Gesichtsrundschau

Mai 2020 – Folgenabschätzung war offenbar immer schon Frauensache

Die Nachrichten überschlagen sich – nachdem angeblich eine Firma aus Israel namens „AnyVision“ für biometrische Überwachung der Westbank sorgen wird. „AnyVision“, eine face detection software, mischt angeblich auch bei der kommenden Drohnenbewaffung weltweit mit. Drohnen werden gezielt genau einzelne Menschen töten und dabei filmen können. Ein riesiges Geschäft – ähnlich wie die Covid 19 Forschung.

Ihretwegen wurden vor zwei Wochen offenbar deutsche Rechner überfallen, von Hackern. Ich lese in der FAZ vom 27. Mai, daß “ die drei größten deutschen Rechner, der Hawk in Stuttgart, der Supermuc in Garching und der Juwels in Jülich von einem Hackerangriff komplett lahmgelegt“ wurden. Weitere Angriffe trafen Freiburg, Dresden, Karlsruhe sowie mehrere Rechenzentren in Europa. Und auf diese Technik verlassen wir uns nun alle, diese Technik soll fieberhaft durchgesetzt werden, mit Milliarden finanziert. Welche suizidale Veranlagung begleitet das männliche Denken seit wir von Denken sprechen können. Ikarus und Prometheus waren die Urväter – ein Ding wie Folgenabschätzung war offenbar immer schon Frauensache. Eine schwangere Frau weiss, was Schwangerschaft bedeutet. Denker wie Günter Anders, der Hiroshima reflektierte wie kein zweiter, müssten neben Hannah Arendt erscheinen, statt immer wieder Heidegger aus dem Grabe zu holen.

2024-10-22T23:43:12+00:0005 '20|Gesichtsrundschau|

Februar 2020 – Kulturparadoxe Szene

Was für eine kulturparadoxe Szene ergibt sich doch im Moment aus der seltsamen Corona Pandemie! Die millionenfache und weltweite Verwendung der hygienischen Gesichtsmasken liefert das westliche Pendant zur orientalischen Burka! Nicht schwarz, sondern weiss wird nun das Gesicht verhüllt und der Face Recognition Verfolgung weitgehend entzogen. Die Natur greift zur Tarnkappe, sie schützt Unterdrückte. So sieht es jetzt jedenfalls aus. Der physiognomische Overkill der digitalen Gesellschaft geht aber natürlich immer weiter. mehr

Das natürliche Gesicht, ungeschminkt, unoperiert, unformatiert mit seinem Weinen und Lachen und Grinsen entgleitet uns, und mit ihm die naturbelassene Kommunikation im mimischer und gestischer Hinsicht. Diese Naturzüge sind längst Teil der Roboter Industrie. Ein US Startup hat vor einiger Zeit „Erika“ (Name geändert) erfunden: einen Roboter in Menschengestalt, gefüttert mit Sprache und Denken einer individuellen Person. Es soll ein dialogischer Spielfreund sein, gedacht für einsame Seelen, aber auch bipolare oder depressive Geschöpfe: eigentlich also eine Art gesunder und funktionierender Zwilling. Kein Siri, sondern eben wirklich individuell und android zugeschnitten. Ein Hit in Zeiten, die „Einsamkeitsministerien“ ersonnen haben?

2024-10-22T23:43:17+00:0002 '20|Gesichtsrundschau|

September 2019 – Das Denisova Mädchen

Das Gesicht als physisches wie auch semantisches Schlachtfeld der Evolution zu bezeichnen ist wahrscheinlich noch untertrieben. Wieder zwei Nachrichten will ich notieren. Aus nur einem einzigen Kinder-Fingerchen von der sibirischen Denisova Höhle will man die nötigen DNA Daten zu einer Gesichtsrekonstruktion gewonnen haben.

