Claudia-S

Über Claudia-S

Der Autor hat bisher keine Details angegeben.
Bisher hat Claudia-S, 62 Blog Beiträge geschrieben.

20. Januar 2025 – Devil’s Face?

Gleich wird er gekrönt, gleich wird er den Eid auf eine alte Bibel schwören wie schon 2017, und die halbe Welt wird zuschauen. Das amtliche Gesicht dazu erschien heute in der FAZ auf der dritten Seite.  Man sieht einen übermüdeten bad guy,  schlechtgelaunt, in schlecht beleuchteter Untersicht:  aber nein, diese Aufnahme gilt als präsidial, erscheint schon im neuen wikipedia Eintrag. Zum Fürchten!  Schütter und vergreist ist die berühmte Haartolle, drohend verschlagen die Miene, schmallippig, brauenlos, mit zweierlei Blick aus zweierlei Augen, die amerikanische Fahne im Knopfloch. „Zweierlei Blick“ wäre wohl untertrieben: der Mann spielt den „Rächer der Enterbten“ in Gestalt eines Hochfinanzjongleurs, eines Immobielienhais, mit teuflischer Kenntnis im Showbusiness als sogenannter „Apprentice“. Was heisst hier  „Mr. President“?

2025-01-22T12:15:41+00:0001 '25|Gesichtsrundschau|

13. Januar 2025 – Zum Schweigen bringen

Zensur von A bis Z, Redeverbote von der Antike bis heute,  von Sokrates bis Solidarnosc, von Galilei bis zu Trumps Twitter-Account- zu diesem Thema hat Barbara Sichtermann soeben eine „Zeitreise von Fall zu Fall“ als Sammelband vorgelegt. Viele bekannte Autoren wirkten mit, darunter ihr Sohn Simon Brückner, Autor eines bekannten Parteiporträts der AfD. Thierry Chervel,  Erfinder des perlentaucher, untersucht hier etwa die seltsame Verwandtschaft der islamischen Fatwa mit unserer westlichen Cancel Culture, ausgehend vom Fall  Salman Rushdie, Autor der „Satanischen Verse“. Nach jahrelangem Versteck  wurde er doch noch Opfer einer Messerattacke. Wir kennen und fürchten sie alle,  die zahllosen mörderischen Racheakte der islamistischen Welt, unfassbar brutal und/ oder sogar unfassbar abgefeimt wie der Angriff von 9/11 aus dem Jahr 2002.  Welche Öffentlichkeit wurde deutscherseits damals getroffen? Der Komponist  Karlheinz Stockhausen soll angesichts der lodernden Twin Towers vom „größten Kunstwerk“ gesprochen haben:  was wiederum eine unfassbare Verirrung der Urteilskraft westlichen Geistes war, genauer: des moralischen Geistes. Und um dessen Urteilskraft geht es in allen genannten Fällen.  Wer soll wann und warum eine militante performance  öffentlich wagen,  und wann soll wer und warum wegen einer solchen performance sterben oder verhaftet werden oder den Ruf/ Beruf verlieren – das zu entscheiden obliegt einer öffentlich ambitiösen Urteilskraft von Akteuren aller  Art. Raphael Gross, Direktor des Deutschen Historischen Museums, veröffentlicht seit 2019 eine Zeitschrift unter dem Titel „Historische Urteilskraft“. Die neueste Ausgabe 06  stammt von 2024. Volker Braun macht sich darin Gedanken über „die Strapazen der Urteilskraft“. Sein Text folgt auf Texte anderer SchriftstellerInnen an derselben Stelle in den vorausgehenden Heften über dasselbe Thema, angefangen mit  Daniel Kehlmann.  Literatur kennt und sucht eben –anders als Heilige Schriften –  keine diktatorischen Handlungszwänge. Suchen wir heute nach Heiligen Schriften?

