Gesprächsrundschau

3. März 2022 – Gespräch unter Feinden

Anders konnte es wohl nicht kommen. Putin zerbombt seit Tagen die Ukraine – diese Ukraine sucht Schutz bei der EU – Friedensgespräche mit Russland werden unter dem unverdienten Namen an geheimen Orten geführt, während die Infrastruktur des Landes zersplittert. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel ist der Autor der Stunde. Bereits 2015 veröffentlichte er ein Buch „Entscheidung in Kiew“, über den Maidan- Aufstand und die Okkupation der Halbinsel Krim: das Modell für die gegenwärtige „Rückholung“ eines ganzen Landes. In jahrelanger Reiseforschung hat Schlögel die geschichtsträchtigen Städte erlaufen und beschrieben: Kiew, Charkiv, Odessa, Mariupol, Lemberg, und viele mehr. Damals standen sie noch unversehrt. Heute muss man sie nachlesen.

Immer deutlicher wird der Bauplan jene Kulturtechnik namens Dialog, die in diesem Tagebuch seit vielen Jahren beobachtet wird. Dieser Bauplan gleicht einem von unten zerbröselnden Baum, obgleich die rasante Ausdifferenzierung der technischen Medien eigentlich seine Blüte simuliert, vergleichbar den genealogischen Bäumen mit starkem Stamm und zahlreichen Nachkommen. Den Zerfall beschleunigen Hass und Lüge auf der untersten sozialen Ebene, am Stammtisch, in der Familie, unter Freunden und erst recht Feinden. Auf höherer Ebene spielen sich Duelle aller Art ab, zwischen Medien, Institutionen, Ländern und Kontinenten. Vor zwei Tagen wurde nun noch ein letzter Dialog auf der obersten Ebene verlangt: zwischen Putin und Joe Biden. Ist er noch denkbar? Könnte er die Kulturtechnik „heilen“?

2024-10-23T14:35:04+00:0003 '22|Gesprächsrundschau|

24. Februar 2022 – Nun also Krieg

So sieht er also aus, der Zusammenbruch der Gesprächswelt, das Ende der internationalen Diplomatie zwischen Ost und West. Grausam und sekundenschnell zeigt es der Ticker von n-tv: Putins Blitzkrieg gegen die Ukraine von drei Seiten und aus der Luft, und dazu den heldenhaften Kampf der Ukrainer gegen ihn, verlassen von aller Welt, wie sie sind. Sie schiessen zurück, sie fliehen, sie verlieren ihre Liebsten, sie sterben. Zwar sieht und hört man noch emsige Betriebsamkeit bei NATO, EU, G 20 und G 7 und in den präsidialen Büros – aber wann werden die viel beschworenen, angeblich einmütigen Sanktionen wirken? Ein verwundeter Bär wird tobsüchtig. Dass sich Putin an Hitlers Kriegsführung inspiriert, ähnlich wie Donald Trump (der soeben Putins Aktion lobte), hat sich herumgesprochen. Aber wie reagierte die deutsche Wehrmacht auf ihre Niederlage, kam sie willig und eilig mit weissen Fahnen herbei? Absolut bedrohlich ist Putins Besitz von Atomwaffen und unheimlich die Geschwindigkeit, mit der vor wenigen Stunden das giftige Tschernobyl von den Russen erobert wurde. Dort hat man nach 1986 man tödliche Strahlen einbetoniert. Wehe, wer diesen Sarg öffnet.

2024-10-23T14:35:34+00:0002 '22|Gesprächsrundschau|

23. Februar 2022 – Dialogende- Kriegsbeginn?

Die Welt zittert nach der Rede Wladimir Putins. Den Dialog mit dem Westen (Minsk Format) hat er erbittert beendet, in der Pose des Imperators; einen Krieg hat er raffiniert angebahnt. Um nicht einmarschieren zu müssen, wurden die beiden ukrainischen Provinzen Luhansk und Donetzk zu „Volksrepubliken“ erklärt und mit diesen ein Bündnis geschlossen. Einlaufende Soldaten wären nurmehr Hilfstruppen. Aber gegen wen? Enigmatisch wird ein Einsatz „im Ausland“ erwähnt. Die West-Ukraine beginnt mit einer „Teilmobilisierung“ und Wehrübungen der zivilen Kräfte.

