Gesprächsrundschau

6. Januar 2024 – Der Sturm auf das Kapitol

Heute jährt sich der unerhörte Sturm auf das amerikanische Kapitol in Washington zum drittenmal. Offenbar wird er von der TrumpSekte nicht gefeiert, und angesichts der 800 schon verurteilten Teilnehmer und der 80 noch ausstehenden Prozesse ist die Zurückhaltung auch verständlich. Aber was wissen wir über die heimlichen Triumphgebärden. Öffentlich steht der Sturm aber dennoch im Mittelpunkt, wegen der beiden Verbote einer Trump Kandidatur in diesem Jahr in Maine und Colorado. Der Supreme Court soll nun darüber entscheiden. Die NZZ (schon immer nah am Russenfreund DT) referiert heute Trumps Chancen und sieht Licht am Ende des Tunnels. Gesetzeslücken werden genutzt werden, die Mehrzahl der Richter wurde ohnehin vom ExPräsidenten selbst eingesetzt, und sie wird sich erkenntlich zeigen. Oder eine windelweiches Jein anbieten, mit Rückverweisung der Frage an das Parlament. Wüßte man in den USA, dass dieser Sturm letztes Jahr ein blankes Imitat der europäischen Märsche war (Mussolinis Marsch auf Rom 1921; Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle 1923) , wüsste man, dass die berühmte „Dolchstosslegende“ des Ersten Weltkrieges als Vorlage für das Wahlbetrugsgezeter gelten muss, man würde vielleicht anders darüber reden und denken. Man würde auch die unlängst veröffentlichten Projekte des Mr. Trump nach einem Wahlsieg (Destruktion der Verfassung, Sorge um reines amerikanisches Blut, etc.) ernster nehmen und alles zusammen als aktionistisches Plagiat von Hitlers „Kampf“ begreifen. „It Can’t Happen Here“ hiess das ahnungsvolle Buch von Sinclair Lewis aus dem Jahr 1935 , geschrieben Jahre, bevor das volle Ausmass der faschistischen Angriffe auf die Demokratie bekannt wurde. Die Hellsichtigkeit dieses Buches ist inzwischen Thema vieler Analysen – aber sie reichen nicht in die OpinionSeiten der großen Zeitungen, geschweige denn in die juristischen Plädoyers. Warum wohl? Trumps Avancen an die jüdische Welt, der Umzug der US Botschaft nach Jerusalem, die Anleitungen zur Versöhnung mit arabischen Nachbarn, der jüdische Schwiegersohn, all das mag die NS Plagiate vernebelt haben, und trotzdem müssten sie bitterernst genommen werden.

2024-10-23T13:44:26+00:0001 '24|Gesprächsrundschau|

26. Dezember 2023 – Blick in den Abgrund

Heiligabend ist vorüber, gottlob ohne dramatische Attentate, es sei denn, man hält die fortdauernden Kriegshandlungen in der Ukraine und im Nahen Osten für solche. Hierzulande schwelt immer weiter der Streit zwischen pro- und antiisraelischen Stimmen. Das gegenwärtige Patt könnte sich zu Silvester dramatisieren, sollten aus Böllern propalästinensische Waffen werden und Menschen verletzen oder gar töten. Aber vielleicht rechtzeitig erschien im Oktober ein Buch vom Grand Seigneur der Holocaust Forschung: dem greisen Saul Friedländer, „Blick in den Abgrund“ heisst sein Tagebuch des Jahres 2023, veröffentlicht im Verlag C.H.Beck und bereits in der dritten Auflage. Dass es einen dringenden Bedarf nach genaueren Auskünften über das gegenwärtige Innenleben Israels gibt, steht ausser Frage. Dass der Autor aus dem israelischen deep state stammen und dessen Autorität besitzen muss, ebenfalls. Was lesen wir hier? Die Langzeitbeobachtung der Person Netanjahu. Schon 1998 hat man ihn als treibende Kraft hinter den aufsteigenden orientalischorthodoxen Communities erkannt, die diesen Ministerpräsidenten mit säkularen Rechtsvorstellungen verschonen würden, wenn er sie nur zur Macht brächte. Und das hat er in der Tat betrieben und erreicht. Friedländer weiss es, kann es beurteilen und beurteilt es auch. Wochenlange Demonstrationen zwischen Jerusalem und Tel Aviv, monatelange Dissense über die Rolle des Obersten Gerichts und dessen erwünschte Entmachtung durch messianische Siedler. Die dramatische Konsequenz: der Zerfall der israelischen Gesellschaft in West und Ost, wie er sich gerade eben vor unser aller Augen abspielt. Ein weltpolitischer Abgrund, angesichts von Hisbollah,von iranischen Todesdrohungen und einer wachsenden Zahl von Kriegsschauplätzen mit Trittbrettfahrern, die angeblich Palästina zu Hilfe eilen. Alle ideologischen Diskurse über deutsche Schuld, Schoa, Zionismus und Chassidismus verblassen vor der akuten Präsenz dieser Kriegslage. Wer finanziert hier wen und warum. Kein westlicher Politiker mit Verantwortung ist jetzt zu beneiden. Oder eben doch: denn sie allein könnten das Recht des Stärkeren vor den Kadi ziehen, um die Stärke des (Völker)Rechts durchzusetzen.