Wie sieht das Denisova Mädchen aus? mehr

Die SZ vom 20. 9. berichtet eher skeptisch: “ Ein wenig ernst sieht das Mädchen auf dem Bild aus. Die dunkle Stirn ist leicht gerunzelt, der breite Mund etwas geöffnet. Große Zähne hatte das Kind, olivfarbene Haut und zottelige dunkle Haare.Die Augen sind mandelförmig und braun.“ Das Porträt will ein Geschöpf zeigen, dessen Familie vor 50tausend Jahren ausstarb. Das Team um David Gokhman, Stanford, und Liran Carmel, Jerusalem, nutzte ein Relikt, das 2008 gefunden wurde. Eines von sehr wenigen Relikten dieser alten Homo-Art. Wir sehen also eine enorme Spekulation, vielleicht einfach ein Märchen. Warum? Ich erinnere an den spektakulären Fund eines Schädels unter dem Pflaster von Jerusalem, der um 200 n.Chr. datiert und vor einigen Jahren gesichtsrekonstruiert wurde: so ähnlich hätte Jesus aussehen können. Eine Steilvorlage für die Filmindustrie, aber auch für die Forscher*innen. Die betreffenden Institute erhalten mehr Zuwendungen, die Urheber mehr Klicks, die Laufbahn nimmt ihren Lauf.

Der zweite Fall: die dramatische Opposition gegen die Facial Recognition Industry. Nicht nur die bildende Kunst, auch die Musiker wehren sich jetzt dagegen, dass ihr Publikum stellenweise penibel registriert wird. Eine Gruppe namens „Digital rights group Fight for the Future bezeichnet in einem BLOG namens iq-mag.net diese Technologie als ungenau, übergriffig, diskriminierend und gefährlich. Recht so – doch andererseits erfahren wir gerade von Jens Balzer, wie aberwitzig rechtsextrem dieses POP Publikum inzwischen geworden ist: vgl. seine beiden Bücher aus diesem Jahr 2019 „Pop und Populismus“, sowie „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“.

2024-10-22T23:43:22+00:0009 '19|Gesichtsrundschau|

September 2019 – Gesichtserkennung zum xten Mal

Der Monat beginnt mit zwei Paukenschlägen im physiognomischen Gehäuse: erstens verkündet facebook eine Schutzmaßnahme in der Gesichtswirtschaft, bei heise.de steht dazu folgendes: „In den kommenden Wochen soll die Gesichtserkennung allen Nutzern zur Verfügung stehen.

Ist sie aktiv, wird der Nutzer weiterhin informiert, sobald ein öffentlich gepostetes Foto oder Video von ihm erscheint. Auch die Markierungsvorschläge bei Freunden erscheinen dann wie gewohnt. Dadurch soll laut Facebook die eigene Identität geschützt werden können: Etwa wenn jemand ein Profilfoto kopiert und als eigenes verwendet. Auch helfe die Funktion, um mehr relevante Inhalte zu finden, heißt es in der Erklärung“. Diese Formel „allen Nutzern zur Verfügung“ bedeutet: automatisch werden alle Gesichter gescannt – wenn man nämlich vergisst, diese Funktion auszuschalten. Wer verfügt über diese Gesichtermassen? Wie nahe rückt diese jetzt noch schutzversprechende Massnahme an chinesische Vorbilder, wenn man die Vergesslichkeit der User bedenkt?

Wie eine Antwort darauf wirkt die Erfindung einer jungen Künstlerin aus Leipzig. Nicole Scheller hat eine Jacke aus Armeestoff geschneidert, die ihre Träger für Kameras unsichtbar werden läßt. Verschiedene Barcodes sind über den Stoff verteilt, die das Kamera-Auge irritieren. Sie arbeitet auch an einer handy Maske. kulturzeit 3sat 3.august 2019.

2024-10-22T23:43:27+00:0009 '19|Gesichtsrundschau|

August 2019 – Polizeiwissenschaft und Rassenkunde

Vor wenigen Wochen hat der Kameramann und Filmemacher Gerd Conradt (78) einen Film über die dramatische Situation des Gesichts vorgestellt. „FACE IT“ wurde am 24n Juli im Karlsruher ZK uraufgeführt; es ist eine Bestandsaufnahme von und ein Protest gegen die Experimente, die seit geraumer Zeit am Berliner Bahnhof Südkreuz stattfinden.