In der FAZ von heute wird der Vergleich mit dem Münchner Abkommen 1938 gezogen. „Man tut Putin nicht unrecht, wenn man beim Namen nennt, mit wem er sich in der Wahl seiner Mittel gemeinmacht“, also mit Hitler, schreibt Patrick Bahners. Sein Kollege Simon Strauss dagegen findet in dieser Szene nur „ein Ringen zwischen zwei Zeitrechnungen. Der eine glaubt an die imperiale Idee, die andern orientieren sich am Paradigma der Kommunikation.“ Zweierlei Leserschaft will man ansprechen – die Alten und Gebildeten, die sich an das desaströse Hitler- Handeln erinnern samt allen Folgen; die Jungen, die doch garnichts anderes kennen als Kommunikation, allenfalls Streik, ergo Bürgerkrieg. Man sah es in Frankreich, im Kampf der Gelbwesten, man sah und sieht es heute in Kanada, mit den Truckfahrern, die ein fatales Exempel statuieren.

Der jetzt angezettelte „Bürgerkrieg“ zwischen Ukrainern im Osten und Ukrainern im Westen hat wohl keine Analogie. Er wurde infam ausgeheckt.

2024-10-23T14:36:09+00:0002 '22|Gesprächsrundschau|

20. Februar 2022 – Statt Dialog: Schachspiel oder the Great Game

Einmütig ratlos zeigen sich die westlichen Mächte, die das Schachspiel nicht erfunden haben. Schon vor Jahren zeigte eine Karikatur Putin als einsamen Schachspieler vor acht Gegnern: offensichtlich erfolgreich. Die Medien attestieren ihm gerade einen paradoxen Erfolg: Einmütigkeit der acht, jedenfalls solange die Sanktionen nicht öffentlich präzisiert wurden, solange Northstream 2 immer noch für möglich gehalten wird. Abenteuerlich ist diese dialogische Spielform am Rande des Krieges: der US Geheimdienst verrät uns einen genauen Einmarschtermin, der Tag verstreicht in Ruhe, Putin kann höhnen. Die Nerven von Millionen Menschen liegen blank. Hat man Putin falsch eingeschätzt?

Gespenstisch die Situation der Münchner Sicherheitskonferenz: kommt es zu einem München 1938? Ziemlich sicher wird niemand eine Besetzung der Ukraine mit Waffengewalt verhindern, niemand wird dies Land in der NATO sehen wollen, obgleich man dem Land freie Bündniswahl attestiert. Kann man diplomatisch eine neutrale Ukraine errichten?

2024-10-23T14:36:40+00:0002 '22|Gesprächsrundschau|

18. Februar 2022 – Dialog – Zerfledderung und Zermürbung – Krieg?

Die Woche endet mit dramatischen Beratungen. Moskau hat als Antwort an die NATO schriftlich die Machtgrenzen vom Jahr 1997 zurückverlangt und, statt Truppen zurück zu ziehen, eine neue „Übung“ mit Atomwaffen vorgestellt. Unter diesen Drohgebärden beginnt heute die Münchner Sicherheitskonferenz mit 35 Ländern, ohne russische Teilnahme. Gleichzeitig will Präsident Biden erneut mit den wichtigsten westlichen Ländern die Lage beraten.

Was geschieht hinter der Bühne? Ist die Pipeline Northstream 2 der eigentliche Zankapfel? Frau Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, vertritt die Interessen ihres Landes. Die Pipeline garantiert Arbeitsstellen und Sicherheit. Aber jetzt hat sich Frau Schwesig zu einer Operation abgemeldet. Was denkt ihr Stellvertreter?

Der EuGh hat die ungarisch-polnische Klage gegen den Rechtsmechanismus der EU abgewiesen. Auch Donald Trump hat eine juristische Niederlage erlitten. Sein langjähriger Steuerberater will die Richtigkeit der letzten Jahresabschlüsse nicht mehr garantieren. Auch den Prozess um die Akteneinsicht in Sachen Kapitolerstürmung am 6. Januar 2021 hat Trump verloren. Der Untersuchungsausschuss muss und kann jetzt tausende von mails studieren. Gottes Mühlen mahlen langsam aber fein, hiess es früher.

