Gesprächsrundschau

22. September 2023 – Cancel Culture: what it’s all about

Seit Erscheinen im letzten Jahr hat das Buch von Adrian Daub die deutschsprachige Szene beherrscht. „Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasste“ hiess es im deutschen Untertitel . Daub, aus Köln stammender Professor in Stanford, argumentierte, dass es zwar in den Staaten eine real gefährliche Cancel Culture gebe, nicht aber in Europa. Alle möglichen Fälle hatte er untersucht und meist lächerliche Kleinigkeiten als Ursache für Stellen- oder Rangverlust gefunden; Petitessen, die aufgebauscht worden seien, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Nun stimmt es zwar, dass die rechtsextremen Parteigenossen mit dem unnachsichtigen Korrektheitsfuror der meist jüngeren Generation ihre Wahl beheizen, aber ganz grundlos ist die hiesige Aufregung ja doch nicht. Das jedenfalls moniert soeben das neue Buch von Julian Nida-Rümelin: „Cancel Culture. Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken“. In einem erhellenden Interview für den Berliner Tagesspiegel von heute legt der ehemalige Kulturstaatsminister und Philosoph dar, was hinter dem Begriff steckt: nämlich eine seit Urzeiten praktizierte Machtgebärde. Alle politischen Systeme versuchen schon immer, sagt er, unvereinbare Meinungen zu unterdrücken und deren KundgeberInnen zu eliminieren. Erst unter demokratischen Regimen erlaubt freie Meinungsäusserung eben diese ohne Lebensgefahr für die Sprechenden. Warum wünschen sich nun heute so viele Nationen eine strenge Zensur zurück? Warum sehnt man sich nach Führern? Nida-Rümelin sieht einen „entgleisten Kommunitarismus“ am Werke, „der einen extremen Fokus auf die jeweilige Gemeinschaft legt, der man angehört“, während gleichzeitig die Trennung von Privat und Öffentlich verschwinden soll: als Säule der Demokratie. Unterstützt wird alles von den Social Media, die Anonymität erlauben und damit entgleisende, begründungslose Sprechakte. Vorläufer für alles ist natürlich der drastische Niveauverfall politischen Sprechens durch Präsident Trump, der nachts vom Sofa aus politisch relevante Nachrichten auf Twitter verbreitete. Seither bemühen sich nahezu sämtliche regierende Politiker um Kundgaben im 240 Zeichen-Stil. Eine Schande für den Diskurs in jeder Hinsicht: „eine Abdankung des demokratischen Staates an kapitalistische Großkonzerne.“ Überzeugend zitiert Nida-Rümelin schliesslich den Sprachphilosophen Donald Davidson: „Damit man überhaupt streiten kann, muss man sich über fast alles Andere einig sein. Und von dem muss auch noch das Allermeiste wahr sein.“ Danke , Herr Nida-Rümelin, für die Erinnerung an diesen Satz. Er spricht deutlicher aus, was der Ästhet Lyotard im Motto unserer Gesprächsrundschau gemeint haben könnte. Streit als verbales Spiel: verlangt gemeinsame Spielregeln. Streit als verbaler Kampf: verlangt den Austausch von begründeten und begründenden Argumenten. Nur was, wenn aus Streit längst wortloser Krieg wurde? Und was, wenn die Streit- Macht längst aus zählbaren Waffen und Soldaten, oder satanischer geopolitischer Strategie jenseits von Gut und Böse besteht?

2024-10-23T13:55:29+00:0009 '23|Gesprächsrundschau|

20. August 2023 – Der Podcast

Das Entstehen dieser dialogischen Radioform wurde vor drei Jahren mit tosendem Beifall begrüßt. Michelle und Barack Obama unterstützten Joe Biden ab Juni 2020 mit einem eigenen podcast. Vielfache Hypes entstanden weltweit um prominente Teilnehmende, die Gäste einladen durften und kleine bis riesige Stammtische bildeten. Der hype liess zwar bald nach, aber der deutsche Rundfunk hat gelernt und profitiert. Alle möglichen Themen – Kultur, Politik, Wissenschaft, Sport – werden heutzutage in möglichst kurze, kenntnisreiche Dialoge eingespeist, selbst Buchrezensionen erscheinen jetzt als Gespräch zwischen Redakteur und Rezensent; und das heisst: immer müssen auch die Redakteure das Buch gelesen haben, um verständig fragen zu können. Denn der podcast besteht aus Frage und Antwort – der eigentlichen Kulturtechnik innerhalb der Sprache. Sie bringt die responsive Seite des Sprechens heraus, von Brecht schon 1932 in seiner Radiotheorie angemahnt; aber eben nicht völlig verwildert wie in den Kommentaren der Social Media oder der Printmedien. Gustav Seibt, Redakteur der SZ, hat vor einiger Zeit von den Anstrengungen berichtet, die das umsichtige Antworten auf törichte, unflätige, gemeine etc. Kommentare erforderte und erfordern würde. Verwahrloste Geister irren im Meinungswald herum und bedürfen der Führung. Oder besser: Verwahrloste Geister bilden einen Chor wie in der griechischen Tragödie . „Wie ein heulender Nordwind, fährt die Gegenwart über die Blüten unseres Geistes und versengt sie im Entstehen.“ Hölderlin.