Hier können sich Probanden filmen und codieren lassen, um dann bei jedem Auftauchen am Bahnhof, jedenfalls an einer bestimmten Stelle, wiedererkennbar zu sein und also verfolgbar zu werden. Conradt interviewt alle möglichen Akteure in diesem technischen Futurium: die Techniker selber, aber auch Künstler und Protestler, sogar Kulturwissenschaftlerinnen wie Sigrid Weigel oder Politikerinnen wie Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitales, sprich digitale Aufrüstung.

In einem Interview in der WELT vom 26. Juli äussert sich Conradt mit phantasievollem Zynismus. Zu seinem Kummer gelang es ihm nicht, die Protestgruppe zu wirklichen Angriffen auf die Kameras zu bewegen; nicht einmal mit Tüchern wollte man sie verhängen. Die Stimmung schien fatalistisch. Alles sei zu spät, sagte auch der Künstler Johannes von Bismarck.

Historiker der Physiognomik wundern sich nicht. Schon Lichtenberg hat diese physiognomischen Exzesse kommen sehen, und nach Einbruch der Fotografie in den Wahrnehmungsapparat des Alltags war ohnehin kein Halten mehr. Polizeiwissenschaft und Rassenkunde waren seit der Frühen Neuzeit mit physischer Registratur befasst – in aller Regel zu Zwecken der Diskriminierung. Im Film wird ausführlich über Paul Ekman (*1934), den Vater der US-Physiognomik gesprochen. Er arbeitet seit Trump im Home Ministry als Lügendetektor. Ekman war Sohn eines Militärarztes und wurde als Heerespsychologe ausgebildet. Er konnte die Forschungen des deutschen Psychologen Philipp Lersch (1898 – 1972) rezipieren. Sie hatten ab 1939 einen Hauptzweck: Simulanten unter den Soldaten zu entdecken. Die fanatische Fragestellung „Fake oder Nichtfake“ stammt aus diesem Arsenal. Leider wurde es in den USA noch nicht publik.

Neu ist heute das totalitäre chinesische Modell. Erst die von Silicon Valley erfunden Technik der smart phones erlaubt ja eine durchgängige Überwachung jedes einzelnen Menschen. Hätte man je für möglich gehalten, dass der Kalte Krieg in Wahrheit auf einen noch kälteren Frieden hinauslaufen könnte?

2024-10-22T23:43:33+00:0008 '19|Gesichtsrundschau|

Juni 2019 – Die Spaltung des physiognomischen Diskurses

Die Spaltung des physiognomischen Diskurses nimmt täglich zu. Einerseits Rückkehr zur alten philosophisch-literarischen Physiognomik, wie sie etwa Matthias Weichelt in seinem Bildband über Peter Huchel wieder erstehen lässt (Berlin 2018); andererseits die Wut der Aktionäre gegen Geschäfte mit Gesichtserkennungssoftware, etwa bei amazon oder überhaupt bei Banken.

Deren Überwachungssoftware hat nacheinander den menschlichen Fingerabdruck, die menschliche Iris, das Gesicht überhaupt und zuletzt die menschliche Stimme verbraucht: allerdings zeigen Umfragen,dass gegen alle biometrischen Verwendungen im online banking Skepsis besteht, Zustimmungen gehen kaum über 15% hinaus. Was in China zur Sozialkontrolle benutzt wird, geht aber offenbar weit über die europäische Technologie hinaus. Hierzulande sind die Kontrollen am Flughafen mit 61 % Akzeptanz am höchsten, sagt die WELT am 18.April 2019.

2024-10-22T23:46:38+00:0006 '19|Gesichtsrundschau|

Januar 2019 – Kurzer Rückblick auf den Diskurs

Zum Jahresbeginn hier ein Rückblick auf den Gesichtsdiskurs in SZ und FAZ vor, während und nach der Einführung der Face Phones zwischen Juli 2017 und April 2018.