2024-10-23T14:37:20+00:0002 '22|Gesprächsrundschau|

15. Februar 2022 – Der größte Nervenkrieg

Der neueren Weltgeschichte dürfte sich vielleicht dem Ende nähern. Seit dem 31. Dezember, also seit sechs Wochen, spielen Russland und USA das „chicken game“: wer zuckt zuerst, wer verliert die Geduld und sündigt mit Blutvergiessen. Die Europäer laufen unter dem Netz herum und mischen sich ein: Macron, der seine Wiederwahl garantieren möchte; Olaf Scholz, der sich mit dem inzwischen dämonischen ExChef namens Gerhard Schröder arrangieren muss. Die Schweiz will wie immer Russland stützen. Die Polen stehen aufseiten der USA . Ungarn aufseiten Putins. Aber auch China!

Das archaische Muster der griechischen Tragödie: zwei Protagonisten und ein Chor. Oder doch ein Stierkampf, mit diversen Hooligans. Nein: es ist moderner. Seit gestern steht eine Aussage des ukrainischen Botschafters (London) im Raum: man müsse erwägen, die NATO als Traumziel der Ukraine zu definieren, nicht als unmittelbares PolitProjekt. Der Schwarze Peter wandert also nach Kiew, zu Wolodymyr Selinskyj. Auch andere Vereinbarungen aus dem Minsker Abkommen klagt Putin bei ihm ein. Er hat zweifellos die besseren Karten. Fortsetzung 14 Uhr 40: Er könnte wie die EU auf dem Buchstaben des Gesetzes resp. der Vereinbarung beharren. Tatsächlich berät der EuGH gerade eben die Klage von Polen und Ungarn gegen die Brüsseler Verdrahtung von Menschenrechtswahrung und Finanzhilfen.

Gestern wurde Alexander Kluge neunzig Jahre alt. Kein deutscher Autor ist so dialogisch, so vielsprachig/-schichtig wie er. Könnte er nicht in diese Verhandlungen eingreifen?

2024-10-23T14:38:00+00:0002 '22|Gesprächsrundschau|

6. Februar 2022 – Dialogue Inside PEN

Dialogkrisen gibt es wahrhaftig auch anderswo. Der deutsche PEN arbeitet sich, wie alle deutschen Kulturvereine, momentan an den socialmedial erzeugten Hass- und Hetzreden, AfD Sympathien und sonstigen (inländischen) Extremismen ab. Als Tochter der englischen Gründung: „Poets, Essayists, Novelists“ vom 5. Oktober 1921 hat diese Organisation inzwischen ehrwürdig weltweite Verbreitung zum Schutz der freien Meinungsäusserung erfahren. Die Aufnahme von Journalisten hat dieses Ziel entschieden politisiert. Und darum geht es auch jetzt wieder, inländisch, und in einer fast bürgerkriegsähnlichen Atmosphäre. Soll man die tausendfachen Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen akzeptieren, auch wenn dort gegen alle Regeln verstoßen wird? Soll man mitwirkende Vereinsmitglieder deshalb strafen oder gar ausschliessen oder genügen die eigenen Satzungen zur Abmahnung? Die Fragen stehen im Raum. Die Antworten hängen in der Luft.

Ein Blick nach Amerika könnte unser Bewußtsein schärfen, in welcher historischen Blase wir uns hier eigentlich befinden. PEN America verbreitet wöchentliche Newsletter zum Thema Free Speech weltweit; ferner einen jährlichen Freedom to Write Index; sowie eine Writers at Risk Database, um die fraglichen Fälle detailliert zu verfolgen. Der amerikanische PEN hat sich mit dieser enormen Kontrolle auf die erbitterte Konfrontation mit jenen politischen Parteien eingestellt, die seit der Trump-Regierung die bekannten, Demokratie erschütternden Falschaussagen legitimieren wollen. Zuletzt vor zwei Tagen mit der Behauptung, der Sturm aufs Kapitol vom 6. Januar 2021 gehöre zum „legitimate political discourse“. Womit also die jetzt verhafteten Teilnehmer des Mobs bei einem Trump-Wahlsieg 2024 mit ihrer Begnadigung rechnen können, weshalb sie und ihr Umfeld ihn schon jetzt, bei den Zwischenwahlen, wählen werden. Falls nicht der Supreme Court hier einschreitet.

