Wäre es nicht so bitter, man könnte den Schwall „Offener Briefe“ in unserer Gesellschaft hochinteressant finden. Alle schreiben wie wohlerzogene SchülerInnen an den Bundeskanzler. Die einen verlangen von ihm schwerste Waffen für die Ukraine, die andern wollen genau das verhindern. Wer hat recht? Auch die anderen europäischen und westlichen Länder sind uneins, viele denken wie Olaf Scholz bis vor ein paar Tagen: man muss die NATO berücksichtigen, man muss einen atomaren Erstschlag aus Russland fürchten, es könnte zu einem 3. Weltkrieg kommen. Die andern meinen, Putin könne nur durch massive militärische Aktivität zur Raison gebracht werden, mindestens die Verhandlungsbasis für die Ukrainer unter Präsident Selenskyi müsse derart verbessert werden.
Die Ukraine steckt aber selber in einem – bisher – unlösbaren Dilemma. Russisch erzogen sind die meisten älteren von ihnen, und damit eher orthodox. Die demokratische Wende, energisch seit 2014 betrieben, führt sie aber in eine säkulare demokratische Verfassung und Verfasstheit. Nun verlangt die Geschichte plötzlich unerhörten Opfermut von ihnen – als wären Demokratie und Menschenopfer nicht unvereinbar. So unvereinbar wie Demokratie und Krieg. Vereinbar sind Demokratie und Handel, Kriegführung durch Sanktionen steht auf der Waffenliste. Hat das Aufkommen autokratischer Regierungen etwas mit wachsendem Kriegswillen zu tun? Befeuert die Klimakrise den Sinn für Überlebenskämpfe, ergo auch Kriege? Der Appell an den Westen, wonach die tapferen Menschen genau für diesen Westen ihr Leben lassen, ist tragisch, gerade weil dieser Westen unkriegerisch konzipiert wurde.