Gesichtsrundschau

6. Februar 2021 – Corona Lippenstift, gibt es!

Die letzte Ausgabe der Financial Times Weekend hatte eine Mode-Beilage: sehr schick: „Back to Basics. What we want to wear now?“ Eine dichte Seite 45 berichtete über neue Lippenstifte – “The Hottest Red Shades For All-day Wear”.
Werbung musste wohl sein bei 49% Umsatzrückgang – „no parties, no office and no hot dates , what was the point? The eye was hailed as the feature du jour, the focus retrained to the place that remained on view above a mask. … It felt tragic. And desperately unnecessary. “ Beatrice Hodgkin erinnert dann aber an den Lippenstift der Soldatinnen im 2. Weltkrieg als Farbe der Verteidigung. „Hitler hated it“, weiss sie. Und spricht dann von Alexandria Ocasio-Cortez, der demokratischen Favoritin von 2020. Sie trug im Wahlkampf Stila’s Stay All Day Liquid Lipstick! Das merken wir uns.

2024-10-22T23:42:05+00:0002 '21|Gesichtsrundschau|

5. Februar 2021 – Und wieder eine Burkadiskussion

„In Gesellschaften, die der Frau die Verhüllung des Gesichts aufzwingen, herrscht eine Kultur vor, die darauf abzielt, die Frau aus der Gesellschaft auszugrenzen“, beginnt ein Artikel für die Internationale Ausgabe der NZZ: also für die deutschsprachige Leserschaft weltweit. Nun also ein feministisches Referat, mit vielen Zitaten weiblicher Aktivistinnen, aber verfasst von einem männlichen Autor. Ist etwas daran aktuell? Natürlich steht der gräßliche Mord am Geschichtslehrer Samuel Paty vom letzten Oktober unauslöschlich vor Augen, als Teil der fortwährenden islamistischen Bedrohung, nicht nur in Frankreich. Präsident Macron versucht gerade neue Schranken zu errichten.

Aber hat das Burka-Tragen momentan etwas damit zu tun? 2011 erliess Frankreich als erstes Land ein Burkaverbot – viele andere Länder folgten. Nun, unter Corona Bedingungen, wird die Lage paradox. Denn das Gesetz verbietet jede Gesichtsmaske im öffentlichen Raum , verlangt aber seit 2020 medizinisch das Gegenteil. Ein Artikel dazu wäre dringlich erwünscht. Aber darum geht es der NZZ nicht. Worum dann?

Schweizer Konservative lieben das Religions- Thema wahrscheinlich trotz gewaltiger Präsenz- Lücken. Vor ein paar Jahren zählte man vielleicht 100 lebendig verhüllte unter den rund 6 Millionen Eidgenossen, aber vielleicht tausend erschreckende Bilder auf grellen Wahlplakaten und entsprechenden Zeitungsseiten. Als 2015 eine Million arabische Flüchtlinge nach Europa drängten, erschütterte der Hass gegen sie unsere politische Szene. Die Schweiz war besonders erbittert. Bis heute unterstützen manche Zeitungen die Merkelgegner. In diesem Jahr endet Merkels Herrschaft. Mit einer deutschen Ausgabe beteiligt die NZZ sich am Wahlkampf. Soviel zur Aktualität.

2024-10-22T23:42:12+00:0002 '21|Gesichtsrundschau|

23. Januar 2021 – Trumps Gesicht

Nun also, nach dem Abgang des Präsidenten: wer wagt sich an ein Porträt? Wer zeichnet uns ein Meme dieses vier Jahre lang allgegenwärtigen Gesichts? Mir fällt sofort Adrian Daub ein. Gerade erschien von ihm ein süffisant intelligentes Buch über die Erfinder von Silicon Valley: „Was das Valley denken nennt“. Aber schon 2017 beschrieb er die viel ältere, vorwissenschaftliche Form des Denkens, über physische Wahrnehmung von Körpern, vor allem des Gesichts, auch Physiognomik genannt. Wir haben auf dieser website immer wieder gegrübelt.

„The Return of the Face“ hieß der Text in der Plattform namens longread. Auch ohne Trump besonders ausführlich zu erwähnen, fragte Daub schon damals eigentlich „Was das Volk >Trump sehen< nennt“. Er verwies auf eine Fotomontage des SPIEGEL, eine Überblendung der Gesichter von Trump und Putin. Beide Tyrannen werden eben jetzt, im Januar 2021, dramatisch bestürmt. Wir erleben eine Titanomonachie antiken Ausmaßes.

