2020 war wohl zu spät. Schon 25 Jahre zuvor hatte es einen ersten, dramatischen kommunikativen Kollaps gegeben – dieses Jahr 1995 könnte überhaupt in die Geschichte der menschengemachten Gesprächszerstörung eingehen. Seit der berüchtigten Schrift von Carl Schmitt über „Politische Romantik“ 1919, sondert eine Priesterkaste des Streits auch sprachlich Freunde von Feinden; längst bilden sie eine intellektuelle Kolonne. Wer nicht versteht, dass es hier um Machtkämpfe geht, und keineswegs um Verständigung, ist verloren.
Immer feinere Werkzeuge des gegenseitigen Betrugs werden sichtbar, immer größere Reichweiten der Sabotage. Dass ein Mann wie Julian Assange seit Jahren vor sich hin vegetiert, von einem Gefängnis zum andern geschickt und mit drohender Ausweisung gefoltert wird, beleuchtet die brutale Innenausstattung der digitalen Welt nur schwach, aber immerhin deutlich. Gesprächszerstörung findet aber auch anderwärts statt, nämlich durch Bildkonsum. Der Satz „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, gilt eben auch umgekehrt: ein Bild zerstört mehr als tausend Worte – eben weil diese nicht mehr gebraucht werden. Und wirklich: Neben den organischen Gebilden in Flora und Fauna sterben vor unsern Augen bekanntlich auch Sprachen, angeblich dreitausend sind bedroht. Internetdominanz befördert nicht nur der Silicon Valley Speech sondern auch das Chinesische, das die Bildfabrikation seit langem raffiniert beherrscht, mit alltäglichen Milliarden von Emoticons oder Emojis, und den überwältigenden Fortschritten der face detection industry (siehe meine Gesichtsrundschau).
Szenenwechsel: Vor kurzem erschien hierzulande von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun ein sanfter Ratgeber: „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ – als Gegenstück zu Garton Ash, weniger normativ als vielmehr Bestandsaufnahme der unerhört komplexen Situation. Autoren wie Pörksen und von Thun stehen mit dem Wort „Dialog“ in einer eigenen, langen europäischen Tradition. Sie beginnt mit den Griechen, mit Sokrates und seinem Schüler Platon und dessen ausgepichter Kunst des Diskutierens. Seit der Aufklärung, seit Goethe und Hölderlin, gab es den deutschen Philhellenismus mit einem geradezu metaphysischen Gesprächskult. Um 1900 erwachte mit Heinrich Schliemann ein nahezu leibhaftes griechisches Selbstbewußtsein unter den deutschen Bildungsbürgern: ausgerechnet die Deutschen etablierten nach 1918 und mehr noch nach 1945 eine Kultur des Dialogs als Kulturtechnik des Friedens. Jürgen Habermas wurde der Erbe. Sein Hauptwerk, die „Theorie der kommunikativen Vernunft“ von 1981 warf die herrschaftsfreie, argumentativ verbindliche Interaktion unter sprechenden und denkenden Menschen wuchtig in die philosophische Waagschale. Ein idealistischer Entwurf, aber durchaus im Kontext der innigen deutschen Tradition. Wüßte man nicht, welche ungeheure Weltgeltung Habermas bis heute erlangt hat, welche Leserschaft noch das letzte Werk des 93jährigen von heute aufmerksam liest, man könnte an einen deutschen Holzweg glauben. Aber es ist kein Holzweg – sondern die leise Stimme der Vernunft.