SZ Juli 2017: „Das Gesicht gilt als Fenster der Seele. Tatsächlich leiten die meisten Menschen aus dem Antlitz ihres Gegenübers unwillkürlich ab, mit was für einer Person sie es zu tun haben – und liegen damit weit daneben.“
FAZ August 2017: “ Was das Gesicht nicht alles ist. Selbstausdruck oder Maske… Aber nicht jedes menschliche Antlitz lässt sich deuten.“
SZ September 2017: „Die Jagd auf das Antlitz. Das fotografische Porträt fixiert, vermisst und erforscht das Gesicht – auch das von Patienten und Delinquenten.“
FAZ September 2017: „Können wir unser Gesicht noch wahren? Wissenschaftler haben einer künstlichen Intelligenz beigebracht, an Fotos zu erkennen, welche sexuelle Orientierung ein Mensch hat.“
SZ September 2017: „Gesichtserkennung bei Handys ist praktisch, aber gefährlich.“ – „Apples neue Gesichtserkennung wird mit viel Technik und Aufwand betrieben. “ – „Die Gesichtserkennung in Smartphones verunsichert viele. Doch die wahren Gefahren lauern anderswo.“- „Auge in Auge. Überwachungskameras, Handykameras, Gesichtserkennung – niemand bleibt unbeobachtet“.
SZ Oktober 2017: „Verbrechen und Versprechen. Andreas Bernards Buch >Komplizen des Erkennungsdienstes< diagnostiziert ein fatales Selbstbild in der digitalen Kultur.“
SZ November 2017: „Entsperren mit Maske. Sicherheitsforscher haben offenbar die Gesichtserkennung des iPhonex geknackt.“
FAZ Dezember 2018: „Die hundert Arten des Lächelns. Der Mensch ist ein Meister im Lesen von Gesichtern. Doch sein Urteil liegt erstaunlich häufig daneben.“
SZ Januar 2018: „Ein Lächeln von gestern. Mit unzähligen Emojis lassen sich Gefühle heute so präzise ausdrücken wie nie. Der klassische Smiley hat eine völlig neue Bedeutung bekommen.“
SZ Februar 2018: „Roboter und Computerprogramme lernen, Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren. Die Systeme simulieren bereits Bewerbungsgespräche und können Autisten die Gefühle ihrer Mitmenschen erklären.“
SZ Februar 2018: „Wie kommt Emma Watson in einen Hardcore Porno? Mit einer App, die Gesichter in Filme kopieren kann. Über den jüngsten Triumph der KI.“
SZ Februar 2018: „Augen auf. Chinas KP erfüllt sich den Traum aller autoritären Herrscher, die totale Überwachung und Kontrolle des Volkes.“
SZ April 2018: „Auf der falschen Spur. Angeblich kann moderne künstliche Intelligenz sexuelle Orientierung, kriminelle Neigung und andere menschliche Eigenschaften an Gesichtern ablesen. Doch in der Praxis gibt es viele Probleme.“

2024-10-22T23:43:38+00:0001 '19|Gesichtsrundschau|

Juni 2018 – Physiognomische Tabus

Gesichtsrundschau: wenige Logbücher sind so auf Zuwachs programmiert wie diese faziale Rundschau, die ich seit 2010 führe, aber schon etwa 1991 viel unsystematischer begonnen habe. Mein Buch „Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Geschichte der Physiognomik“ erschien 1995 im damals noch existierenden Verlag der ostdeutschen Akademie der Wissenschaften und holte für das wiedervereinigte Deutschland eine Denkwelt zurück, die man aus dem deutschen Diskurs seit 1945 verbannt hatte: sie erschien zu stark vom NS-Rassismus verderbt. Und das stimmte ja auch. Nur konnte dieses physiognomische Tabu weder die Tatsache leugnen, dass Menschen Gesichter haben, noch dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Kommunikation über diese Gesichter vollziehen, in Gestalt der Mimik und natürlich der Stimme. Beides wurde zwar von Film und Fotografie zu höchster Raffinesse weiterentwickelt, aber die abstrakte Malerei nach 1945 huldigte ersteinmal dem physiognomischen Tabu. Nur wenige Künstler wagten sich an das Sujet: wer sich mit dem Menschengesicht im Jahre Null befasst, findet Maler wie Gerhart Altenbourg als Schlüsselfigur neben der „Art Brut“ eines Jean Dubuffet. Beiden könnte man eine Art “faziales Stottern“ in der Kunst attestieren.