Tatsächlich hat die Pseudowissenschaft der Physiognomik die dazu passende, uralte Geschichte, mit zwei scheinbar disparaten Lieblingsthemen. Das eine heisst Porträtmalerei oder –Fotografie, also Verherrlichung des Individuums. Der andere heisst Rassismus, also Lob einer Ethnie, Hass auf andere. Keine Denkmanier hat in der deutschen Geistesgeschichte schlimmer gewütet als diese Physiognomik. Das Denken in Gesichtern – fromm, fremd, lasterhaft, stark, verrückt, böse etc. – hat das kollektive Denken, besonders das antisemitische, antiafrikanische, antimuslimische gefesselt, wenn nicht in Ketten gelegt. Und gleichzeitig die Abgötterei an den einen Erlöser und Führer entfacht: wir erinnern an Hitler.

„Physiognomik ist eine verworfene Pseudo—Wissenschaft des 19. Jahrhunderts“, schrieb Daub und setzte hinzu: „Warum können wir nicht damit aufhören?“ Ja warum? „ Physiognomik hatte immer etwas von Stammeswissen: was man im Gesicht eines andern sieht, hängt davon ab, wer man selber ist. Erfunden von weissen Männern, fand man Schönheit, Ernsthaftigkeit und ‚Humanität‘ in allen Gesichtern, die jenen der weissen Männer glichen.“ So verliebt dürften Trumps Wähler ihren Abgott erleben. Sich selbst, ihr Ich-Ideal in ihm, auch wenn es dem europäischen weissgott nicht entspricht.

Könnte man diese gefährliche Fixierung auflösen? Ja, sagte Daub 2017. „ Fänden wir eine einzige, universelle Manier der Gesichtswahrnehmung, dann könnten wir den Verdacht entkräften, dass wir in andern Gesichtern immer nur uns selber, unser Volk, unsere Familie finden.“ Und er verwies auf ein Cover des TIME Magazine von 1993. Man sah darauf „The New Face of America“ – und siehe da, es gehörte einer jungen Frau. Komponiert hatte es ein intelligenter Computer aus einem Mix verschiedener Ethnien.

War es ein technischer Coup aus Silicon Valley? Nein, eben nicht. Spätestens seit gestern kennt die Welt Kamala Harris, die neue Vizepräsidentin neben dem neuen Präsidenten. Joe Biden ist wahrhaft ein weißer Mann, zudem noch weise und aus Altersgründen weißhaarig. Aber Kamala Harris ist auch ohne Computer nahezu die Frau, die sich Daub erhoffte: nicht nur ein Gesicht, sondern ein Kind asiatisch-afroamerikanischer Eltern. Und mehr noch: auch Adrian Daub selber hat seit ein paar Tagen ein Töchterchen afroamerikanischer Herkunft. Wir gratulieren! Die Götter mögen beide beschützen.

2024-10-22T23:42:22+00:0001 '21|Gesichtsrundschau|

14. Januar 2021 – Dialog auf Augenhöhe

Während ein welthistorischer Kampf um Lüge und Wahrheit tobt, nimmt die Pandemie ungeheuren Aufschwung . Ein mutiertes Virus aus England steigert die „zweite Welle“ zum Tsunami. Gesundheitsversorgungen weltweit sehen sich „am Limit“. Zu viele Kranke, zu viele Tote, zu wenige PflegerInnen und Ärzte, viele davon längst erschöpft. Unendlicher Streit füllt die Medien – und bedrückende Triagen stehen an.

Die Bevölkerung zerfällt angsterfüllt in Gläubige und Ungläubige. Die Ungläubigen, die maskenlosen,“Gesicht zeigenden“ Lemminge , zweifeln zwar an den Medizinern – glauben aber viel mehr als die braven Patienten. Sie glauben an Verschwörungen aller Art, lassen sich aus den USA über mordlüsterne Demokraten belehren und warten auf den Ausnahmezustand, der ihnen politische „Freiheit“ verschafft. Wie soll man sie regieren?

