Amartya Sen, der indische Wirtschaftsphilosoph, erhielt am 18. Oktober 2020 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In einer etwas gespenstischen Szene in der Frankfurter Paulskirche hielt Bundespräsident Steinmeier die laudatio in absentia, und derPreisträger dankte ebenfalls in absentia. Sein Hauptthema war die Freiheit der Rede. Er kritisierte die Unfähigkeit der autokratischen Regierungen, einen Dialog mit der kritischen Opposition zu führen, die momentan weltweit in riesigen Menschenmengen auftritt und immer wieder brutal zurückgetrieben und unterdrückt wird. Amartya Sen erinnerte an Mahatma Gandhi, und dessen Konzept des gewaltfreien Widerstands, das tatsächlich Erfolg hatte, aber oft eben auch nicht. Gandhi saß jahrelang im Gefängnis.

Auch Timothy Garton Ash hat 2016 in einer Plattform namens Free Speech: „TenPrinciples for a Connected World“ die politische Interaktion zwischen Regierung und Opponenten als lebenswichtigen Streit bezeichnet, wie auch seine Kollegin Chantal Mouffe, eine Marxistin mit Sympathie für Carl Schmitt. Vor dem Kernstück des „hate speech“ versagten sie beide. Gerade eben wurde in Frankreich ein Geschichtslehrer enthauptet, von wütenden Islamisten, weil er die Mohammed Karikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt hatte, als Beispiel für Redefreiheit. Es war eine tragisch entgleiste Interaktion. Dialog kann man sie nicht nennen. Aber wie sonst?

Die deutsche Philosophin Petra Gehring erörterte vor kurzem in einem Buch über Sprechakte das, was sie „die Körperkraft der Sprache“ nannte. Sie erwähnte Gesang, Gebrüll, und vor allem das Skandieren in der Menge. Sie nannte es „ein Stück Entfesselung der dialogischen Normalität sowie auch des seine Worte allein verantwortenden Individuums.“ Dieser Sprechakt „zeigt: nein: stellt aus und feiert, was ihm Macht verleiht.“ Skandierende Massen wollen keinen Dialog – oft geht es nur um Hass und Wut. Zur Wortwerdung bräuchten sie individuelle Sprecher:Innen, die ihre Einstimmigkeit erwiderungsfähig machen. Und diese Sprecher:Innen brauchen wiederum individuelle Hörer’Innen, die diese Einstimmigkeit erwidern könnten. Beide Individuen müssen ferner für die von ihnen artikulierten Menschengruppen anerkannt repräsentativ sein. Für diese unerhört komplexe Sachlage gibt es – noch – keinen Ausdruck. Es sei denn, man spricht von Demokratie – aber auch dieses Wort ist viel zu ungenau. Wie sollte man diese Interaktion also nennen?