Weiter als heute könnte man von diesem Tasten und Suchen nicht entfernt sein. Täglich erreichen uns Nachrichten von der „Gesichtsfront“: sei sie kosmetisch, supervisionistisch, epigraphisch oder gleich artifiziell im Sinne der Künstlichen Intelligenz. Roboter, die in unseren Alltag eingeschleust werden sollen, müssen nicht nur unsere Gesichter erkennen, unsere Mimik lesen und unsere Stimme hören können, sondern eben auch selber Gesichter haben, deren Mienenspiel uns vertraut werden soll.

Eine der wuchtigsten Anwendungen physiognomischer Diagnostik stammt seit dem 13. Jahrhundert aus der Psychologie oder Charakterlehre, im 18. Jahrhundert auch Menschenkenntnis genannt, im 19n dann rabiat zur visuellen Kriminalistik und Rassenkunde erweitert. Dass man im Hitlerismus Menschen aus den Häusern zur Deportation holte, nur weil sie „jüdisch“ aussahen, war ein lange vorbereiteter, absolut biblischer Sündenfall der Naturwissenschaft. Viel ist zu diesem Thema geforscht worden, aber wenige Bücher haben so viel Detailwissen über diesen Abgrund vermittelt wie das eben erschienene von Axel Doßmann und Susanne Regener: „Fabrikation eines Verbrechens“, Spector Books Leipzig 2018. Es geht um einen legendären Kriminalfall aus Hitlers Reich, um den „Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte“. Das Buch im Folioformat rekonstruiert eine widerliche Story um einen zwangsterilisierten Berliner Kutscher, der 1944 von der NS-Polizei als Massenmörder hingerichtet wurde. Das Urteil traf nicht zu: Doßmann und Regener rekonstruieren diesen unerhörten Fall sowohl in der NS-Geschichte als auch in der folgenden Visual History der Nachkriegsjournalistik. „Die Konstruktion des Bösen und Anormalen und ihre gesellschaftlichen Funktionen in Diktatur und Demokratie“ ist ein Lehrstück für den diskriminierenden Blick unserer unmittelbaren Gegenwart geworden.

2024-10-22T23:43:43+00:0006 '18|Gesichtsrundschau|

November 2016 – Von einer Nudität war keine Rede

Soeben erschienen ist ein Tagungsband aus Lausanne über „Physiognomisches Schreiben. Stilistik, Rhetorik und Poetik einer gestaltdeutenden Kulturtechnik“, hg. von Hans- Georg von Arburg, Benedikt Tremp und Elias Zimmermann. Es ist ein Band aus der Reihe „Das unsichere Wissen der Literatur“ (Rombach in Freiburg i.Br.), die hier nun also den Topos des ungefähren und trügerischen Wissens aufnimmt, den wir mit der physischen Wahrnehmung assoziieren müssen. Das weitgespannte Themenfeld reicht von Lavater bis zu Kafka, von Handschriften- über Architektur – Tanz- und Stimmdeutung. Dass bei einer Publikation aus der Schweiz wieder der Terminus „physiognomisch“ in einem neutralen Sinne verwendet

wird, ist zu begrüßen. Er hat bekanntlich eine enorme Begriffsgeschichte hinter sich und es ist töricht, ihn zu vermeiden, wie im neuen Heft der Zeitschrift Fotogeschichte (140, Jg.36), zumal wenn dort Forschungen zur Charakterdeutung in den 1930er Jahren vorgestellt werden. Tatsächlich wird in diesem Wintersemester 2016/17 auch in Berlin eine ganze Ringvorlesung über Physiognomik in der Antike durchgeführt: ein inzwischen gut beforschtes Gebiet, das aber immer noch weitere Präzisierungen im orientalischen Bereich verlangt.

