kann man im Gespräch mit Grenzkontrolleuren aus vielerlei Gründen.
Genutzt wird das FACS aber inzwischen auch von der Roboterindustrie. In den USA und n Südkorea arbeitet man an der Entwicklung sogenannter „social machines“, die in der Kindererziehung eingesetzt werden und Sprachunterricht erteilen sollen. In beiden Fällen müssen sie sowohl Mimik entziffern als auch selbst produzieren können. Die wichtigste Miene im zutraulichen Umgang ist nach wie vor das Lächeln. Die entsprechende Software wurde angeblich an 70tausend Personen erarbeitet. New York Times 16. Juli 2010.
Juni 2010
An dieser Stelle soll in Zukunft einmal im Monat der zeitgenössische Gesichterkult und die dazugehörige Gesichtslesekunst, also Physiognomik von heute, kommentiert werden. Anlass ist ein Artikel einer großen deutschen Wochenzeitung vom 10. Juni über den Kandidaten zum Amt des Bundespräsidenten, Christian Wulff. Der Text ist betitelt mit „Eine Stilkritik“. Illustriert wird er nicht mit einem Porträtfoto sondern mit diversen Kleidungsstücken, die Wulff angeblich trägt. Jedes Teil ist mit einem Preis versehen; alle zusammen ergeben den Preis der Oberfläche, um die es dem Autor ausschließlich geht. Selten hat das alte Lob der Oberfläche eine so fatale Anwendung gefunden. Nichts davon soll hier zitiert werden. Denn es handelt sich um eine Textsorte aus der Weimarer Republik: um physiognomische Verhetzung.
Uslars Text passt aber sehr gut in den nervösen, wenn nicht sogar brutalen Umgang mit dem menschlichen Gesicht, der sich seit der digitalen Kehre anbahnt. Da sind einerseits die Bestrebungen der biometrischen Identifizierung als Reaktion auf den Terrorismus. Da sind andererseits die Etüden der social networks. Facebook hat Schule gemacht; Facebook verlangt das attraktive Weltgesicht und dekonstruiert es zugleich vollständig.
Gegenbewegungen sind seit langem unterwegs, wenn auch leider in der Regel elitär. Soeben erschien z.B. ein Buch von Freddy Langer, Blind Date. 40 Schriftsteller inkognito, im Knesebeck Verlag. Der Autor hat jahrelang Schriftsteller mit Schlafbrillen fotografiert; unter dem Titel „Schlafende Geister“ sind sie im Literaturarchiv Marbach zu sehen. Anders als zu Zeiten Stefan Georges, einer Hoch-Zeit physiognomischer Deutung, verhüllen die Dichter- und Künstler-Fotos mehr als sie zeigen. Und recht haben sie!
Eine andere Idee hat unlängst der Kunsthistoriker Hans Belting auf einer Tagung des Berliner Zentrums für Literaturwissenschaft vorgetragen. Nach seiner Meinung sind alle Gesichter überhaupt nur Masken, die gemalten wie die plastischen wie auch die lebenden, mit denen wir uns begegnen. Das scheint mir nun wieder übertrieben. Dass die Gesichter unserer Mitmenschen im Alltag aus Fleisch und Blut sind, dass sie verbindlich Nachrichten aller Art übermitteln, ist eine Arbeitshypothese unserer ganzen Sozialität. Hier nur Masken finden zu wollen, hat gnostische Züge, stammt aus einer kategorialen Verwechslung.
Eine ganz andere Gegenbewegung findet man auf der Website des Berliner BodeMuseums. Hier wird für 2011 eine strahlende Ausstellung mit 150 Porträts aus der Renaissance angekündigt. Jedes einzelne ist ein Meisterwerk, jedes einzelne führt eine ganze Geschichte mit sich. Nicht alle Geschichten sind so unerschöpflich wie jene der Mona Lisa, aber viele geben Rätsel auf, und bestätigen damit die Devise des mährischen Star-Physiognomikers Rudolf Kassner: „Der Mensch ist so, wie er aussieht, weil er nicht so ist, wie er aussieht“.