 

 

 

2025-01-13T18:31:04+00:0001 '25|Gesprächsrundschau|

8.Januar 2025 – Haffners Duell 1939

Vorige Woche druckte die FAZ einen Artikel von Hannes Hintermeier, dem langjährigen Ressortleiter, über einen singulären Text aus der Hitlerzeit. Die  „Geschichte eines Deutschen – Erinnerungen 1914 – 1933“ von Sebastian Haffner stammte aus dessen Nachlass. Entstanden war er 1939, vollständig erscheinen konnte er erst 2002. Die ersten Sätze lauteten:

Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zum Gegenstand eine Art Duell. Es ist ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern: einem überaus mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und einem kleinen, anonymen, unbekannten Privatmann.  Dies Duell spielt sich nicht auf dem Felde ab, das man gemeinhin als das Feld der Politik betrachtet; der Privatmann ist keineswegs ein Politiker, noch weniger ein Verschwörer, ein >Staatsfeind<. Er befindet sich die ganze Zeit über durchaus in der Defensive. Er will nichts weiter, als das bewahren, was er, schlecht und recht, als seine eigene Persönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private Ehre betrachtet. Dies alles wird von dem Staat, in dem er lebt, und mit dem er es zu tun hat, ständig angegriffen, mit äußerst brutalen, wenn auch etwas plumpen Mitteln.“

Wer dächte bei diesen Sätzen nicht sofort an das tödliche Duell zwischen Russland und der Ukraine?  Haffner  dachte vermutlich an etwas anderes. Preussische Gymnasiasten wie er kannten den altgriechischen „Dialog der Melier“ des Thukydides.  Der Kampf der kleinen Insel Melos gegen das spartanische Heer erscheint hier  in Form eines geschliffenen Dialogs:  verfasst im 5. Jahrhundert vor Christus, als eigenes Kapitel aus dem Peloponnesischen Krieg.  Auch die kleine Insel möchte gegen den mächtigen Gegner aufstehen, auch sie möchte eigenes Leben, eigenes Recht und eigene Ehre bewahren – aber umsonst. Grausam ist ihre Hinrichtung.

Haffner beschließt seine Vorrede: „Mein privates Duell mit dem Dritten Reich ist kein vereinzelter Vorgang. Solche Duelle, in denen ein Privatmann sein privates Ich und seine private Ehre gegen einen übermächtigen feindlichen Staat zu verteidigen sucht, werden seit sechs Jahren in Deutschland zu Tausenden und Hunderttausenden ausgefochten – jedes in absoluter Isolierung und alle unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit.“

Seit gestern, seit dem 8. Januar 2025, sieht sich die Welt bedroht von einer neuen, nahezu freiwillig gewählten westlichen Weltkriegsmacht, die sich gegen eine östliche in Stellung  bringen will.  Die Dimensionen eines Peloponnesischen Krieges sind längst übertroffen. Präsident  Donald Trump hat seine territorialen Wünsche vorgestellt – Wochen vor seiner regulären Inauguration.  Diese Pressekonferenz war  eine Kippfigur zwischen Dialog und Duell.  Grönland will er kaufen, Panama Kanal und ganz Kanada  übernehmen. Notfalls mit Gewalt.  Dagegen zu sein ist für uns kleine europäische Bündniswelt heute gottlob kein Einzelwunsch.

2025-01-09T15:21:19+00:0001 '25|Gesprächsrundschau|

2. Januar 2025 – Bacons Gesichter am Kreuz

Francis Bacons Porträts, 55 an der Zahl, ausgestellt in London: das ist seit November letzten Jahres ein faziales Ereignis in der National Portrait Gallery. Wo auch sonst. Die Schau „Human Presence“  – bis 19. Januar 2025 –  erhielt u.a. eine knappe Besprechung im Guardian und eine sehr ausführliche von der Nachlassverwaltung. Hier wird Kuratorin Rosie Brodley gelobt für Auswahl und Anordnung, besonders im Namen der „literalness“, als sei buchstäbliches Erkennen der dargestellten Personen ihr Markenzeichen. Nein, sagt der Guardian, niemand ist hier erkennbar ausser Bacon selber. Alle Körperlichkeit fluktuiert im Gehege einer leidenden Geschöpflichkeit,  Mensch und Tier und RangObjekt ununterscheidbar. Bacons berühmtes erstes Tryptichon von 1944 hat ohnehin nichts mit christlicher Ikonographie zu tun. Es soll griechische Racheengel zeigen, Eumeniden mit aufgerissenem Maul. Der hilfeschreiende Mund blieb ein grelles Motiv in Bacons späterem Werk, besonders der Papstdarstellung.

