Gesprächsrundschau

30. April 2022 – Jürgen Habermas, Vater der „Kommunikativen Vernunft“

Zehn Tage Ukrainekrieg sind seit dem letzten Eintrag vergangen, mit unablässigen militärischen Handlungen, mit Opfern an Leib und Leben, mit Fluchtschicksalen, mit diplomatischer und medialer Hochrüstung. Kanzler Scholz hat die deutsche Zurückhaltung im Waffengeschäft – ein Programmpunkt der Grünen – so lange wie möglich verteidigt, letzte Woche ist er dann überstimmt worden. Nachdem nicht nur die beiden Ampelpartner, sondern auch die Opposition aus CDU/CSU für das Liefern von sogenannten schweren Waffen plädiert haben. Könnte man an die politische Einmut aller Parteien von 1914 erinnern, an das gemeinsame Ja zu Kriegskrediten? Schreckliche Vorstellung einer fehlenden Opposition gerade in so einer Situation.

Aber nun meldet sich immerhin eine ganze Reihe von Meinungsbildnern, die diese Rolle medial übernehmen, am eindruckvollsten wohl Jürgen Habermas in der SZ vom 29. April. Auf zwei ganzen Seiten breitet er die Einwände und Bedenken aus, die fast niemandem fremd sein können: kann man die Atomdrohung von Präsident Putin beiseite wischen, als Ausgeburt eines Wahnsinnigen? Kann man die Opferzahl nicht nur an Toten und Verletzten, sondern auch an Flüchtenden und Fürsorgenden durch Kriegshandlungen beliebig steigern, und sei es im Namen von Aufklärung und Humanität, unserem europäischen Ideenparadies? Kann man politische Einrichtungen wie etwa den Internationalen Strafgerichtshof für funktionstüchtig erklären, wenn Großmächte sie nicht anerkennen?

Habermas sieht hier überall rote Linien. Ihn irritiert „die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrene Bundesregierung auftreten“. Gemeint ist hier vor allem Anna Lena Baerbock, die eine Wende der Grünen zur Kriegspartei ermöglicht zu haben scheint. Habermas schreibt: „Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.“

Er hätte vielleicht auf die Bedeutung der riskanten Operation (schwere Waffen) für die Regierung Joe Biden verweisen können. Kein Thema kann in Washington derzeit so viel Einmut unter den streitenden Parteien erzeugen wie ein veritabler, physisch anzugehender Feind – besonders der russische. Im November will Biden wiedergewählt werden – bis dahin kann er sowohl mit der Waffenlobby als auch mit den human gesinnten Demokraten „Gutes tun“. Wenigstens muss er hier keine Massenvernichtungsmittel erfinden wie einst George Bush im Irak. Und er muss keine Soldaten opfern wie einst seine Vorgänger in Vietnam.

2024-10-23T14:22:57+00:0004 '22|Gesprächsrundschau|

20. April 2022 – Grand Canyon des Dialogischen

Dieses Gelände haben wir offenbar gerade erreicht. Über das grausame Sterben des demokratisch herrschenden, staatsbürgerlichen Dialogs wird von Publizisten und Professoren nachgedacht, von Politikern inszeniert, von Künstlern nachgespielt, vom Publikum gruselfreudig betrachtet. Putin setzt soeben der Ukraine ein Ultimatum: Tod oder Ergebung in Mariupol. Der ukrainische Botschafter in Berlin verlangt ultimativ Waffen vom deutschen Kanzler. Boris Johnson will seine Abwahl durch Entschuldigungen verhindern. Elon Musk will den Kommunikationskanal Twitter kaufen, mit dem Trump seine Wahl 2016 gewann. Peter Thiel vom Silicon Valley will diesem zur Wiederwahl verhelfen zwecks Abschaffung der Demokratie. Heute abend will Marine Le Pen mit Emmanuel Macron ins entscheidende Fernsehduell treten. Sollte sie gewinnen – was viele für möglich halten – will sie die Verfassung ändern und populistische Referenden anstelle von Wahlen setzen. Alles steht zur Disposition.

