Heiligabend ist vorüber, gottlob ohne dramatische Attentate, es sei denn, man hält die fortdauernden Kriegshandlungen in der Ukraine und im Nahen Osten für solche. Hierzulande schwelt immer weiter der Streit zwischen pro- und antiisraelischen Stimmen. Das gegenwärtige Patt könnte sich zu Silvester dramatisieren, sollten aus Böllern propalästinensische Waffen werden und Menschen verletzen oder gar töten. Aber vielleicht rechtzeitig erschien im Oktober ein Buch vom Grand Seigneur der Holocaust Forschung: dem greisen Saul Friedländer, „Blick in den Abgrund“ heisst sein Tagebuch des Jahres 2023, veröffentlicht im Verlag C.H.Beck und bereits in der dritten Auflage. Dass es einen dringenden Bedarf nach genaueren Auskünften über das gegenwärtige Innenleben Israels gibt, steht ausser Frage. Dass der Autor aus dem israelischen deep state stammen und dessen Autorität besitzen muss, ebenfalls. Was lesen wir hier? Die Langzeitbeobachtung der Person Netanjahu. Schon 1998 hat man ihn als treibende Kraft hinter den aufsteigenden orientalischorthodoxen Communities erkannt, die diesen Ministerpräsidenten mit säkularen Rechtsvorstellungen verschonen würden, wenn er sie nur zur Macht brächte. Und das hat er in der Tat betrieben und erreicht. Friedländer weiss es, kann es beurteilen und beurteilt es auch. Wochenlange Demonstrationen zwischen Jerusalem und Tel Aviv, monatelange Dissense über die Rolle des Obersten Gerichts und dessen erwünschte Entmachtung durch messianische Siedler. Die dramatische Konsequenz: der Zerfall der israelischen Gesellschaft in West und Ost, wie er sich gerade eben vor unser aller Augen abspielt. Ein weltpolitischer Abgrund, angesichts von Hisbollah,von iranischen Todesdrohungen und einer wachsenden Zahl von Kriegsschauplätzen mit Trittbrettfahrern, die angeblich Palästina zu Hilfe eilen. Alle ideologischen Diskurse über deutsche Schuld, Schoa, Zionismus und Chassidismus verblassen vor der akuten Präsenz dieser Kriegslage. Wer finanziert hier wen und warum. Kein westlicher Politiker mit Verantwortung ist jetzt zu beneiden. Oder eben doch: denn sie allein könnten das Recht des Stärkeren vor den Kadi ziehen, um die Stärke des (Völker)Rechts durchzusetzen.