Gesichtliche Kollektionen wie diese sind seit Rembrandt ein eigenes Format der Kunstgeschichte. Immer wieder erschufen Künstler und präsentierten Institute des Kunsthandels faziale Sammelwerke von Fremd- und Selbstporträts. Neben den Kunsthandel trat die Wissenschaft. Eine erste Mode entstand in der Frühzeit der Physiognomik beim schweizerischen Pfarrer Johann Kaspar Lavater;  im 19. Jahrhundert, inspiriert von Charles Darwin, entstanden kriminalistische Tafeln mit Geisteskranken oder Verbrechern. Mehr und mehr einigte man sich auf die „Literalness“ der Gesichtsaussage. Das Innere kehrt sich angeblich im Gesicht nach außen. Nichts einfacher, als Verbrecher oder Verrückte am Gesicht zu erkennen. Den dämonischen Höhepunkt dieser Obsession, noch verstärkt im Kino, bildeten rassistische Entgleisungen seit dem 20. Jahrhunderts, weltweit.

Und heute? Erst gab es facebook, als Medium der Selbstdarstellung, als „Teilung“ von Status. Dann schlug das Selfie alle fremdgesichtigen Formate aus dem Feld, durch die egomane Technologie der handys. Selfies wollen Status und Schönheit, und sei als fake. Aber daneben grassiert eben seit Jahrhunderten auch eine immer schärfere staatliche Face detection. Das Passbild eben.  „Literalness“  im Dienst der Kriminalistik. In diesem fazialen techno-Tryptichon wirken Bacons Gesichter wie Hilferufe der Natur selber. Weil sie unsere unberechenbare Mimik als Fleisch erkennen lassen.

 

2025-01-09T15:19:18+00:0001 '25|Gesichtsrundschau|

25. Dezember 2024 – Das Schweigen, von wem?

Heute , am ersten Weihnachtsfeiertag, sprach Papst Franziskus den obligatorischen Segen Urbis et Orbis in Rom. Tausende von Pilgern auf dem großen Platz  lauschten, wie er die Rede mit einer Ermahnung begann: in der Ukraine sollten doch bitte die Waffen schweigen. Ist es nicht seltsam: wir reden vom „Sprechen“ oder „Schweigen“ der Waffen, als wären sie Menschen. Dabei geht es garnicht nur um Waffen von und für Menschen, weil alle Waffen auch Häuser und  Infrastrukturen, Tiere und Landschaften mörderisch treffen können und sollen. Wo das Menschengespräch endet, beginnt oder kann beginnen das Sprechen der Waffen, das Gespräch in Waffensprache.  Als Organersatz der Körpersprache. Und wie beim Menschengespräch, kann es dabei Unterbrechungen geben, Pausen und Schweigen:  Schweigen auf Dauer als tückische Finte oder als Waffenstillstand oder gar Frieden.

Die Waffen nicht sprechen zu lassen gelang  Deutschland legendär gut im Zuge der Wiedervereinigung.  Aber durften sie endgültig schweigen?  Seit dem Zweiten Weltkrieg wartet die politische Welt auf einen Friedensschluss . Die Zwischenlösung im „Zwei-plus-Vier-Vertrag „ von 1990 liess bekanntlich Reparations- und sogar Grenzfragen offen. Und nun verlangt der neue Verteidigungsminister Pistorius von uns eine neue „Kriegstüchtigkeit“. Kommunen sollen sich um Bunker kümmern, U-Bahnhöfe werden auf ihre Brauchbarkeit untersucht, Sirenen zur Probe geläutet. Aber Sirenen heulen:  als Vorspiel der Waffensprache.  Wie sollte man da nicht dem Papst recht geben, wenn er heute das Schweigen der Waffen verlangte.