2024-10-23T13:45:31+00:0012 '23|Gesprächsrundschau|

14. Dezember 2023 – Dialog als Scheitern: Die Konferenz

Seit Wochen bewegen sich die Politiker weltweit von Konferenz zu Konferenz: sei es in Sachen Klimaschutz, oder europäischen Digitalstandards oder europäischem Einfluss auf die Moral der künstlichen Intelligenz oder UNO Einfluss auf die Tragödie in Israel. Schon hat Premier Netanjahu die Welt wissen lassen, dass ihm oder seinem Land gleichgültig sei, was andere von ihm denken, wenn er die Hamasfrage endgültig löst, durch das Fluten der Tunnel. Hamaskämpfer als Ratten im Untergrund. Vielfach störend bei allen Meetings sind rechtliche Vorgaben wie etwa die Einstimmigkeit – bei UNO, EU, in der NATO: das Paradox, dass auch Einstimmigkeit nur einstimmig abgeschafft werden könnte, wurde bis jetzt nicht entzerrt. Gerade heute versucht man in Brüssel, den störrischen Präsidenten Victor Orban auf Kurs zu bringen – aber er will eben umgekehrt die EU putinisieren. Werbewirksam kündigt Putin zum Jahresende seine erneute Kandidatur an, plus Fortsetzung der >Spezialoperation< gegen die Ukraine, die angeblich Nazitum verkörpert, aber eigentlich schwach und schwächer wird. Der antike Dialog der Melier steht wieder am Horizont. Und hierzulande? Die Wahlen 2024 in Ostdeutschland zeigen mit AfDStimmen plus Sahra Wagenknecht in Richtung einer absoluten Mehrheit. Mehrheit wofür? Für das Ende der Russland Sanktionen, das Ende der Waffenlieferungen an Kyiew, das Ende des liberalen, demokratischen Projekts , möglichst auch in Brüssel. Über allem steht das böse Genie der Vereinigten Staaten: Mister Trump. Welche Funktion hat in diesem Narrativ das Chatbot GPT?

2024-10-23T13:46:24+00:0012 '23|Gesprächsrundschau|

19. November 2023 – Das dialogische Prinzip wird 100

Recht hatte er, der israelische Religionsphilosoph Elad Lapidot, als er jetzt in der FAZ ausdrücklich an Martin Buber (1878 – 1965) erinnerte. Nicht nur feiert in diesem Jahr 2023 der legendäre Gründungstext aller Dialogik, das Buch namens „Ich und Du“, seinen hundertsten Geburtstag, vielmehr hat der deutsch-jüdische Philosoph Buber, damals in Jerusalem lebend, auch den immerwährenden Konflikt mit den Palästinensern zeitgenössisch kommentiert. Anlässlich einiger böser Massaker der arabischen Bevölkerung, konstatierte er in einer Rede von 1929 die Einstellung der jüdischen Siedler, wonach „die angemessene Antwort auf die unerbittliche Gewalt [der Palästinenser] nicht Worte des Friedens sondern Handlungen größerer Gewalt seien.“ Buber weigerte sich, „die Araber als eine neue Variante des biblischen Amalek zu betrachten. Er bestand darauf, den offensichtlicheren, unmittelbaren soziopolitischen Kontext der Gewaltausbrüche anzuerkennen.“ Der Zionismus, erläutert Lapidot weiter, „siedelte europäische Juden in Palästina an, und dies war nur durch ein Bündnis mit dem britischen Empire möglich, welches das Land seit dem Ersten Weltkrieg besetzt hielt. Buber wollte anerkannt wissen, dass dieses Projekt unweigerlich Ungerechtigkeit gegenüber der einheimischen arabischen Bevölkerung mit sich bringe.“ Denn anders als die Briten seien die Juden in dieses alte Land ihrer Vorväter nicht gekommen, um zu herrschen, sondern um zu wohnen und zu leben, und dies in sozialer Gerechtigkeit auch gegenüber der lokalen Bevölkerung. Buber fand diese Pflicht nicht erfüllt. „Indem er sich weigerte, seine Feinde zu kriminalisieren, erhob er als Jude, als Zionist, seine Stimme gegen die von den britischen Militärbehörden verhängten Todesurteile gegen arabische Täter und erklärte: >Wir Zionisten, wir Juden, müssen intervenieren. Wir haben kein Recht, aber wir müssen manifestieren, wir müssen vor der Öffentlichkeit der Welt sagen es ist unser Wille, dass die Todesurteile, die unseretwegen, wegen der Untaten an uns ausgesprochen wurden , nicht zu vollstrecken sind.<„