Die Gesundheitspolitiker fordern immer wieder einen „Dialog auf Augenhöhe“ mit „den Menschen“. Warum? Keine Stunde in unseren Medien, kein Abendprogramm vergeht doch ohne Nachrichten von der Coronafront, keine Busfahrt ohne dauernde Ermahnungen zum neckischen „AHA“ . Was meint man mit diesem Dialog? Der Ausdruck selber beschreibt doch eigentlich nur den Reporter mit Mikro und Kamera. Menschen auf Augenhöhe befragen – das mag gut für die Zuschauer sein, aber auch für die Köpfe? Der Pferdefuss dieser Technik besteht im Modus des Dialogs. Fragen des Reporters werden vom Befragten beantwortet, aber die Antwort steht dann meist einfach im Raum – egal wie klug oder töricht. Der Reporter muss weiter.

Dabei hat die EU verschiedene kluge Beschlüsse gefasst. Impfstoffe wurden zugelassen, eingekauft und verteilt; arme Regionen werden bedacht, Senioren und PflegerInnen vorrangig behandelt. Das gigantische Hilfsprogramm für die notleidenden Südländer wurde angeworfen: mit einer grotesken Szene in Rom. Matteo Renzi , der Juniorpartner von Ministerpräsident Conte, hat gestern die Koalition aufgekündigt. Vor dem Bruch kam ein langer Brief mit dem Hauptvorwurf: die Regierung soll EU Gelder unter EU Aufsicht erhalten, will aber nicht. Das Beispiel Griechenlands ist bedrückend unvergessen.

2024-10-22T23:42:26+00:0001 '21|Gesichtsrundschau|

5. Januar 2021 – nachmittags : Trumps rasender Gesichtsverlust

Auch und gerade dieser Verlust muss in einer Rundschau wie dieser besprochen werden. Die Grenzen zwischen dem physischen und dem symbolischen Gesicht sind ja erschreckend fließend. Nicht nur gesichtsentstellende Krankheiten oder Unfälle oder Attacken zeigen eine beschädigte persona im übertragenen Sinne. Jeder Verlust an Ansehen liesse sich als facial destruction bezeichnen. Die Geschichte der Karikatur beweist es, zuletzt gipfelnd im tödlichen Drama um die Mohammed Karikaturen. Auch Trump ist so oft und so martialisch karikiert worden, dass sein endgültiger Abtritt aus der Weltpolitik nicht mehr friedlich denkbar ist. Karikaturen wirken ja wie „Sprechakte“: Sie stellen die Weiche vom bildpolitischen Dialog zum sprachlos mörderischen Duell, wie letztes Jahr in Paris. Trumps Telephonat vom 4. Januar 2021 mit dem republikanischen Wahlbeauftragten Raffensberger in Atlanta, war vielleicht der letzte audiovisuelle Dialog aus dem Weissen Haus, maskenlos in jeder Hinsicht.

2024-10-22T23:42:31+00:0001 '21|Gesichtsrundschau|

22. Dezember 2020 – Brexit Facelook

Nun also gibt es in England einen mutierten Virus, mit angeblich 70% schnellerer Ansteckung. Als wollten die Götter den kommenden Brexit beschleunigen, ja ihn sogar mit physischem Sinn erfüllen: denn die längst geplanten Maßnahmen bei einem harten Austritt wirken nun geradezu als Vorsorge gegen kontinentale Ansteckung.

Wird es die Masken populärer machen? Werden die Coronaleugner endlich zur Raison kommen? Die letzten Demonstranten in Deutschland, tausende von Leuten, zeigten „Gesicht“, wutentbrannt, müssen nun aber auch den Preis dafür zahlen. Sachsen und Thüringen, Heimstätten der AfD, haben die höchsten Infektionsraten bundesweit. Aber es fällt doch auf, dass von der AfD Spitze offenbar niemand krank wird. Hat man sich dort vorsorglich mit Putins „Sputnik“ impfen lassen?

2024-10-22T23:42:37+00:0012 '20|Gesichtsrundschau|

22. November – „Gesicht der Krise“

Vor vier Tagen beschrieb die FAZ das „Gesicht der Krise“. Sie fand es nicht etwa im maskierten Phänotyp der Weltgesundheit, sondern im „Zoomgesicht“ des technisch versierten Intellektuellen oder Prominenten oder jugendlichen smartphoners. Alle ins Gespräch vertieft – so aymmetrisch wie auch immer. Auf den Zoomplattformen unter der coronakrise bilden sich eigene Gesichtsbühnen aus: teils in bürgerlichen Wohnungen, vor Büchern und Kindern, teils in kahlen Büros, teils draussen bei Wind und Wetter. Die Gesichter, beschreibt die FAZ , sind oft „ungünstig

ausgeleuchtet, seltsam verzerrt, mit Flecken, Augenringen und zu seltsamen Grimassen neigend.“ Eigentlich angenehm realistisch! Auch die Stimmen klingen verzerrt, aber, wie wir seit Adorno wissen, die Produktionsbedingungen des Klangs müssen bewußt werden, um nicht Opfer sinnloser Ästhetik zu werden.

