Zensur von A bis Z, Redeverbote von der Antike bis heute, von Sokrates bis Solidarnosc, von Galilei bis zu Trumps Twitter-Account- zu diesem Thema hat Barbara Sichtermann soeben eine „Zeitreise von Fall zu Fall“ als Sammelband vorgelegt. Viele bekannte Autoren wirkten mit, darunter ihr Sohn Simon Brückner, Autor eines bekannten Parteiporträts der AfD. Thierry Chervel, Erfinder des perlentaucher, untersucht hier etwa die seltsame Verwandtschaft der islamischen Fatwa mit unserer westlichen Cancel Culture, ausgehend vom Fall Salman Rushdie, Autor der „Satanischen Verse“. Nach jahrelangem Versteck wurde er doch noch Opfer einer Messerattacke. Wir kennen und fürchten sie alle, die zahllosen mörderischen Racheakte der islamistischen Welt, unfassbar brutal und/ oder sogar unfassbar abgefeimt wie der Angriff von 9/11 aus dem Jahr 2002. Welche Öffentlichkeit wurde deutscherseits damals getroffen? Der Komponist Karlheinz Stockhausen soll angesichts der lodernden Twin Towers vom „größten Kunstwerk“ gesprochen haben: was wiederum eine unfassbare Verirrung der Urteilskraft westlichen Geistes war, genauer: des moralischen Geistes. Und um dessen Urteilskraft geht es in allen genannten Fällen. Wer soll wann und warum eine militante performance öffentlich wagen, und wann soll wer und warum wegen einer solchen performance sterben oder verhaftet werden oder den Ruf/ Beruf verlieren – das zu entscheiden obliegt einer öffentlich ambitiösen Urteilskraft von Akteuren aller Art. Raphael Gross, Direktor des Deutschen Historischen Museums, veröffentlicht seit 2019 eine Zeitschrift unter dem Titel „Historische Urteilskraft“. Die neueste Ausgabe 06 stammt von 2024. Volker Braun macht sich darin Gedanken über „die Strapazen der Urteilskraft“. Sein Text folgt auf Texte anderer SchriftstellerInnen an derselben Stelle in den vorausgehenden Heften über dasselbe Thema, angefangen mit Daniel Kehlmann. Literatur kennt und sucht eben –anders als Heilige Schriften – keine diktatorischen Handlungszwänge. Suchen wir heute nach Heiligen Schriften?