Bubers Werk über „Ich und Du“ bildet zu dieser Auffassung die Blaupause. Es beginnt mit den Worten: „Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich -Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; wobei, ohne Änderung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann. Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. Denn das Ich des Grundworts Ich-Du ist ein andres als das des Grundworts Ich-Es.“ Beide EgoFiguren widersprechen einander auf Anhieb. Sie haben auch nichts mit Sigmund Freuds Schrift aus demselben Jahr 1923 zu tun: „Das Ich und das Es“, mit der umfassenden Triebtheorie. Buber sieht das Ich, welches Du sagen kann, nicht als begehrendes sondern als sprach- und beseelungsfähig, hingegen das Ich, welches Es sagt, als erfahrungs-, lern- und erfolgsbegierig. Das Du-Ego beseelt auch die nichtmenschlichen Dinge, das Es-Ego entseelt auch die menschlichen. Martin Buber dachte und schrieb als Mystiker, teils christlicher, teils jüdischer Provenienz. Das Angesicht Gottes im „Du“ spielt dabei eine entscheidende Rolle. Welche Rolle mag diese Gläubigkeit heute noch in der israelischen Gemeinde, oder den ultraorthodoxen Parteien in der heutigen Regierung spielen?

2024-10-23T13:48:09+00:0011 '23|Gesprächsrundschau|

12. November 2023 – ein MP in Jerusalem

Wer sich zufällig im Netz in eine interne Streiterei in und um Israels Regierung verirrt, könnte mit einem Herzanfall enden. Unglaublich wird dort um die Zurechnungsfähigkeit sowohl des Premiers als auch seiner Frau gestritten, offenbar auch befeuert von Psychologen und
Psychoanalytikern. Wer ist verrückter? Was heisst verrückt? Dürfen Verrückte Kriegsherren sein, dürfen sie autokratisch Kriegsabläufe entscheiden, neben oder gar gegen die Generalität? Oder eben auch gegen das Volk? Man weiss kaum noch, wen man mehr beweinen sollte, diese Szene oder jene in Gaza oder alle miteinander. Man möchte wissen, welchen Anteil der ultraorthodoxe Messianismus an den gegenwärtigen Strategien hat. Dass Siedler schon selber beginnen, palästinensische Nachbarn zu töten, klingt schon nach Armaggedon Gleichzeitig hören wir über die Washington Post völlig unerträgliche Nachrichten über die Pläne der Trump Sekte ab 2025. Auch hier die Frage: wer ist verrückt? Wie kann ein geistesgestörter, vielfach rechtskräftig verurteilter Immobilienmogul soviele Menschen in seinen Bann schlagen, wenn er mit Destruktion der Verfassung droht, um nur das Mindeste zu sagen?

Das unbegreifliche Weltgeschehen wird gerade täglich von nahezu allen Schreibenden weltweit kommentiert. Niemand kann es begreifen. Allenfalls plausibel wäre die Idee, dass es brutalen Autokraten besser als jeder Demokratie gelingt, ein Volk in den Suizid zu führen.