Heute nun lesen wir in der NYT, wie sich unsere technische Elite von diesem Mangel befreien wird. Eine Gruppe hübscher, glänzender, natürlich farbenfreudiger Gesichter illustriert einen Artikel dazu: „The people in this story may look familiar, like ones you’ve seen on Facebook or Twitter or Tinder. But they don’t exist. They were born from the mind of a computer, and the technology behind them is improving at a startling pace.“

2024-10-22T23:42:45+00:0011 '20|Gesichtsrundschau|

November 2020 – Kein Lächeln unter einer Maske!

„If you want a picture of the future, imagine a boot stamping on a human face – forever.” – dieses Zitat stammt aus einer der abgründigsten Gesichtsanalysen des vergangenen Jahrhunderts, aus Orwells Roman „1984. Erschienen 1948, zog er die Summe der ideologischen Weltkriege – denn beide standen auf unheimliche Weise im Bann der sogenannten „Physiognomik“. Eine ihrer Urszenen heisst „Rassismus“, eine andere „Entwürdigung“, eine dritte „Anbetung“, eine vierte „Diagnostik“, letztere vor allem seit Hippokrates.

Lesen im Gesicht und am Körper, was im Innern einer Kreatur vor sich geht, woran sie leidet, was sie plant, was sie erlebt hat und ob sie lügt – all diese Fragestellungen drangen ins Alltagsleben ein, sogar als Praktik der Tierzucht, als Schule der Menschenkenntnis, dann auch der Kunst, bis hin zum fazialen Fanatismus der Bildkunst seit Christi Geburt; zuletzt aber auch massiv in die facial detection devices von heute. Physiognomiker blieben die Medizinmänner des aufgeklärten Abendlandes – und George Orwell spielte souverän auf dieser Klaviatur. Das Gesicht ist in seinem Roman eine umkämpfte Hostie des Menschseins. Einerseits anbetungswürdig bis zur Raserei, andererseits unsäglich zerstörbar, so wie im Zitat beschrieben. „Gesichtsverlust“ nennt man heute soziale Konstellationen, die früher mit dem Wort „Ehre“ bedacht wurden, oder seit 1945 vor allem mit „Würde“. mehr zitate zu Orwells physiognomik siehe hier: https:// www.sparknotes.com/lit/1984/quotes/character/obrien/

2024-10-22T23:42:54+00:0011 '20|Gesichtsrundschau|

Oktober 2020 – Neue Emojis?

Neuigkeiten auf dem Gesichtsfeld. Erstens: Apple kündigt ein remake der Emojis an! Offenbar findet man die jetzt vorhandenen Gesichtsausdrücke unter Maskendiktat unzureichend – kein Lächeln unter einer Maske! – ausserdem hat die Konkurrenz Samsung schon schneller reagiert. Lassen wir uns überraschen.

Zweitens zeigt der US Wahlkampf eine tragische Zwickmühle für weibliche Aktricen. Wie gewohnt, werden mediale Auftritte mit Gebärdendolmetscherinnen inszeniert – doch was passiert, wenn die Politikerinnen hoch emotionale Sätze äussern, aber zuvor mit Botox ihre Mimik stillgestellt haben? Dann erscheint diese Mimik nur nich bei der Dolmetscherin?