2024-10-23T14:23:29+00:0004 '22|Gesprächsrundschau|

13. April 2021 – Kampfmethoden statt Dialogformate

Bedrückend genau führen uns die Kriegshandlungen der letzten Wochen das Waffenarsenal der Gegenwart vor: ausser mit traditionellen Menschenkörpern und Maschinen, kämpft man um Hoheit, vulgo Sieg, durch digitale, informationelle, chemische , atomare und raumfahrtliche Manöver. Die ganze technoide Palette unserer gegenwärtigen Existenz schrumpft auf Kriegsgebrauch – während die eigentliche Herausforderung, der Klimawandel, im Pulverdampf verschwindet. Antirussische Sanktionen verhindern im selben Atemzug Vorsorgen gegen die Aufheizung der Atmosphäre, das Auftauen der Permagebiete, die Auslöschung der Arten, usw. Kann es sein, dass Moskau genau damit rechnet? Und damit zum Fürsprecher aller Autokraten wird?

2024-10-23T14:24:03+00:0004 '22|Gesprächsrundschau|

10. April 2022 – Waffen wollen reden, nicht schweigen

Seit Tagen und Wochen rufen die Ukraine und ihre westlichen Freunde nach Waffen. Sanktionen bringen nichts, weil das russische Volk ausserordentlich belastbar zu sein scheint. Seine Geschichte kennt zahllose Beispiele diktatorischer Oppression, Entbehrungen, Menschenopfer aller Art. Das ukrainische Brudervolk der Russen lebt es nun aber vor. Es lässt sich verwunden, vertreiben, töten, um die Herrschaft des Rechts gegen die Herrschaft der Stärke, sprich: der Waffen, zu verteidigen. Es sind heldenhafte Opfer für den Geist Europas, sagen die Freunde, und versprechen täglich mehr Milliarden Hilfe. Wer wird diese Milliarden erhalten, auf welches Konto werden sie fliessen?

Auch die Kurden haben vor wenigen Jahren die (christliche) Welt heldenhaft und opferwillig gegen die islamistische Bedrohung verteidigt, freilich ohne substantielle Anerkennung durch den Westen. Warum gelingt es der Politik nicht, solche Mediatoren angemessen zu profilieren? Weil sie zwar Sprachen und Religionen haben, aber kein festes Territorium? Kriege handeln aber von territorialen Ansprüchen. „Volk ohne Raum“, der Slogan eines deutschen Schriftstellers namens Hans Grimm, versah die Mordlust der geschlagenen Deutschen mit einer archaischen Devise. Kann sie ein Selbstbild beschreiben? Welche psychoanalytische Kategorie würde sie treffen?

2024-10-23T14:24:45+00:0004 '22|Gesprächsrundschau|

29. März 2022 – Postmodernes Glasperlenspiel

Gestern besprach Wolf Lepenies in der WELT ein Buch über die sogenannte Postmoderne, von Daniel-Pascal Zorn: „Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können“. Ein Abgesang auf eine intellektuelle Mode, der wir die ersten Wahrheitskrisen verdanken. Erinnern wir uns an das Drama um Alan Sokal? Der Physiker hatte 1996 einen Artikel im postmodernen Jargon an die renommierte kulturwissenschaftliche Zeitschrift Social Text geschickt. Es ging darin angeblich um eine „Transformative Hermeneutik der Gravitationslehre“. Der hoch naturwissenschaftliche Text wurde angenommen, aber von ahnungslosen Redakteuren, die nichts von Physik verstanden. Sie waren einem Hoax aufgesessen. Die Affäre zog damals weiteste Kreise und führte zur Gründung einer neuen Zeitschrift für Geschichte.

Das Buch von Zorn, schreibt Lepenies, endet „mit einer Vision, einer Beschreibung, was die Postmoderne hätte sein können. In einem kreisrunden, transparenten Glaspalast in der Antarktis haben sich acht Männer um einen Tisch zum Gespräch und Austausch der Argumente versammelt. Der Diskurswächter Habermas hätte von ‚herrschaftsfreier Kommunikation‘ gesprochen.“

Wer möchte nicht an Hermann Hesses Glasperlenspiel denken – und hat nun doch den grausig elliptischen Tisch in Putins Reich vor Augen?

