Gesichtsrundschau: wenige Logbücher sind so auf Zuwachs programmiert wie diese faziale Rundschau, die ich seit 2010 führe, aber schon etwa 1991 viel unsystematischer begonnen habe. Mein Buch „Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Geschichte der Physiognomik“ erschien 1995 im damals noch existierenden Verlag der ostdeutschen Akademie der Wissenschaften und holte für das wiedervereinigte Deutschland eine Denkwelt zurück, die man aus dem deutschen Diskurs seit 1945 verbannt hatte: sie erschien zu stark vom NS-Rassismus verderbt. Und das stimmte ja auch. Nur konnte dieses physiognomische Tabu weder die Tatsache leugnen, dass Menschen Gesichter haben, noch dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Kommunikation über diese Gesichter vollziehen, in Gestalt der Mimik und natürlich der Stimme. Beides wurde zwar von Film und Fotografie zu höchster Raffinesse weiterentwickelt, aber die abstrakte Malerei nach 1945 huldigte ersteinmal dem physiognomischen Tabu. Nur wenige Künstler wagten sich an das Sujet: wer sich mit dem Menschengesicht im Jahre Null befasst, findet Maler wie Gerhart Altenbourg als Schlüsselfigur neben der „Art Brut“ eines Jean Dubuffet. Beiden könnte man eine Art “faziales Stottern“ in der Kunst attestieren.
Weiter als heute könnte man von diesem Tasten und Suchen nicht entfernt sein. Täglich erreichen uns Nachrichten von der „Gesichtsfront“: sei sie kosmetisch, supervisionistisch, epigraphisch oder gleich artifiziell im Sinne der Künstlichen Intelligenz. Roboter, die in unseren Alltag eingeschleust werden sollen, müssen nicht nur unsere Gesichter erkennen, unsere Mimik lesen und unsere Stimme hören können, sondern eben auch selber Gesichter haben, deren Mienenspiel uns vertraut werden soll.
Eine der wuchtigsten Anwendungen physiognomischer Diagnostik stammt seit dem 13. Jahrhundert aus der Psychologie oder Charakterlehre, im 18. Jahrhundert auch Menschenkenntnis genannt, im 19n dann rabiat zur visuellen Kriminalistik und Rassenkunde erweitert. Dass man im Hitlerismus Menschen aus den Häusern zur Deportation holte, nur weil sie „jüdisch“ aussahen, war ein lange vorbereiteter, absolut biblischer Sündenfall der Naturwissenschaft. Viel ist zu diesem Thema geforscht worden, aber wenige Bücher haben so viel Detailwissen über diesen Abgrund vermittelt wie das eben erschienene von Axel Doßmann und Susanne Regener: „Fabrikation eines Verbrechens“, Spector Books Leipzig 2018. Es geht um einen legendären Kriminalfall aus Hitlers Reich, um den „Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte“. Das Buch im Folioformat rekonstruiert eine widerliche Story um einen zwangsterilisierten Berliner Kutscher, der 1944 von der NS-Polizei als Massenmörder hingerichtet wurde. Das Urteil traf nicht zu: Doßmann und Regener rekonstruieren diesen unerhörten Fall sowohl in der NS-Geschichte als auch in der folgenden Visual History der Nachkriegsjournalistik. „Die Konstruktion des Bösen und Anormalen und ihre gesellschaftlichen Funktionen in Diktatur und Demokratie“ ist ein Lehrstück für den diskriminierenden Blick unserer unmittelbaren Gegenwart geworden.