2024-12-25T19:12:28+00:0012 '24|Gesprächsrundschau|

18. Dezember 2024 – Lächeln im Schlachthaus

Nach und nach kommen jetzt Berichte aus dem Inneren der befreiten Nation. Zuoberst Berichte aus dem sogenannten „Schlachthaus“, dem zentralen Zuchthaus des Landes unter Assad, Stätte schlimmster Folterungen. Vor Jahrzehnten gab es schon einmal einen Fotobericht mit Tausenden von Opfern, kaum ansehbar. Jetzt müssen die Ärzte und Pathologen sich mit den humanen Überresten befassen, um Individuen für die überlebenden Familien und Freunde  zu identifizieren. Den makabersten Zugang gewinnt man offenbar durch Vergleiche von Schädeln und Fotografien der Lebenden. Cian Ward zitiert im New Statesman einen Arzt, der perlentaucher von heute bringt eine Übersetzung: „Wir nehmen ihren Zahnabdruck und überprüfen dann sekundäre Merkmale wie Tattoos oder Operationsnarben … Außerdem bitten wir die Familien um um ein Foto ihrer Angehörigen, vorzugsweise mit einem klaren Lächeln“. Denn die Opfer, schreibt Cian Ward weiter, „sehen aufgrund ihrer verwesenden Haut, die ihre Wangen strafft [aus], als würden sie grinsen“.

2024-12-18T15:23:10+00:0012 '24|Gesichtsrundschau|

16.12.2024 – Zitterndes Schweigen

Seit einer Woche steht die politische Welt noch flammender da denn je. Syrien wurde von einer islamistischen Truppe namens HTS  vom Diktator Assad befreit, der floh samt Familie nach Moskau. Seine Soldaten liessen sich überwältigen, HTS gelangte binnen einer Woche nach Damaskus und führt seither die Regierung.  Das Volk jubelt, ein „normales“ muslimisches Leben scheint möglich. Schulen und Hochschulen sind eröffnet, Handel wird getrieben, man darf andere Währungen kaufen. Ein Freitagsgebet für alle , unzensiert, zeigte Menschen im Glück.

Gott hält sich bedeckt. Er überlässt den Dialog den Großmächten. Israel lässt erneut Waffen sprechen, ebenso Erdogan (gegen die Kurden), der Iran schweigt nach dem Verlust russischer Deckung. Amerika hofft auf den neuen Präsidenten. Die Medien präsentieren dem Westen Experten, kundige Korrespondenten wie Kristin Helberg. Sie weiss wirklich fast alles. Im youtube Kanal „jung & naiv“spricht sie fast zwei Stunden lang über die herrschenden Verhältnisse.

2024-12-18T14:44:44+00:0012 '24|Gesprächsrundschau|

7. Dezember 2024 – Das Gesicht als Brennpunkt

Buchstäblich vom Brandgeruch bei einem facelifting berichtete vor einer Woche der  SPIEGEL. Eine Mitarbeiterin hatte sich der Tortur unterzogen, natürlich nicht irgendwo oder irgendwie, sondern bei der vielleicht berühmtesten Dermatologin des Landes. „Ich rieche, wie ich verbrenne“, beginnt der Text makaber genug und seltsam platziert im zentralpolitischen Magazin der Republik. Er endet nach einer siebentägigen Schöpfungsgeschichte mit  Wiedergeburt: „ Am siebten Tag ist der Schorf fast abgefallen, die neue Haut darunter ist weich und strahlt“.