2024-10-23T13:48:56+00:0011 '23|Gesprächsrundschau|

1.November 2023 – Die Aufrufe

Gibt es anderswo als in Deutschland unentwegt öffentliche Listen, Aufrufe, in denen sich einzelne Personen outen oder outen sollten? Welche Dialogik verfolgen Aufrufe – welcher Moral gehorchen sie, mit welchen Zeitfenstern arbeiten sie? Alle möglichen Institutionen, vor allem wohl „DIE WELT“ legen gerade Verzeichnisse von Personen an, die sich israelfreundlich oder – unfreundlich verhalten. Also Anhänger oder Sympathisanten der blutig verfeindeten Parteien im Nahen Osten. Juden gibt es in beiden Lagern. Säkulare Akademiker sind eher links – und übersehen das Leid der massakrierten Israelis. Alle Linken haben sich mit dieser Gefühllosigkeit unmöglich gemacht. So die israelische Soziologin Eva Illouz, deren Buch über „Undemokratische Emotionen“ gerade erschien. Die Linke wird sich von diesem Versagen nicht mehr erholen, sagt sie. Aber sie sagt auch: Schuld auf sich geladen hat vor allem Netanjahu, der Premier, der seit spätestens 1998 an der Machtübergabe an die ultraorthodoxen Israelis arbeitet und inzwischen erfolgreich war. Welche p0litische Agenda haben diese Politiker? Wollen sie nur Siedlungen bauen und die Palästinenser vertreiben? Oder repräsentieren sie den allgemeinen Hang zur religiösen Orthodoxie? Dann müsste ihre Agenda ins Licht der Aufklärung kommen. Wir suchen den neuen Moses Mendelssohn. Lessinge haben wir schon.

2024-10-23T13:49:46+00:0011 '23|Gesprächsrundschau|

27. Oktober 2023 – Agonie statt Agonistik

Was in den letzten 48 Stunden berichtet wurde, war reine Kakaphonie der Institutionen. Eine dramatische Sondersitzung des UN Sicherheitsrates gipfelte im Streit zwischen Generalsekretär Guterres, der auf die israelische Verantwortung für den Hassausbruch der Hamas hinwies, und dem israelischen Gesandten, der fehlende Empathie für Israel einklagte. Gueterres musste sich korrigieren, obgleich er weltweit akklamiert worden war, wenn auch nicht von USA, EU und Deutschland. Die russophilen Mächte Türkei, Iran, natürlich afrikanische Länder, aber auch Ungarn, Polen u.a. halten es mit der Hamas. Antisemitismus in Deutschland brandet auf, Bombendrohungen, Beschmierungen, tätliche Angriffe grundieren den Alltag. Die AfD freut sich, vielleicht auch die neue Partei der Frau Wagenknecht BSW. Alice Weidel und Sahra Wagenknecht: in einem oppositionellen Hufeisen von Nationalbolschewismus und Nationalsozialismus agieren sie erfolgreich und dämonisch zugleich. Beide elegant und gewandt, destruieren sie alles nach Kräften. Schon macht der Vorwurf des Nihilismus die Runde. Man erinnere sich an Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, von 1986.

2024-10-23T13:50:34+00:0010 '23|Gesprächsrundschau|

24. Oktober 2023 – Das Pulverfass

Man musste befürchten, dass dieser Angriff auf Israel einen weltweiten Schock auslösen würde. Vor allem in Deutschland. Tägliche Nachrichten über antisemitische Vorfälle, Demonstrationen für Israel, daneben für Palästina, zwar hierzulande verboten, nicht aber im Ausland. Hektische Diplomatie war und ist die Folge. Über zweihundert Geiseln sind im Gazastreifen versteckt, eine Bodenoffensive soll sie befreien, doch jeder fürchtet ein Blutbad. Amerikanische Flugzeugträger und griechische Kriegsschiffe stehen bereit. Netanjahu will sich als Kriegsherr profilieren – dabei sollte er, als Urheber das Ganzen, zurücktreten. Was versteht er von Kriegsführung? Gern wüßte man, wieviele messianisch gestimmte Mitglieder der Regierung ihn kontrollieren.

Katastrophal die Lage der Zivilbevölkerung, mit zwei Millionen Menschen ihrerseits Geisel der Hamas. Das Volk hungert und stirbt; über die Hälfte sind Kinder. Doch hunderte von Lastwagen standen bis gestern morgen noch fest an der ägyptischen Grenze, um Nahrung, Medikamente und Wasser zu bringen . Erst nach hartnäckigen Bitten liess der ägyptische Präsident sich erweichen: er fürchtet den Ansturm der Flüchtlinge, die dann auch nie wieder verschwinden würden. Recht hat er – und recht hätten sie. Wenn irgendetwas, so müsste dieser Krieg als „Vater aller Dinge“ einen palästinensischen Staat begründen.