2024-10-23T14:25:21+00:0003 '22|Gesprächsrundschau|

28. März 2022 – Das Gespräch am Meere

Gestern wurde in der Berliner Akademie der Künste der Heinrich-Mann-Preis verliehen, diesmal an Lothar Müller, den langjährigen Redakteur von FAZ und SZ sowie Autor maßstabsetzender kulturhistorischer Bücher, zuletzt über Adrian Proust, den Vater des Dichters Marcel. In seiner Dankrede zitierte Müller eine eindringliche Szene aus Heinrich Manns Roman Henri IV: ein „Gespräch am Meere“ zwischen Montaigne und dem König. Eine zeitlose kommunikative Utopie – wie kann ein normaler, freilich sehr gebildeter Edelmann mit einem Monarchen sprechen und von diesem gehört werden? Es geht um die Schrecken der Bartholomäusnacht von 1573, die Heinrich Mann 1938 als Mahnmal aufruft. Der Monarch lässt sich tatsächlich etwas sagen und sucht nach Frieden. In der Geschichte des Dialogs spielt Montaigne eine herausragende Rolle. Seine Essais wurden schon zu Lebzeiten gleichsam Drehbücher für Selbstgespräche, sie haben von ihrer Tiefe und ihrem colloquialen Reiz nichts verloren.

Hat Putin einen Montaigne neben sich? Nein, der Mann heisst leider Dugin und predigt „eurasische Taten“. Wollte man Putin wirklich eine abartig böse Taktik unterstellen, so wäre es der Versuch, Millionen „westlich verdorbener“ Ukrainer in den Westen, am liebsten nach Deutschland zu treiben – wo ebenso viele Russlanddeutsche leben. Werden sie sich verbrüdern? Oder – da ja mehrheitlich Frauen und Kinder kommen – verschwistern? Die Auslassungen des ukrainischen Botschafters lassen Böses ahnen.

2024-10-23T14:26:17+00:0003 '22|Gesprächsrundschau|

20. März 2022 – Der Informationskrieg

Heute im Tagesspiegel ein Interview des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen. Er vergleicht die beiden informationellen Lager Putin und Selenskyj. Der eine ein Meister der symbolischen Interaktion, der Social Media, plus eigener Theaterkompetenz; der andere ein Meister der militärischen Realkompetenz, verbunden mit „Informationssmog“, also unaufhörlicher Desinformation. Es gibt also ein „Gegeneinander von militärischer und medialer Macht – und zwei Parallelrealitäten, die die Wahrnehmung prägen; die Wirklichkeit des Krieges und die der Kommunikation.“ Pörksen sieht beide gegenläufig: während Putin sein Volk zunehmend informationell einkesselt – wie die ukrainischen Städte!- , versucht Selenskyj sämtliche Weltparlamente zu erreichen. Pörksen folgert, die “ Implosion des Putinschen Propagandagebäudes ist unvermeidbar„, es wird eine „immer schärfere Drangsalierung von Protestierenden und ein grausames Endspiel um die Macht im Kreml“ geben, „mit unabsehbaren geopolitischen Folgen“.

Das mag natürlich alles sein. Aber warum fehlt hier die ganz reale Weltpolitik, die Diplomatie, die UNO? Gehören diese Kommunikationen etwa nicht in den medienwissenschaftlichen Horizont? Was bedeuten die zahlreichen Telefonate der Staatschefs Macron, Biden, Erdogan, Scholz mit diesem russischen Präsidenten, diesem Freund des chinesischen, dem eigentlichen Weltherrscher? Sind die Telefonate nur lästige und politisch unergiebige Szenen für das weltweite TV Publikum oder sind es nicht vielmehr letzte Versuche der westlichen Welt, die Übermacht der asiatischen – der euroasiatischen – abzuwehren?

2024-10-23T14:27:36+00:0003 '22|Gesprächsrundschau|

17. März 2022 – Das „Wortduell“

So nennt heute das Handelsblatt den jüngsten Austausch zwischen Joe Biden und Vladimir Putin. „Das Grauen in der Ukraine, das bereits drei Millionen Menschen in die Flucht trieb, führt zum direkten Duell zwischen Vladimir Putin und Joe Biden. Alle Zurückhaltung ist weg. „Biden nennt Putin einen Kriegsverbrecher, Putin behauptet, der Westen woll Russland zerschlagen und abschaffen. Viele Länder hätten sich „damit abgefunden, mit gebeugten Rücken zu leben, aber Russland wird sich niemals in einem so erbärmlichen und gedemütigten Zustand befinden. „In wenigen Minuten will Volodymyr Selenskyj eine Videonachricht an den deutschen Bundestag richten.“

