Vor wenigen Wochen hat der Kameramann und Filmemacher Gerd Conradt (78) einen Film über die dramatische Situation des Gesichts vorgestellt. „FACE IT“ wurde am 24n Juli im Karlsruher ZK uraufgeführt; es ist eine Bestandsaufnahme von und ein Protest gegen die Experimente, die seit geraumer Zeit am Berliner Bahnhof Südkreuz stattfinden.
Hier können sich Probanden filmen und codieren lassen, um dann bei jedem Auftauchen am Bahnhof, jedenfalls an einer bestimmten Stelle, wiedererkennbar zu sein und also verfolgbar zu werden. Conradt interviewt alle möglichen Akteure in diesem technischen Futurium: die Techniker selber, aber auch Künstler und Protestler, sogar Kulturwissenschaftlerinnen wie Sigrid Weigel oder Politikerinnen wie Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitales, sprich digitale Aufrüstung.
In einem Interview in der WELT vom 26. Juli äussert sich Conradt mit phantasievollem Zynismus. Zu seinem Kummer gelang es ihm nicht, die Protestgruppe zu wirklichen Angriffen auf die Kameras zu bewegen; nicht einmal mit Tüchern wollte man sie verhängen. Die Stimmung schien fatalistisch. Alles sei zu spät, sagte auch der Künstler Johannes von Bismarck.
Historiker der Physiognomik wundern sich nicht. Schon Lichtenberg hat diese physiognomischen Exzesse kommen sehen, und nach Einbruch der Fotografie in den Wahrnehmungsapparat des Alltags war ohnehin kein Halten mehr. Polizeiwissenschaft und Rassenkunde waren seit der Frühen Neuzeit mit physischer Registratur befasst – in aller Regel zu Zwecken der Diskriminierung. Im Film wird ausführlich über Paul Ekman (*1934), den Vater der US-Physiognomik gesprochen. Er arbeitet seit Trump im Home Ministry als Lügendetektor. Ekman war Sohn eines Militärarztes und wurde als Heerespsychologe ausgebildet. Er konnte die Forschungen des deutschen Psychologen Philipp Lersch (1898 – 1972) rezipieren. Sie hatten ab 1939 einen Hauptzweck: Simulanten unter den Soldaten zu entdecken. Die fanatische Fragestellung „Fake oder Nichtfake“ stammt aus diesem Arsenal. Leider wurde es in den USA noch nicht publik.
Neu ist heute das totalitäre chinesische Modell. Erst die von Silicon Valley erfunden Technik der smart phones erlaubt ja eine durchgängige Überwachung jedes einzelnen Menschen. Hätte man je für möglich gehalten, dass der Kalte Krieg in Wahrheit auf einen noch kälteren Frieden hinauslaufen könnte?