2024-10-22T23:43:00+00:0010 '20|Gesichtsrundschau|

Juli/August 2020 – Geschichte der Maske

Anfang Juli 2020 unterhielten sich zwei Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung über das Wort „Gesichtsmaske“: der Jurist Michael Stolleis und die Autorin und Dichterin Ursula Krechel. Die Anregung zu diesem und einigen weiteren „CoronaDialogen“ stammte aus dem Deutschen Wörterbuch, wo seit Juni ein eigenes Kapitel zum Wortschatz der Corona Epoche eröffnet wurde. Im Newsletter des Instituts für Deutsche Sprache IDS hieß es dazu: „Technische Innovationen, historische Ereignisse, sich wandelnde gesellschaftliche Gegebenheiten oder politische Neuerungen – für eine funktionierende Verständigung muss sich der Wortschatz ständig anpassen. Da kann es schnell passieren, dass man ein Wort hört oder liest, das man noch nicht kennt oder bei dem man sich unsicher ist, wie man es schreibt oder spricht.“

Nun also das wahrhaft neu verwendete und für diese meine Rundschau bedeutsame Wort „Gesichtsmaske“ – semantisch etwas redundant, da das Wort „Maske“ ja immer schon ausschließlich Gesichtsverhüllung – oder kosmetische Handlung – bedeutet hat. Folglich sprechen die beiden Akademie-Mitglieder viel über die Kulturgeschichte der Maske im Theater, bei festlichen Hofbällen, karnevelistischen Umzügen, und natürlich in der ärztlichen Geschichte der Pest seit dem 13. Jahrhundert. Nur dort, in den berüchtigten und furchterregenden Schnabelmasken der Pestdoktoren, hat die Maske eindeutige Funktionen: statt eine bekannte Person zu verfremden, wird hier die Person, der zuständige Arzt, übereindeutig gemacht – in seiner amtlichen Funktion. Das Gebilde schützte den Arzt vor Ansteckung und Gestank und ermöglichte zugleich das Zeigen der Geschwüre.

Die heute weltweit verlangte und benutzte „Schutzmaske“, wie man besser sagen sollte, trifft nun aber eben jetzt auf eine völlig neue Szene, geradezu einen Kulturkampf. Nicht nur entstand durch die Flüchtlingsbewegung um 2015 eine aggressiv neue Sicht auf die Schleierkultur der muslimischen Welt. Durften oder dürfen Musliminnen wirklich Niqab oder gar Burka tragen, dürfen sie in der christlichen Welt mit Kopftuch öffentliche Berufe ausüben? Der Streit ist nicht entschieden, immer wieder gibt es Prozesse. Auch gibt es seit 1985 ein Vermummungsverbot für Massenversammlungen und einzelne Situationen, wie etwa eine Vermummung vor Gericht.

Nun also, seit Anfang des Jahres 2020, gilt das Gegenteil: Vermummung von zwei Dritteln des Gesichts durch einen „Mund- und Nasenschutz“ wird staatlich gefordert und zwar weltweit und ganz besonders bei Massenversammlungen. Plötzlich sehen die Menschen weltweit einander seltsam ähnlich, ein „Weltmenschengesicht“ ist unversehens entstanden, während gleichzeitig eine Rassismusdiskussion wütet. Zufall? Plötzlich verstummen auch alle möglichen Raisonnements, die uns ein Leben mit verhülltem Gesicht aus antiislamischen Motiven als mörderische Feindestat erklärt haben. Niemand wollte damals erklären, warum die österreichische Gemeinde Bad Ischl immer schon zahllose gesichtsverhüllte Gäste aus arabischen Ländern geduldet hat – bis die finanziellen Erträge offenbar wurden.

Noch interessanter wird das neue Weltgesicht aber angesichts der politisch- technischen Entwicklungen, wie sie in vielen früheren Einträgen hier beschrieben wurden: das fieberhafte face detection development – im Dienst der verkehrs- aber auch moralpolitischen Überwachung. Nun müssen zahllose Ausnahmeregeln getroffen werden: maskenlos soll man im Auto hinter dem Steuer besser erkannt zu werden, vor Gericht und amtlichen Instanzen natürlich ebenfalls, aber Masken sollen im staatlichen Umgang, etwa Schulen, unbedingt gelten.

Manche BürgerInnen empfinden dies nun als Akt der undemokratischen Grundrechtsberaubung. Am 29. August gab es einen denkwürdigen Prozess dazu in Berlin: Heerscharen von Regierungsgegnern aus ganz Europa, aber besonders aus Stuttgart, wollten sich ohne Schutzmaske in der Hauptstadt treffen – die Richter mussten beraten, wie sie einer drohenden Saalschlacht mit möglichst gewaltfreier Polizeimacht entgegentreten wollten.

2024-10-22T23:43:06+00:0008 '20|Gesichtsrundschau|
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