An dieser Stelle soll in Zukunft einmal im Monat der zeitgenössische Gesichterkult und die dazugehörige Gesichtslesekunst, also Physiognomik von heute, kommentiert werden. Anlass ist ein Artikel einer großen deutschen Wochenzeitung vom 10. Juni über den Kandidaten zum Amt des Bundespräsidenten, Christian Wulff. Der Text ist betitelt mit „Eine Stilkritik“. Illustriert wird er nicht mit einem Porträtfoto sondern mit diversen Kleidungsstücken, die Wulff angeblich trägt. Jedes Teil ist mit einem Preis versehen; alle zusammen ergeben den Preis der Oberfläche, um die es dem Autor ausschließlich geht. Selten hat das alte Lob der Oberfläche eine so fatale Anwendung gefunden. Nichts davon soll hier zitiert werden. Denn es handelt sich um eine Textsorte aus der Weimarer Republik: um physiognomische Verhetzung.
Uslars Text passt aber sehr gut in den nervösen, wenn nicht sogar brutalen Umgang mit dem menschlichen Gesicht, der sich seit der digitalen Kehre anbahnt. Da sind einerseits die Bestrebungen der biometrischen Identifizierung als Reaktion auf den Terrorismus. Da sind andererseits die Etüden der social networks. Facebook hat Schule gemacht; Facebook verlangt das attraktive Weltgesicht und dekonstruiert es zugleich vollständig.
Gegenbewegungen sind seit langem unterwegs, wenn auch leider in der Regel elitär. Soeben erschien z.B. ein Buch von Freddy Langer, Blind Date. 40 Schriftsteller inkognito, im Knesebeck Verlag. Der Autor hat jahrelang Schriftsteller mit Schlafbrillen fotografiert; unter dem Titel „Schlafende Geister“ sind sie im Literaturarchiv Marbach zu sehen. Anders als zu Zeiten Stefan Georges, einer Hoch-Zeit physiognomischer Deutung, verhüllen die Dichter- und Künstler-Fotos mehr als sie zeigen. Und recht haben sie!
Eine andere Idee hat unlängst der Kunsthistoriker Hans Belting auf einer Tagung des Berliner Zentrums für Literaturwissenschaft vorgetragen. Nach seiner Meinung sind alle Gesichter überhaupt nur Masken, die gemalten wie die plastischen wie auch die lebenden, mit denen wir uns begegnen. Das scheint mir nun wieder übertrieben. Dass die Gesichter unserer Mitmenschen im Alltag aus Fleisch und Blut sind, dass sie verbindlich Nachrichten aller Art übermitteln, ist eine Arbeitshypothese unserer ganzen Sozialität. Hier nur Masken finden zu wollen, hat gnostische Züge, stammt aus einer kategorialen Verwechslung.
Eine ganz andere Gegenbewegung findet man auf der Website des Berliner BodeMuseums. Hier wird für 2011 eine strahlende Ausstellung mit 150 Porträts aus der Renaissance angekündigt. Jedes einzelne ist ein Meisterwerk, jedes einzelne führt eine ganze Geschichte mit sich. Nicht alle Geschichten sind so unerschöpflich wie jene der Mona Lisa, aber viele geben Rätsel auf, und bestätigen damit die Devise des mährischen Star-Physiognomikers Rudolf Kassner: „Der Mensch ist so, wie er aussieht, weil er nicht so ist, wie er aussieht“.