Wie lange die Jugendillusion nun wohl vorhält? Egal, Advent, Weihnachten und Silvester wetten jetzt gerade um das schönste Gesicht. Und die Medien wollen es unangenehm politisch. Teils soll Gebärfähigkeit immer weiter simuliert, teils der „Abcheckblick“ der dating industry abgefedert  werden, als gäbe es keine nationalerotischen Diversitäten weltweit. „Weich und strahlend“: Will man einfach nur jünger im festlichen Kerzenlicht erscheinen? Gabriele von Arnim sieht das wohl anders. In einer Kulturzeitsendung erschien sie unlängst fazial unzensiert wie ein bitcoin in einer bislang unbekannten organischen Währung.

Der Vergleich ist reizvoll. Denn wie verhält sich unser Gesichtskonsum zu den technischen Entwicklungen, vor allem zum facedetection Programm der Regierungen?  Die Edelbeilage der FAZ von heute gibt  Ratschläge, auch sie durchaus makaber.  Facelifting bedeutet demnach Arbeit im „deep face“. Obere Schichten werden abgehoben, untere zusammengezogen – nun ja.  „Deep-plane facelift“ heisst die Methode. Aber mit „deep face“ würden wir eher Trumps „Deep state“ oder sogar  „Darknet“ assoziieren. Also mit dem komplementären Begriff zu jenem Gesicht, das heute gnaden- und teilweise mörderisch sinnlos als nackte Oberfläche registriert und verfolgt wird.

Nichts von alldem, was das Gesicht einst in Kunst und Literatur an Bilderfindungen oder Wortstürmen erregt hat, nichts von Ausdruck, Eigenheit, Verzückung und Einladung ins Face-to-Face, in die dialogische Dimension des Begehrens, steht hier noch zur Debatte.  Deep face entscheidet vielmehr über die entzifferbare Codierung des Gesichts, die schon Primaten neuronal erkennen. Alles andere, die Haut, die 42 Muskeln, mit denen wir Ausdruck und Mitteilung erzeugen, bleibt an der, oder vielmehr IST Oberfläche.

2024-12-08T15:16:15+00:0012 '24|Gesichtsrundschau|

2. Dezember 2024 – Das Machtwort

Die tagesaktuellen Rezensionen des MerkelBaumann Buches sind inzwischen erschienen,  Zeitschriften werden folgen, Historiker warten noch auf das ultimative Desaster, für das Merkel vorauseilend verantwortlich gemacht wird.  Nur Navid Kermani, der Philosoph unter den deutschen Autoren, geht in der ZEIT etwas freundlicher auf sie ein, lobt ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen und anschaulichen DDR-Lebensverhältnisbeschreibungen. Einmütig schimpft man aber über die spätere  Kanzlerin. Nicht nur die Spaltung der CDU, vor allem die großen Krisen der letzten 20 Jahre scheint sie allein bewirkt und missmanaged zu haben; sie allein hat mit dem sprichwörtlichen Machtwort „Das schaffen wir“ 2015  katastrophischen Unsinn in die Welt gesetzt und befördert. Für ostdeutsche Menschen wurde sie zum Sündenbock.

Der Modus des „Machtwortes“ schien ja hierzulande längst vergessen. „Führerwort ist Gesetzeswort“, hiess es einst bei Carl Schmitt, der inzwischen fast täglich von TikTok UserInnen gelesen wird: nicht buchstäblich, wohl aber im Habitus der Influencer. Interessant auch, dass in der – meist männlichen – Wut auf Merkel verschwindet, was noch vor wenigen Jahren als Krise der Repräsentanz beklagt wurde: Sündenböcke sollen ja gerade repräsentieren, sind ja gerade ein archaisches Werkzeug der Demokratie, das gerade eben in Buchform unversehrt auf die Bühne zurückkehrt. Vielleicht trug diese weibliche Gestalt aus dem Osten es immer schon mit sich? Alle Welt rätselte, wie eine nicht charismatische, nicht rhetorisch begabte, nicht im Sinne Max Webers erratische Figur des öffentlichen Lebens dennoch 16 Jahre Macht über das ganze Land  ausüben konnte. War es ihre Begabung zum Gespräch, zum Kompromiss, zur ausdauernden Schlafverdrängung? Wer weiss. Vielleicht war es auch einfach das Wörtchen „Wir“ von Anfang an.