2024-10-23T13:56:42+00:0008 '23|Gesprächsrundschau|

14. August 2023 – Le Roman dialogé

Die österreichische Autorin Marlene Streeuwitz, bekannt als politisch streitbar und literarisch maniriert, hat einen Frühlingsroman vorgelegt: „Tage im Mai“ heisst er, ein Doppelporträt von Mutter und Tochter liefert er, unter dem Gattungsnamen eines „Roman dialogé“. Von den fast vierhundert Seiten sind nur zwei Kapitel wirklich als – eklatant scheiternde – Dialoge konzipiert, die übrigen wechseln monologisch zwischen Tochter Veronika und Mutter Konstanze. Zwei Mittelstandsfrauen, beide unehelich geboren, die Mutter Übersetzerin, die Tochter Studentin und Aktivistin und prekär beschäftigt im Posteingang eines Appartmenthauses. Seitenlang räsonnieren beide, versehrt als Coronaopfer, über ihre Liebhaber, die Mutter noch einigermassen zynisch, die Tochter bedrückend unsicher zwischen Männern und eigener schwankender Geschlechtsidentität. Nichts lädt zum Bleiben in dieser Lebensruine ein, ausser der Telenovela, die Mutter und Tochter zusammen anschauen. Hier ist nun alles eindeutig und blutrünstig, die story hat es in sich. So magersüchtig die westlichen Frauen wirken, so rasend vital die Südländerinnen. Zwei Frauen aus der machobeherrschten Tangoszene, die eine mörderisch eifersüchtig auf das Talent der anderen, diese andere bald mörderisch rachsüchtig, weil man ihr die Knochen bricht. Was Elena Ferrante vor Jahren ins literarische Leben brachte: eine geniale Freundinnenschaft aus Neapel, wird nun hier, vor der Folie eines anhaltenden Krieges, zur höllischen Konkurrenz aus Lateinamerika. Alle sechs Figuren zusammen bilden vielleicht den Frauenroman unserer westlichen Zeitgeschichte – „dialogé“ im Sinne von Lyotard?

2024-10-23T13:57:26+00:0008 '23|Gesprächsrundschau|

22. Juli 2023 – Vom Verschlingen der Wörter

In einer aufsehenerregenden Aktion der „Writer’s Guild“ haben berühmte US Schriftsteller einen offenen Brief an die wichtigsten Firmen aus Silicon Valley geschrieben. Schon gibt es mehr als 9tausend Unterschriften. Das Argument lautet: AI und alle verwandten selbstlernenden Techniken scannen die kreative Arbeit der Autoren und Autorinnen, um sie für eigene Zwecke zu nutzen und geldförmig zu verwerten. Ohne den Geist dieser Schriftsteller würden Roboter wie chatbot GPT nur mittelmässige Antworten und Leistungen erbringen. Die Gilde verlangt adäquate Honorierung und rechtsförmige Genehmigungen und zwar auch rückwirkend. Der durchschnittliche Jahresertrag der Schriftsteller wird mit rund 22tausend Dollar beziffert. Bei steigenden Lebenshaltungskosten und weiteren Dienstleistungen der KI wird es absehbar unmöglich, sich als Autor zu ernähren, geschweige denn eine Familie.

2024-10-23T13:58:04+00:0007 '23|Gesprächsrundschau|

20. Juli 2023 – Das Attentat als Sprechakt

Heute denken wir hierzulande an Taten, mit denen die Deutschen bis 1944 versuchten, Hitler zum Schweigen zu bringen. Sechzehn Attentate soll es gegeben haben, alle hat er überlebt, immer half ihm ein dämonischer Schutzgeist. Der neue Verteidigungsminister Pistorius sagte in seiner Rede im Bendlerblock, dass der monströse Diktator schliesslich nur mit ausländischer Waffenhilfe zu besiegen war. Er hätte auch sagen können: mit dem Reichtum, der Intelligenz, dem Leben, dem soldatischen Pflichtbewußtsein der Andern. Nach der Niederlage half man den Deutschen auch noch aus der Misere, aus Furcht vor einer Wiederkehr der Ressentiments von 1918. So auch sollten wir jetzt, sagte Pistorius, der Ukraine helfen. Können wir das? Sind wir freigebig?

