Ein ganzer Bücherkarren mit Werken zum Jahr 1923 liegt in den Buchhandlungen, kaum ein Aspekt bleibt unbesprochen. Der Alltag, das Politwesen, die Wirtschaft, Kunst und Kultur, Medizin, Militär und Nachkrieg, Frauen und Männer, Kinder und Eltern. Dieser Kontext der Machtergreifungsszenen von damals liegt wie ein glühender Reifen um unsere Gegenwart: welcher Löwe springt zuerst? Washington und Moskau stehen parat, in Moskau wird seit Monaten an „militärischen Spezialoperationen“ geübt, in Washington wurde gestern der demokratische Dialog an seine Grenzen getrieben, wenn nicht in einen Abgrund gestürzt. Tagelang wurde abgestimmt, wer nun der Speaker der neuen republikanischen Kongressmehrheit werden soll; die Vorgabe war eine Zweidrittelmehrheit der 435 Mitglieder. Aber zwanzig Trumpisten votierten hartnäckig gegen Kevin McCarthy, der ebenso hartnäckig blieb und übrigens auch von Trump selber unterstützt wurde. Erst am siebten Januar, passend zum Jahrestag des sechsten Januar 2021, dem Sturm auf das Kapitol, gewann McCarthy das Rennen. Im Lauf dieser Schlacht haben die Gegner zahlreiche Konzessionen erreicht, Trump zuliebe das Ziel von 2021 wenigstens annähernd, sie könnten jetzt mitregieren. Der Speaker könnte jetzt mit nur einer Stimme zur Abwahl nominiert werden, Lähmungen des gesamten Regierungsablaufs sind möglich, Budgetkürzungen großen Ausmasses und nicht zuletzt Einschränkungen der Ukraine Hilfen stehen bevor. Der Streitmodus, den seit Jahren die Kommentatoren als glänzendes Tool der Demokratie bezeichnen, wird sich in aller Pracht entfalten: dämonisch und verhängnisvoll.
Nachtrag am 9. Januar: gestern stürmten Anhänger des brasilianischen Expräsidenten Bolsonaro die Regierungsgebäude getreu dem Drehbuch von Trump. Hierzulande erinnert man sich an eine „lächerliche“ Erstürmung des Reichstages am 30. August 2020. Inzwischen wurde aber eine ganze Truppe von Reichsbürgern festgesetzt, die zum Umsturz blasen wollten, unter Führung eines Prinzen Heinrich Reuß. SPIEGEL Autor Justus Bender hat 2021 ein Buch namens „Der Plan“ veröffentlicht , über die langgehegten Strategien der rechtsextremen Szene.