2024-12-03T11:20:10+00:0012 '24|Gesprächsrundschau|

29. November 2024 – Das verlierbare Gesicht

Vor wenigen Tagen, am 26. November, stellte  Angela Merkel ihre Autobiographie  im Deutschen Theater vor, im Gespräch mit Anne Will, der langjährigen Talkshow Moderatorin des WDR und ebenfalls langjährigen, geradezu auserwählten  Begleiterin von Merkels öffentlicher Laufbahn.  Schon einen Tag zuvor hatten die beiden einander zu einem Dialog getroffen,  im Podcast der Anne Will,sozusagen zu einem Probelauf, und das erwähnte Will nun auch im Theater und fügte hinzu: „Haben Sie eigentlich diesen Podcast schonmal angehört?“ „Nein“ , antwortete Merkel unverzüglich und traf damit die Moderatorin offenbar ins Herz. Sie antwortete kaum hörbar mit dem Satz „Na dann ist ja unser Interview hier schon gelaufen“, wobei sie ihre  langen Haare kurz vors Gesicht schob. Das war also eine Kriegserklärung. Aber es ging erstmal friedlich und freundlich weiter.  Die NZZ hat am 28 . 11. darüber berichtet. Merkel antwortete oft unter Beifall. Aber bald wechselte Anne Will den Ton. Es ging um die strittigen Fragen der politischen Existenz unter der Bundeskanzlerin – dabei will das Buch beide Lebensabschnitte gleichmässig  werten. Der zentrale Satz hiess sinngemäß: Die 35 Jahre Erziehung und Ausbildung in der DDR haben mich für die 35 Jahre politischer Existenz im Westen befähigt . Genau diese Befähigung wollte Anne Will  gnadenlos bezweifeln. Die grossen Krisen, die Flüchtlinge, die Corona Krise, das Erstarken der AfD, das Verhältnis zu Russland: nichts hielt der Beurteilung stand. Ein Thema nach dem andern sollte Gesichtsverlust auf der ganzen Linie bewirken. Dabei blieb das Publikum, oder doch der hörbare Teil, unerschüttert.  „Auch im Rückblick sehen Sie keinen Fehler?“ –  „Nein“: man klatschte.

Gesichtsgewinn, – wahrung und – verlust ist tatsächlich neben allen dramatischen Kriegshandlungen die Währung, in welcher Diplomatie heute  gehandelt wird. Sie entspricht nicht nur der masslosen Gesichtlichkeit der Selbstwahrnehmung, sondern auch der Flutung unserer Kommunikation durch Emojis, also durch vorgestanzte mimische Formeln, deren Existenz nicht etwa mehr Ehrlichkeit, sondern stereotypischere und schnellere , sprich medialere Kommunikation erlauben. Welcher politische Akt Gesichtsgewinn verspräche wird dabei längst auch öffentlich erwogen, nicht etwa im Hinterzimmer. Oder besser: dieses Zimmer liegt immer weiter hinten, ist immer verborgener. Darknet, heisst es im mafiösen Jargon, oder Deep state.  Merkel zog sich schliesslich mit einer gewitzten Replik aus der Affäre.  Wem sei geholfen, wenn sie sich schuldig und reuig erklärte? Und sei das Zugeben von Fehlern (also Gesichtsverlust) an sich schon eine Art Gütesiegel? Den ganzen brodelnden Opferdiskurs zu umgehen war wohl angesichts ihrer Lebensleistung angemessen. Und schob die 35 Jahre in der DDR fast rechtskräftig vor den Vorhang.

2024-11-30T10:14:15+00:0011 '24|Gesichtsrundschau|
Nach oben