2024-10-23T13:58:50+00:0007 '23|Gesprächsrundschau|

9. Juli 2023 – Die zwei letzten Monate

Was haben sie der Welt erbracht? Die letzten Einträge in diesem Tagebuch haben wohl alles notiert, technische und kommunikative, militärische und zivile Katastrophismen aller Art, nicht aber bestimmte stille Diplomatien, denen wir nun öfter begegnen. Nachdem China grundsätzlich und öffentlich Putin unterstützt hat, gelingt es momentan dem wiedergewählten türkischen Präsidente Erdogan, die Parteien an einen Tisch zu bringen: zunächst wegen der Getreideabkommen mit der Ukraine, dann aber wohl auch wegen grundsätzlicherer Abmachungen. Was wird es sein? In Deutschland hat sich mit den Initiativen der Feministin Alice Schwarzer und der Linken Politikerin Sahra Wagenknecht eine scheint’s friedensbewegte Fraueninitiative entwickelt, russenfreundlich, gegen Grüne und SPD agierend und als Kalte Kriegerinnen gegen die USA . Joe Biden muss derweil mit der NATO den Kampf gegen Russland und seinen eigenen gegen Trump vorbereiten und dabei auf einem Hochseil balancieren. Deutschland kommt eine Schlüsselstellung im Schach mit Russland zu. In diese Situation gehört die Titelgeschichte des neuen SPIEGEL, über das Ende der Wahrheit, in Gestalt des mentalen Dinosauriers CHAT GPT oder einfach KI. Kann sich in diesem Nessushemd, unter dieser künstlichen Wolke das Weltgeschehen verändern? Siehe die Einträge hier bis zum 6. Mai und die entsprechenden in der Gesichtsrundschau.

2024-10-23T13:59:34+00:0007 '23|Gesprächsrundschau|

6. Mai 2023 – Laßt Drohnen fliegen und GPT entscheiden

Täglich wird es deutlicher: nicht nur die neuesten Waffen, auch und vor allem die neue Dialogmaschine ChatbotGPT hat sich wie ein Sandsturm über die Geisteswelt verbreitet. Überall knirscht es, überall versucht man, es entweder loszuwerden oder in Dienst zu nehmen. Gestern in der NYT ein hoch besorgter Artikel von David E. Sanger, dem langjährigen Beobachter der US-Militärszene in Washington. Muss man fürchten, dass GPT sich zur autonomen Killermaschine entwickelt, ohne dem Menschen noch zu gehorchen? Muss man fürchten, dass AI entscheiden will, wann eine Atombombe wohin geworfen wird? Wie verhalten sich die feindlichen Großmächte Russland, Amerika und China in dieser Fortsetzung des „Great Game“? Die Hauptsorge der US Militärs ist aber die Geschwindigkeit, mit der die autonomen Systeme entscheiden und handeln. Diese Schnelligkeit ist für Menschen unerreichbar. Eine Konsequenz wäre, in sämtliche Waffensysteme weniger Software einzubauen. Weniger Chips würden auch weniger Chip-Produzenten bedeuten. Aber bis man soweit ist – was kann geschehen? Noch weiss man nicht, warum unlängst eine Drohne über dem Kreml kreisen konnte, trotz stärkster Abwehrmassnahmen.

2024-10-23T14:00:14+00:0005 '23|Gesprächsrundschau|

30. April 2023 – OsterUnruhen – Lasst Waffen sprechen

Starke Nerven brauchte man wohl schon immer, um den tückischen Politbetrieb gedanklich zu verkraften, aber momentan müssten Stahlseile in den Köpfen verlegt sein. Bei weltweit wachsender Waffenproduktion eröffnen sich wöchentlich neue Schlachtfelder: erst Israel, dann Sudan, dann Berg Karabach, dazwischen Haiti u.a.m. Daneben immer weiter Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Schon wurde hierzulande der neue deutsche Bundesminister für Verteidigung Pistorius zum beliebtesten Politiker gewählt und folglich zur SPIEGEL Covergestalt; Pistorius grinsend mit dem Zeigefinger auf den Betrachter zeigend und damit das alte US Plakat von 1917 zitierend: „I wish you“ hiess es damals zum Einstieg in den 1. Weltkrieg, „For the US Army“. Soweit sind wir schon? Gleichzeitig entstehen panisch motivierte Abwehrstrategien gegen ChatbotGPT, dessen rasendes multitasking gestern zu einer ersten EU Stellungnahme geführt hat. Man will die grenzenlose Fälschungskapazität im visuellen Gebrauch verbieten, alle Bilder sollen mit einem Urhebervermerk versehen werden. Wer soll das kontrollieren, und wie könnte eine analoge Absicherung im Textbereich aussehen? Kompositionen im Musikbereich schwappen offenbar schon in die digitalen Verkaufsräume. Warum nicht, schreibt ein Musikjournalist in der nmz, dann mendeln sich doch die billigen Tonfolgen heraus und lassen die wahrhaft kreativen Stimmen umso heller erklingen. Ein frommer Wunsch. Die Einschätzung von GPT als „Vierter industrieller Revolution“ steht im Raum. Parallel zum WeltKriegsgeschehen, parallel zum ErdKlimawandel. Was für ein Wandel!