Dass es bei uns jemals zu einer solchen Entgleisung der Verfassung kommen könnte, mag man sich nicht vorstellen. Aber was heisst hier „man“? Offensichtlich gibt es einen trumpistischen underground auch hierzulande. Er ist großenteils wissenschaftsfeindlich, wenn nicht rechtsextrem. Trumpistisch: Der Ausdruck hat auf Anhieb nichts mit Nazitum zu tun, wohl aber mit der geschickten Verwendung hitleristischer Motive durch Trump. Der Sturm auf das Kapitol hatte sein Vorbild im Marsch auf die Münchner Feldherrenhalle von 1923 (und natürlich in Mussolinis Marsch auf Rom 1921). Eine mächtige Fälschungs-Legende hatten wir ebenfalls nach 1918 – es war die fixe Idee vom Verrat der eigentlich sieghaften deutschen Armee durch die sozialdemokratische Heimatfront. Man nannte sie „Dolchstoßlegende“. Hitler konnte nicht zuletzt mit ihr gewinnen. An „Ermächtigung“ arbeitet Trump jetzt wie besessen – wie man sieht, hat er sich die Grand Old Party fast vollständig unterworfen. Was aber würde sein Sieg im Jahr 2024 bedeuten? Welche Politiker warten hierzulande und in Brüssel darauf und welche DemonstrantInnen?

2024-10-23T14:38:53+00:0002 '22|Gesprächsrundschau|

2. Februar 2022 – Nervenkrieg ohne Ende

Seit dem 11. Dezember 2021 erleben wir den Nervenkrieg, nein: das Nervenduell zwischen Putin und Biden, mit der EU als Sekundantin von Biden und Victor Orban als trumpvertretender Putinfreund. Seit Dezember weiss man, dass sich mit den gepeinigten Statisten (= den russischen Soldaten und Soldatinnen sowie der westfreundlichen Ukraine ) ein Showgeschäft der dritten Art angebahnt hat: nichts konkretes soll passieren, jedenfalls kein offener Körpereinsatz, ausser sogenannten „Gesprächen“ : in einer gezoomten Sprache, im virtuellen Dialog aller möglichen Formate. Tödlich soll es allenfalls mit Drohnen zugehen, strukturlähmende Cyberangriffe sollen lanciert werden. Der Übergang aus der irdischen Körperwelt in das Metaversum von Mark Zuckerberg wird von Putin bewerkstelligt?

2024-10-23T14:39:24+00:0002 '22|Gesprächsrundschau|

23. Januar 2022 – „die Phase des ehrlichen Dialogs“

Haben wir womöglich hinter uns gelassen, sagt Nina Chruschtschowa im neuen SPIEGEL, im Rahmen eines aufrüttelnden Interviews mit ihr und mit Masha Gessen und Sabine Fischer. Drei berufene KennerInnen der Lage. Vor Putins Drohungen an der ukrainischen Grenze ist die westliche Welt im Aufruhr. Wie soll man auf den Aufmarsch von hunderttausend Soldaten reagieren? Das Interview ist ungemein informativ. Putins Beschwörung imperialer Größe, eine Droge für seine Bevölkerung, Putins Sorge um sein Fortleben in den Geschichtsbüchern, alles wird detailliert erörtert. Vielleicht will er nur den Donbass mit inzwischen 600 000 „Russen“ vereinnahmen so wie zuvor die Krim. Nina Chruschtschowa meint: das wäre ein Auslöser aller möglichen westlichen Maßnahmen. Man will die MaidanSzene von 2014 nicht wiederholen.

2024-10-23T14:41:03+00:0001 '22|Gesprächsrundschau|

22. November – Der „Möglichkeitsraum“ wird zum „Enttäuschungsraum“

Der Stanford Literaturwissenschaftler Adrian Daub äussert sich in seinem neuen Buch „Was das Valley denken nennt“ über die Idee des Gesprächs dort, wo nur noch von technisch inspirierter Kommunikation die Rede ist, also Silicon Valley. Niemand hat diese Weltkommunikation einschneidender formatiert als die Erfinder von Facebook und allem, was daraus folgte. Die Menschen haben anfangs naiv und gierig nach der Möglichkeit gegriffen, uneingeschränkt von Raum und Zeit, Moral und Wissen, zu kommunizieren.

Die neuesten politischen Entwicklungen haben aus diesem „Möglichkeitsraum“ einen „Enttäuschungsraum“ gemacht. Seit Trumps unendlichem Twitter-Missbrauch muss der Werkzeugkasten umgebaut werden. Dass es dazu erschreckende Technik gibt, wissen wir aus China. Demokratie und Diktatur arbeiten längst einander zu. Im Westen ertönt der Ruf nach Zensur, im Osten gibt es sie schon. Wie wird es erst unter dem kommenden Klimadiktat werden?

2024-10-23T14:42:11+00:0011 '20|Gesprächsrundschau|
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