2024-10-23T13:51:19+00:0010 '23|Gesprächsrundschau|

11. Oktober 2023 – Streiten verbindet – sagt man so lässig

Seit fünf Tagen tobt ein Krieg in Israel. Hamas Kämpfer sind völlig überraschend hundertfach aus dem Gazastreifen heraus durch einen angeblich undurchdringlichen Zaun in das Land eingebrochen, haben über tausend Menschen getötet, teils auf grausame Art, haben rund hundert Geiseln entführt und im Verein mit der Hizbolla, und schlimmer noch, mit Unterstützung des Iran eine 3. Intifada eröffnet. Das israelische Kabinett unter Benjamin Netanjahu war angeblich völlig überrascht. Niemand hatte es kommen sehen, kein Geheimdienst hatte irgendetwas gemeldet; wenn überhaupt, hatte man Soldaten an die Westbank verlegt und sich ansonsten auf die legendäre Schlagkraft der israelischen Armee verlassen. All das war in einem Tag und wenigen Stunden Makulator. Sehr ähnlich, fast zwillingshaft wie der Angriff Bin Ladins im September 2001 oder der Einbruch Putins vom 24. Februar 2022 in die Ukraine. Wie können derartige Kriegshandlungen unerkannt bleiben? Eine Erklärung wäre, dass sie erwünscht sind. Dass zuviele Kräfte genau darauf hinarbeiten, um innenpolitische Konflikte zu lösen. Im vorliegenden Fall wäre solche eine Konspiration vollkommen plausibel. Die Hamas überfiel ein seit Monaten zutiefst gespaltenes Land. Der Präsident dieses Landes war spätestens seit 1998 eine Geisel der ultraorthoxen Siedler. Sie haben ihm Straffreiheit zugebilligt, falls er sie an die Macht bringt – könnte das Drehbuch aussehen, das einen korrupten Präsidenten im Amt hält – und tatsächlich ist es ihm in der letzten Wahl gelungen. Nur die Rechtssprechung liess sich nicht unterwerfen. Deren Anerkennung spaltete die israelische Gesellschaft ähnlich wie momentan auch die polnische. Ein derart gespaltenes Land in bedrohlichen Zeiten einigen kann wohl nur ein Krieg. Dieser Krieg mit über 4tausend Toten und zahllosen Verletzten auf beiden Seiten wurde also soeben inszeniert. Vermutlich mit Erfolg. Die Armee steht hinter Netanjahu, die Gesellschaft eint Hass auf den Feind – schrieb Josef Joffe letzten Montag im Tagesspiegel. Ganz ähnlich eint sich die ukrainische Gesellschaft seit Monaten gegen Russland und blutet dabei vor unser aller Augen buchstäblich aus. Was wird aus diesen Gesellschaften, wenn der Feind verschwindet?

2024-10-23T13:52:27+00:0010 '23|Gesprächsrundschau|

9. Oktober 2023 – Dialogische Hoffnungen

Gleich zwei dialogische Diskurswerkzeuge gegen Streit und Krieg sind jüngst aufgetreten – zum einen das Buch von Manon Garcia, einer französischen Philosophin, unter dem Titel „Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung“ – erschienen bei Suhrkamp und ein gewichtiger Beitrag zur meToo Debatte auf der kommenden Buchmesse; und daneben das Projekt der „Westfälischen Friedensgespräche“ aus dem Literaturbüro Unna: hier werden einzelne Themen wie etwa der Konflikt zwischen spanischer Verfassung und regionaler Autonomie (Katalonien) von Literaten behandelt und diskutiert. Nach jahrelanger Suche nach dem angeblich (natur)wissenschaftlichen Ertrag literarischer Produktion wendet man sich nun endlich anderen Feldern zu: eben zum Beispiel der Rechtssprechung, wie auch im Berliner Literaturhaus mit seinem Format über Sprache und Gesetz. Der Grandseigneur dieser Forschungsrichtung war der Münchner Germanist Walter Müller-Seidel, an den hier erinnert werden soll. „Rechtsdenken im literarischen Text“ erschien 2017 aus dem Nachlass, den der Marburger Germanist Thomas Anz verwaltet. Müller-Seidel hat auch die Rolle der Medizin in der Literatur behandelt – darunter den spektakulären Werdegang des Euthanasie- Begründers Alfred Hoche. Was also heisst es, wenn heute immer wieder „Das Literarische“ an der Literatur eingeklagt wird, wenn lebensweltliches Engagement in der oder jener Hinsicht nur stören soll?

2024-10-23T13:53:53+00:0010 '23|Gesprächsrundschau|
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