Vor wenigen Tagen, am 26. November, stellte  Angela Merkel ihre Autobiographie  im Deutschen Theater vor, im Gespräch mit Anne Will, der langjährigen Talkshow Moderatorin des WDR und ebenfalls langjährigen, geradezu auserwählten  Begleiterin von Merkels öffentlicher Laufbahn.  Schon einen Tag zuvor hatten die beiden einander zu einem Dialog getroffen,  im Podcast der Anne Will,sozusagen zu einem Probelauf, und das erwähnte Will nun auch im Theater und fügte hinzu: „Haben Sie eigentlich diesen Podcast schonmal angehört?“ „Nein“ , antwortete Merkel unverzüglich und traf damit die Moderatorin offenbar ins Herz. Sie antwortete kaum hörbar mit dem Satz „Na dann ist ja unser Interview hier schon gelaufen“, wobei sie ihre  langen Haare kurz vors Gesicht schob. Das war also eine Kriegserklärung. Aber es ging erstmal friedlich und freundlich weiter.  Die NZZ hat am 28 . 11. darüber berichtet. Merkel antwortete oft unter Beifall. Aber bald wechselte Anne Will den Ton. Es ging um die strittigen Fragen der politischen Existenz unter der Bundeskanzlerin – dabei will das Buch beide Lebensabschnitte gleichmässig  werten. Der zentrale Satz hiess sinngemäß: Die 35 Jahre Erziehung und Ausbildung in der DDR haben mich für die 35 Jahre politischer Existenz im Westen befähigt . Genau diese Befähigung wollte Anne Will  gnadenlos bezweifeln. Die grossen Krisen, die Flüchtlinge, die Corona Krise, das Erstarken der AfD, das Verhältnis zu Russland: nichts hielt der Beurteilung stand. Ein Thema nach dem andern sollte Gesichtsverlust auf der ganzen Linie bewirken. Dabei blieb das Publikum, oder doch der hörbare Teil, unerschüttert.  „Auch im Rückblick sehen Sie keinen Fehler?“ –  „Nein“: man klatschte.

Gesichtsgewinn, – wahrung und – verlust ist tatsächlich neben allen dramatischen Kriegshandlungen die Währung, in welcher Diplomatie heute  gehandelt wird. Sie entspricht nicht nur der masslosen Gesichtlichkeit der Selbstwahrnehmung, sondern auch der Flutung unserer Kommunikation durch Emojis, also durch vorgestanzte mimische Formeln, deren Existenz nicht etwa mehr Ehrlichkeit, sondern stereotypischere und schnellere , sprich medialere Kommunikation erlauben. Welcher politische Akt Gesichtsgewinn verspräche wird dabei längst auch öffentlich erwogen, nicht etwa im Hinterzimmer. Oder besser: dieses Zimmer liegt immer weiter hinten, ist immer verborgener. Darknet, heisst es im mafiösen Jargon, oder Deep state.  Merkel zog sich schliesslich mit einer gewitzten Replik aus der Affäre.  Wem sei geholfen, wenn sie sich schuldig und reuig erklärte? Und sei das Zugeben von Fehlern (also Gesichtsverlust) an sich schon eine Art Gütesiegel? Den ganzen brodelnden Opferdiskurs zu umgehen war wohl angesichts ihrer Lebensleistung angemessen. Und schob die 35 Jahre in der DDR fast rechtskräftig vor den Vorhang.