Nachtrag vom 20. März: Selenskyj hat also gesprochen, eindringlich, beschwörend und kritisch gegen die Bundesrepublik. Alle Initiativen seien zu spät gekommen, besonders die frühen und lauten Warnungen vor dem Unternehmen Northstream 2 nicht ernst genommen und überhaupt Putins Abgleiten in den Hass – siehe die Krim-Annexion – nicht verstanden worden. Die Rede wurde mit anhaltendem Beifall der Abgeordneten eröffnet und mit einer würdigen Rede der Bundestagspräsidentin Göring-Eckard eingeleitet. Aber danach gab es keine Diskussion des Parlamentes – Anlass zu wiederum heftiger Kritik sowohl intern als auch medial. Welche Bedeutung hat dieser Auftritt vor dem Hintergrund des „Wortduells“ von Biden und Putin?

2024-10-23T14:28:26+00:0003 '22|Gesprächsrundschau|

10. März 2022 – Zum ewigen Frieden: Kant lesen

In der heutigen Ausgabe der ZEIT steht ein Interview mit Volodymyr Selinskij. Er schildert die Angriffe des übermächtigen Gegners und die Verteidigungen seines kleinen Volkes. Er weiss, dass er sich ohne die Hilfe der großen internationalen Militärbünde wird unterwerfen müssen, aber noch ist er dazu nicht bereit. Er verlangt weiter Waffen und wirtschaftlich erdrückende Sanktionen. Vielleicht ahnt er, dass die Welt ihm entsetzt und begeistert bei seinem Heldentum zuschaut, auch mitfiebert, aber er will nicht aufgeben. Das Heldentum verlangt freilich das Opfer des Volkes, weniger das des Helden. Niemand hat diesen entsetzlichen Kampf um das Verhältnis von Recht und Gewalt illusionsloser analysiert als Immanuel Kant in seiner Schrift über den „Ewigen Frieden“ von 1795-96.

Zu dieser Szene passt der Bericht in der WELT über die andauernden Telefonate des französischen Präsidenten Macron mit dem Diktator. Martina Meister berichtet, dass es seit dem 14. Dezember 2021 fünfzehn Gespräche gab, zuletzt am vergangenen Sonntag. Dass man nicht schießt, wenn man miteinander spricht, hat Putin falsifiziert: es wurde geschossen. Seit Beginn der Kriegshandlungen gab es vier Telefonate, erfolglose. Da Putin kein Französisch und Macron nicht Russisch spricht, braucht man Übersetzer, das verlängert den Austausch um das Doppelte, erleichtert aber die Protokollierung. Der Eindruck bleibt, wonach Putin die Videoschalte nur zu Propagandazwecken benutzt oder schlicht, um sich über Macron zu amüsieren. Dieser wiederum könnte die Protokolle des Austauschs teils für seinen Wahlkampf nutzen, teils aber auch als Dokumentation für den Internationalen Gerichtshof.

2024-10-23T14:33:43+00:0003 '22|Gesprächsrundschau|

9. März 2022 – Der Melierdialog

Gymnasiasten älteren Jahrgangs kennen in aller Regel die bahnbrechende Geschichte vom Krieg zwischen Athen und Sparta vor rund zweieinhalbtausend Jahren in der Darstellung von Thukydides, einem Zeitgenossen. Das 5. Buch handelt vom Kampf der athenischen Staatsmacht gegen die Insel Melos. Diese kleine Insel wollte sich der Übermacht nicht ergeben, wurde aber schliesslich bezwungen und vollkommen zerstört. Ihre Schutzmacht Sparta wollte nicht beistehen. Thukydides schildert diese Szene in einem berühmten Dialog, zwar fiktiv, aber blendend analytisch. Es geht um die Fragen von Macht und Recht, Neutralität und Parteilichkeit, Hoffnung und Illusion, letztes Aufbäumen und schliessliches Ende. Die Parallelen zur aktuellen Lage der Ukraine sind frappierend. Aktuell scheint der ukrainische Präsident sich mit der Zurückhaltung der NATO abzufinden, der geforderten Neutralität zuzustimmen, die Provinzen Donezk und Luhansk als autonom anzuerkennen ebenso wie die Zugehörigkeit der Krim zu Putins Russland. In jedem Fall verlangt er einen Dialog mit Putin.Wird es ihn geben?

2024-10-23T14:34:23+00:0003 '22|Gesprächsrundschau|
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