Wie dicht der physische und der metaphorische Begriff des Gesichts aneinander gefesselt bleiben, kann man am Management von Facebook verfolgen. Die dringende Bitte, auf Facebook keinen gesichtszerstörenden hate speech zuzulassen, entspricht dem Bewußtsein einer nahen Beziehung. Dass es gleichwohl keine identische ist, musste man jüngst in der Diskussion um die Burka immer wieder verteidigen. „Gesicht zeigen“: so hiess eine Bewegung, die im Jahr 2002 von Uwe Carsten Heye, einem hochrangigen Politiker der SPD, ins Leben gerufen wurde. „Gesicht zeigen“ sollte man gegen Rassismus und Antisemitismus – im Sinne von moralischer Standfestigkeit gegen beides. Von einer Nudität war keine Rede. Die Burkafeinde, die nur noch nackte Gesichter sehen wollen, haben den Satz in sein Gegenteil verkehrt, zur allgemeinen Konfusion.

2024-10-22T23:43:49+00:0011 '16|Gesichtsrundschau|

Oktober 2016 – Schlagrahm mitten ins Gesicht

Das Rad der physiogonomischen Hysterie dreht sich immer schneller. Am 1. Oktober teilte die Neue Zürcher Zeitung mit, dass sich als Spiel des Jahres ein Game namens „Pie Face“ herausgestellt hat. Die NZZ schreibt: „Es wurde 1968 erstmals von Hasbor veröffentlicht, die Lizenz ging später aber an Rocket Games über. Das Spiel geriet in Vergessenheit, bis in der Vorweihnachtszeit 2014 ein Video auf Facebook über 30 Millionen mal geteilt wurde: Es zeigt den Barbier-Salon-Besitzer Martin O’Brien aus dem schottischen Wishaw, wie er mit seinem Enkel Pie Face spielt, dabei viel Spass hat und Schlagrahm mitten ins Gesicht bekommt. (…) Das Ganze ist ein Kinderspiel und soll Spass machen, mehr nicht.“ Und doch wurde es ein Millionenseller nicht nur für Kinder. Man könnte sagen: es hat endlich Facebook um ein Kinderformat erweitert. Bedenkt man, dass noch vor rund 6 Jahren deutsche Studenten das Wort Facebook nicht übersetzen konnten, weil der Name für sie nur ein Laut war, ist das doch ein Fortschritt.

Ernster ist schon die neue „Enke App“. Sie wurde vor ein paar Tagen vom DFB vorgestellt, der Name stammt vom ehemaligen Nationaltorwart Enke. Ein Torwart muss Schüsse ins Tor abwehren, so wie wir normalerweise doch auch Torten vor dem Gesicht aufhalten. Die Enke App. gehört zur Gruppe der gesichtserkennenden Computer, des „Affective Computing“, dem sich vor allem das Institute for Creative Technologies in LA widmet. Hier werden auch robotische Therapeuten entwickelt, wie die frühe Eliza, denen sich Menschen offenbar nicht ungern eröffnen, weil sie Mimik und Stimme der Patienten genauestens registrieren und deuten können. Auch Lehrer werden inzwischen so hergestellt, die auf die Schüler mehr Eindruck machen, weil sie irgendwie lustig und neutral wirken. „Overtrust“ nennt man diese Einstelllung, die vom Fraunhofer Institut hierzulande erforscht und genutzt wird. Der Ethiker Arne Manzeschke begleitet diese Entwicklungen. Er fürchtet weniger den Fortschritt der Technik als vielmehr die menschliche Bereitschaft, sich selbst als Maschine zu begreifen.

Geradezu atemberaubend in dieser Hinsicht ist das Interview mit den Chefs von Microsoft im SPIEGEL vom 15. Oktober. Nicht nur ist diesen Machern die soziale Welt völlig gleichgültig, sie sehen sie auch schon durch das Cloud Computing vollkommen umgestaltet. Wie die Welt sich den Strom besorgen soll, den man zu all diesen smart objects benötigt, bleibt unbesprochen.

2024-10-22T23:43:56+00:0010 '16|Gesichtsrundschau|
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