2024-10-23T14:01:28+00:0004 '23|Gesprächsrundschau|

15. April 2023 – KI Dialog Spiel und Realität

Nichts hat sich seit einem Monat geändert, ChatGPT ist weiter auf dem Vormarsch, hat Schulen, Seminare, Redaktionen, wahrscheinlich auch Parlamente und Abgeordnete erreicht. Die Firma OpenAI hat zugegeben, dass das frühreife Opus Nummer 3 in die Hände von rund 1 Million neugieriger User entlassen wurde, um deren Korrekturen einzuheimsen und damit also kostenlos zu verbessern; daraus soll nun GPT 4 entstanden sein, vielfach zuverlässiger, aber auch kostenpflichtig.

Was mich momentan interessiert wäre: könnte GPT 4 oder 5 die vertrackte Friedensfrage lösen? Könnte man alle Daten, die Kriegslage weltweit betreffend, eingeben und den BOT nach Art eines Schachcomputers spielen lassen? Schliesslich gilt die Komplexität der Schachzüge als kaum überbietbar. Auf die Idee musste man vorgestern kommen, als ein Tsunami von Whistleblowing die Nachrichtenwelt überschwemmte. Jemand hatte sämtliche Unterlagen des Pentagon geleakt und sogar in die social media entlassen. Tagelang glaubte man erst an Fake News, – aber nein, alles kam aus den zuständigen Büros. Gestern schliesslich erschien in den News auch der Missetäter: ein 21 jähriger junger Mann, in einer US Militärbehörde beschäftigt, aber auch in einem Spielverein namens Discord unterwegs. Er hatte Zugang zu streng geheimen Unterlagen und wollte seinen Spielfreunden imponieren. Da sind wir doch mitten in der immer schon fragwürdigen US Unterhaltungsgesellschaft, ganz abgesehen von der fatalen Schutzlosigkeit ihrer „classified informations“. Oder weist diese Spielsuchte uns jetzt gerade den Weg?

2024-10-23T14:02:17+00:0004 '23|Gesprächsrundschau|

15.März 2023 – Das ungeheure Wachsen von GPT CHatbot , inzwischen 4

Seit Wochen tobt durch die Welt der Medien das Werkzeug ChatbotGPT: der praktisch jede Frage beantworten kann, inzwischen auch Witze macht, Korrekturen anbringt, Sachfragen erörtert, Referate, Artikel, Gutachten schreiben kann u.v.a. Geradezu gespenstisch wirkt seine Begabung in visueller Prosa: es kann Bilder hochauflösend beschreiben, aber beschriebene Bilder auch selber herstellen; und gibt man ihm Fotos vom offenen Kühlschrank, schreibt er Rezepte für hilflose Köch*innen. Nicht nur die Journalisten, die Unternehmer, die Werbefirmen, auch die Bildungsfunktionäre erliegen nach und nach dem Charme: Lehrer*innen, Professor*innen, Staatssekretär’innen erwägen den Einsatz, denn eine der praktischsten Funktionen ist die Fähigkeit zum Resümieren ganzer Bücher, jedenfalls langer Texte. Alle Welt könnte ZEIT sparen! und die gewonnene für die Lebenswelt nutzen: Kunst- und Musik, Sport, Kinder- und Krankenpflege, soziale Rituale aller Art. Natürlich soll das Werkzeug noch hassfrei, lügenfrei, etc. werden; doch bisher kann es noch nicht immer zwischen wahr und falsch unterscheiden. Kann es also unversehens Lügen auftischen. Es ist noch in B-Version. Wie harmlos klingt die Beschreíbung der Macher: We’ve trained a model called ChatGPT which interacts in a conversational way. The dialogue format makes it possible for ChatGPT to answer follow-up questions, admit its mistakes, challenge incorrect premises, and reject inappropriate requests.

2024-10-23T14:03:17+00:0003 '23|Gesprächsrundschau|
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